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Die Geister, die ich rief
Es lag eine klirrende Kälte über der kleinen Stadt. Kalter Regen peitschte den Menschen ins Gesicht, doch sie trotzten diesem unangenehmen Wetter, um für ihre Liebsten noch die letzten Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Eine junge Frau kam aus einem Laden, schlenderte über den Weihnachtsmarkt. Hier roch es wunderbar nach Zimt und Glühwein. Der feine Duft von Schmalzgebäck kroch ihr in die Nase. Natalie wurde es gleich viel wärmer ums Herz. Sie genehmigte sich eine heiße Schokolade, mit einer weißen Krone aus Sahne. Dann schaute sie in ihre Plastiktüte, sah das eingeschweißte Fertiggericht, ihr Weihnachtsmahl. Dieses Jahr gab nichts Leckeres aus Mutters Küche. Sie hatte sich mit ihr so sehr zerstritten, und war zu stolz klein bei zu geben. Natalie spülte den festsitzenden Kloß im Halse mit dem letzten Schluck lauwarmen Kakao hinunter.
Zuhause angekommen setzte sie sich auf das Sofa, schaltete den Fernseher ein. Ließ sich eine Weile vom flimmernden Blau berieseln. Bald fiel sie in einen tiefen Schlaf.
„Hey du! Aufwachen!“, zeterte es aus der Glotze, „Hörst du schlecht.“
„Hm. Wer ist da! Träume ich?“, fragte das verschlafene Mädchen
„Nein, ich bin hier im Fernseher.“
Erstaunt schaute Natalie auf. Sie traute ihren Augen oder viel mehr ihren Ohren nicht. Auf der Matscheibe saß eine kleine bucklige Gestalt mit einer krummen Nase und schaute feist rein.
Erschrocken über dieses Männlein nahm sie die Fernbedienung und schaltete das Pogramm um.
Wieder dieser Wicht. Die Matscheibe zischte drei, vier mal, doch der Bucklige lies sich nicht vertreiben.
„Lass mich in Frieden!“, brüllte sie, sprang hinter den Fernseher und zog den Netzstecker. Das leise Summen des Apparates erlosch.
„Ich bin der Geist der Vergangenheit, vor mir gibt es keinen Frieden.“, schmitzte die kratzige Stimme aus dem Dunkeln.
Verzweifelt kreischte Natalie auf und hielt sich die Ohren zu, alles begann sich um sie zu drehen. Es war als fiele sie in ein tiefes Loch.
Leise rieselte der Schnee auf einen zugefrorenen See, besäumt von Bäumen die schwer unter der Decke zu tragen hatten. Hier und da waren Jung und Alt, vergnügten sich in der weisen Pracht oder glitten auf dem dunklen See. Natalie beobachtete die ganze Szene wie durch eine Schneekugel. Sie folgte mit ihrem Blick einer Frau, die mit drei Kindern, eines davon noch ein Säugling, den Weg hinunter ging. Die beiden größeren tollten im Schnee herum, und die Mutter hielt wärmend das kleine Bündel.
Bald waren sie in der Wohnung angekommen. Dort begannen sie das Essen vor zu bereiten, es duftete schmackhaft nach Kartoffeln und Braten.
Natalie erkannte ihre Mutter und ihre beiden älteren Geschwister, Alexa und Dominik. Der kleine Säugling musste wohl sie selbst sein.
Die Haustür sprang auf.
„Frohe Weihnachten!“, rief ihr Vater und schleppte einen sperrigen Tannenbaum herein. Dieser wurde im Wohnzimmer aufgestellt und mit Strohsternen und kleinen Engelchen geschmückt.
Immer rasanter eilte die Zeit an Natalie vorbei. Wie in einem Fotoalbum, blätterte sie in ihren Erinnerungen. Sah sich im Kindergarten, am ersten Schultag stolz mit einer übergroßen Zuckertüte in der Hand. Die Familie war in eine größere Wohnung gezogen. Ihr Vater kam oft spät in der Nacht aus der Gießerei, meist war er völlig erschöpft und hatte getrunken. Natalie sah sich selbst verängstigt im Bett liegen. Türen knallten, ihre Mutter schrie den Vater an.
Mit einemmal war sie am Strand im Urlaub, spürte die warme Sonne auf der Haut und spielte mit ihren Geschwistern am Meer, sie bauten riesige Burgen, sprangen ins Wasser und panierten sich mit Sand.
Wieder verging ein Weinachten in Windeseile. Doch immer öfter stritten sich die Eltern. Irgendwann ließen sie sich scheiden. Ihr Vater und die ältere Alexa waren auf einmal verschwunden, sie lebten bei einer anderen Frau.
Auch ihr Bruder, Dominik zog bald von Zuhause aus. Er tingelte die meiste Zeit durch die Weltgeschichte, und wenn er mal zu Besuch kam, gab er auch nur schlaue Sprüche von sich. „Hör auf deine Mutter, das hat mir auch immer weiter geholfen.“
Zehn Jahre vergingen und Natalie hatte den Kontakt zu ihrem Vater völlig verloren. Sie lebte mit ihrer Mutter und deren Freund, Norbert, zusammen.
„Du kannst ruhig mal einkaufen gehen, wenn du hier schon nur zum Essen und Duschen herkommst, ich bin doch kein Hotel.“, ermahnte sie die Mutter.
„Norbert kann doch gehen, ich bin verabredet.“, pikierte sich Natalie vor ihren eigenen Augen.
„Nein, Norbert hat Spätschicht, der schafft es nicht mehr, außerdem war er die letzten zwei Wochen einkaufen.“
„Ja, Okay, dann gib mir Geld! Ich habe schließlich nