Was ist neu

Die Geister, die ich rief

Mitglied
Beitritt
02.03.2002
Beiträge
763
Zuletzt bearbeitet:

Die Geister, die ich rief

Zuerst nannten sie es amüsiert Spleen, dann hinter vorgehaltener Hand Neurose oder Psychose. Für mich waren es meine guten Geister. Die Geister, die ich rief. Doch dann wuchsen sie. Heute lachen sie mich an, fratzengleich, diabolisch. Lasst mich, geht! Sie sind überall. Greifen nach mir mit ihren unsichtbaren Krallen, den unsichtbaren Zähnen. Beißen sich fest, ihr Geifer rinnt in mein Gehirn, verätzt Verbindungen, die ehemals wichtig schienen. Sie zerreißen mich, meine Seele stirbt im Würgegriff ihrer gnadenlosen, ersehnten Umklammerung.

Zurück bleibt meine Hülle. Leer, aber weiterhin Ehemann, Geliebter und Vater. Mein Verschwinden wird ignoriert, zeitgemäß übergangen. Weiterhin bin ich Kollege, Geschäftsfreund und Ansprechpartner. Kein Wort über mein langsames Sterben, mein Siechtum, mein Verschwinden. Erkennen sie es nicht?

Ich bin nicht länger Bestandteil dieses Körpers. Ignorant schleudern sie weiterhin leere Blasen gegen mein früheres Ich, scherzen und halten mit dekadenter Kommunikation die Hülle am Leben.

Und ich bleibe gefangen. Mein teuflisches Karussell, mit selbst geschaffenen Begleitern, dreht sich. In immer schnellerer Abfolge rotieren die Käfigstangen vor meinem Auge, verschwimmen zuerst, dass man sie kaum wahrnimmt. Doch je schneller der Käfig sich dreht, desto mehr verblasst der Hintergrund, desto massiver wirken die Stangen als Wand. Bald ist mir der Durchblick versagt, bald bin ich isoliert.

Allein mit meinen Geistern. War ich das nicht schon immer?

 

Hallo querkopp!

Hundertprozentig sicher bin ich mir nicht, ob ich Deine Geschichte richtig lese*. ;)

"Die Geister die ich rief" - im Fall Deines Protagonisten die Familie, Freunde, die Arbeit, Kollegen, die ihn nicht mehr so sein lassen, wie er gerne wäre. Jeder verlangt, erwartet etwas von ihm, zwingt ihn in eine Rolle, die ihn auffrißt.
Sie nehmen alle Besitz von ihm und merken nicht, wie er dabei innerlich zugrunde geht.

Die Formulierung gefällt mir besonders gut:

Ignorant schleudern sie weiterhin leere Blasen gegen mein früheres Ich, scherzen und halten mit dekadenter Kommunikation die Hülle am Leben.

Eigentlich müßte ich den nächsten Absatz auch zitieren, der gefällt mir nämlich auch sehr gut. ;)
Wie Du beschreibst, wie sich die Käfigstangen immer schneller drehen, bis sie wie eine Wand wirken, finde ich grandios. Ehrlichgesagt beneide ich Dich um die Idee, die gefällt mir wirklich ausgesprochen gut! :thumbsup:

*Was mir nicht so ganz klar ist: Du postest unter Gesellschaft - siehst Du das also allgemein so? Meinst Du vielleicht weiters die Rolle des Mannes als solche?, etwa daß im Beruf die selbe Belastung ist wie früher, aber zum Beispiel von der Familie heute viel mehr von einem Mann erwartet wird (z.B. in Sachen Kinderbetreuung), wodurch ihm heute weniger Freiraum bleibt?

Oder fühlt sich nur einfach Dein Protagonist überlastet und Du willst uns erzählen, wie sich so jemand fühlt?

Diese Frage konnte ich nicht klären, kann mir nur denken, daß Du die gesellschaftliche meinst, weil Du da gepostet hast...

Aber im Grunde finde ich die Geschichte trotz der Kürze absolut gut gelungen. Vielleicht wolltest Du es ja auch offen lassen, damit sich der Leser selbst mehr Gedanken macht? Wenn ja, hast Du das bei mir erreicht. :)

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Susi,

Danke für deine Sichtweise, Interpretation, natürlich auch für die begleitenden positiven Worte.

Zu deiner Beruhigung: gelesen hast du richtig :) , nur - ich habe falsch geschrieben. Deine Sichtweise kann ich nachvollziehen und ich glaube, dass sie logischer ist als das, was ich ursprünglich aussagen wollte.

Die Geister sollten nicht andere Menschen sein, sondern Neurosen, Psychosen, etc. die klein, beiläufig und unscheinbar im Menschen erwachen und wachsen. Anfangs angestrebt, dienen sie doch dem Menschen zu einem bestimmten Zweck. Aber mehr und mehr entgleitet dieser ursprüngliche Zweck der Kontrolle, aus einem Spleen wird eine Neurose, dann eine Psychose. Der Mensch steigert sich hinein, lebt immer mehr in seiner Welt und isoliert sich von den Mitmenschen. Diese Entwicklung wird in der Regel von den Anderen gesehen, man redet darüber, aber dem Betreffenden gegenüber tut man so, als sei nichts. Jeder hat seine eigenen Geister, mit denen er kämpft, warum sich um die anderer kümmern? Und so bleiben die Menschen, die solche Psychosen entwickeln allein, können sich zunehmend hinein steigern und isolieren sich immer weiter.

Tja, da besteht offensichtlich Handlungsbedarf beim Autor. Ursprünglich wollte ich die Begriffe Neurose, Psychose explizit nennen und habe es dann doch gelassen, weil es mir zu deutlich erschien. Nun werde ich es doch tun. Aber richtig zufrieden bin ich damit nicht.

Ob es so besser ist?
Lieber Gruß
Maris

 

Hallo querkopp!

Jetzt ist es klarer und so auch gut verständlich.

Nur meine Kritik oben liest sich halt jetzt seltsam... :D

Alles liebe,
Susi

 

Servus Querkopp!

Super! Vor allem die Darstellung der Gitterstäbe die im rasanten Kreislauf langsam das optische Bild einer Wand annehmen. Und dann noch die Sprechblasen die sie gegen die leere Hülle schleudern!
Das ist echt gelungen.

Meine Interpretation schließt in all dieses, aus dem eigenen Ich des Prot. kommenden Abgeschottetseins, seinen Neurosen und Psychosen, vor allem ein, dass die Umwelt es nicht anerkennt, ihn nicht wirklich wahrnimmt.

Der stirbt innerlich und es kratzt eigentlich keinen. Die behalten sich schlicht und ergreifend den Vater, Mann, Kollegen der ihnen in ihrem Kram reinpasst, ignorieren seinen Auflösungsprozess weil das viel bequemer ist. Das trägt bei dazu, dass er sich immer schneller dreht, bis er abhebt - oder er diesen Teufelskreis durch eigene Kraft anhält und aus ihm ausbricht.

Hat mir sehr gut gefallen wie du dieses Thema rübergebracht hast.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo querkopp,

eine interessante Geschichte, doch der Bezug zur Gesellschaft, bzw. einem gesellschaftlichen Phänomen (Ignoranz den Mitmenschen gegenüber, mangelnde Anteilnahme) kommt mir zu kurz. Vielleicht müßte man noch eine Reaktion der `Gegenseite´ in den Text integrieren.
„Ignorant schleudern sie weiterhin leere Blasen gegen mein früheres Ich“ - ich meine, hier müßte man noch einmal benennen, wer „sie“ sind. Was sind „leere Blasen“ in diesem Zusammenhang - hoffentlich nicht leere Phrasen?

Ätzend, wie die Persönlichkeit des Prot. weggeätzt wird...

Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Maris!

Erschreckende Gedanken, sich von innen auszuhöhlen,und niemand merkt es auch nur. Tot, aber weiter funktionieren... Ignoranz und Oberflächlichkeit.
Aber der schlimmste Satz ist der letzte: "War ich das nicht schon immer?" der sorgt nämlich dafür, dass ich daran noch eine ganze Weile denken werde...

schöne Grüße... Anne

 

Hi schnee.eule,

Danke. Du siehst es so, wie ich es rüberbringen wollte.
Allerdings gehst du einen Schritt weiter und betrachtest die Zukunft des Protagonisten. Ich habe absichtlich darauf verzichtet eine „Lösung“ anzubieten. Ob er abhebt, den Teufelskreis anhält, ausbricht oder auch daran zerbricht, darüber soll sich der Leser seine eigenen Gedanken machen.

Auch an dich einen lieben Gruß
querkopp


Hallo Woltochinon,

ich denke eine ausführlichere Schilderung des gesellschaftlichen Bezuges würde die Aussage zwangsläufig auf irgendwelche Teilaspekte beschränken (müssen) und möglicherweise subjektive Erfahrungen des Lesers ausgrenzen, sprich Wirkung nehmen.

Die Reaktion der `Gegenseite´ wird im zweiten Absatz beschrieben.

Die „leeren Blasen“ werden vom Protagonisten als solche bezeichnet, sie sagen nichts über den Inhalt aus, sondern symbolisieren für ihn die Tatsache, dass, egal was die anderen sagen, es nicht mehr bei ihm ankommt. Es erreicht gerade mal die Hülle, den Ort, in dem er früher war. Sein Ich ist bereits im Käfig gefangen.

Auch wenn ich deine Ansichten diesmal weitestgehend nicht teile, freuen mich deine Kommentare jedes Mal aufs Neue.

Gruß vom querkopp


Hallo Anne,

... und niemand merkt es auch nur.
... will es nicht merken. So ist es wohl meistens und deshalb ist das in meinen Augen der schlimmste Satz.

Das allein sein mit seinen Geistern - etwas fatalistisch betrachtet ist der Protagonist hier (oder kann es sein) in der aktiven Rolle.

Auch dir schöne Grüße
Maris

 

Hallo querkopp,

also sind es doch leere Phrasen („dekadenter Kommunikation“), die dem Prot. von der Aussenwelt entgegengebracht werden? Dann ist er wirklich zu bedauern...
Du hast recht - eigentlich muß man die `Gegenseite´ nicht noch genauer beschreiben. Es ist auch ganz interessant, wenn man das Verhalten dieser Leute - sein „Verschwinden wird ignoriert“ - selbst interpretiert. Ich habe den Eindruck, dass der gesellschaftliche Mechanismus, der hier wirkt, Ignoranz aus Furcht vor den Konsequenzen des Erkennens der Lage des Prot. ist.

Bis dann,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo, querkopp!

Dies ist eine kurze, sehr nachdenkenswerte Geschichte, an deren Stil und Rechtschreibung ich nichts auszusetzen habe.

Kein Wort über mein langsames Sterben, mein Siechtum, mein Verschwinden. Erkennen sie es nicht?
Für mich ein Hinweis darauf, dass die Schwere seiner psychischen Störung von Aussenstehenden nicht erkannt wird. Viele Menschen unterschätzen die Folgen einer Flucht in "kleine Macken". Selbst so etwas scheinbar Unerhebliches, wie ein Waschzwang, kann letztendlich lebensbedrohend werden.

Allein mit meinen Geistern. War ich das nicht schon immer?
Auch in mir klangen die beiden letzten Sätze lange nach. Starker Text!


Ciao
Antonia

 

Hi Kristin,

Was nun, erkennen sie es, oder nicht?
Genau diese Frage solltest du (bzw. der/die Leser/in) dir stellen. Erkennen sie und verstehen nicht oder erkennen sie und wollen die Kosequenz nicht oder erkennen sie wirklich nicht? Ich möchte hier Gedankengänge anregen (was mir nach deiner Fragestellung offensichtlich gelungen ist), nicht dem Leser das Denken ersparen und ihm meine Gedanken / Schlußfolgerungen ´aufzwängen´.

Das ist letzten Endes auch der Grund dafür, dass ich "an der Oberfläche streife". Wenn ich hier lang und breit Hintergründe schildern, einen konkreten Fall beschreiben würde, was wäre die Folge? Man denkt ausschließlich in den (von mir gesetzten) Grenzen des Beispiels. Damit wäre die Möglichkeit stark reduziert, dass der Leser seine persönlichen Erfahrungen angesprochen sieht, Parallelen sieht und deshalb intensiver darüber nachdenkt. Hat er auf den konkreten Fall bezogen keine persönlichen Analogien folgt viel eher ein inneres Schulterzucken und... nächste Geschichte.

Aber ich sehe schon, manche der Leserinnen sind einfach denkfaul :D und möchten die "Monster" erklärt bekommen, weshalb sie wertvoll werden, warum sie überhand nehmen. Einfaches Beispiel (obwohl ich beileibe nicht den Spleen, Neurose, Psychose nur auf diese Variante beziehen möchte): Tür abschließen. Vermittelt einem das Gefühl von Sicherheit zu wissen, dass die Wohnungstür verschloßen ist. Deswegen geht man zur Vorsicht grad noch mal zurück, rüttelt an der Tür oder dreht zur Vorsicht nochmal den Schlüssel. Erleichterung. Steigerung: Man fährt los. Sind alle Fenster zu? Habe ich jetzt bei Aufschließen und wieder Abschließen wirklich abgeschloßen? Nochmal zurück. Etc.,etc., man lese irgendwo über die Entstehung von Neurosen nach...

So, jetzt habe ich mich ziemlich nackich gemacht ;) ausführlicher mag ich meine Gedanken nicht erläutern - selber denken.

Aber vielen Dank für deine Meinung. Ich hoffe, ich konnte dich ein klein wenig überzeugen...

Gruß vom querkopp
--------------

Buona sera Antonia,

Ich sehe, du hast gleich eines der häufigeren "Monster" parat. Und ich gebe dir 100%ig Recht bzgl. des Unterschätzens der kleinen Macken.
Es freut mich, dass dich meine Worte nachdenklich gemacht haben.
Auch dir danke für´s Lesen und Kommentieren

Ciao del querkopp

 

Seas Schiefschädl! :)

Gut hat sie mir gefallen deine Geschichte. Ich habe die anderen Kommentare nicht gelesen und weiß darum nicht, ob ich wiederhole. trotzdem einige Gedanken...

Sprachlich hat mir dein Text ausgezeichnet gefallen! Du hast hier eine sehr passende Wortwahl. Vor allem die Absätze 1,3,4 gefielen mir gut. Den zweiten empfand ich wahrscheinlich aufgrund der Aufzählungen ("Ehemann, Geliebter und Vater")etwas bremsend.

Gefallen hat mir weiters, dass kein Hintergrund bekannt ist und du die geschichte so universell machst.

Auch bildgewaltig habe ich sie gefunden. Die Gitter die durch das wirre Drehen des Verstandes zur Wand wird... genial. :thumbsup:

Fazit: Kurzer, eindrucksvoller Text.

Liebe Grüße aus Wien, Peter hrubi

 

Danke für das Lob. Was den zweiten Absatz betrifft, bzw. die Aufzählungen, ich wußte nicht, wie ich dem Leser das angesprochene Umfeld des Protagonisten mit weniger Worten vor Augen halten sollte. Dann wäre es vielleicht zu abstrakt geworden.

Liebe Grüße nach Wien
querkopp

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom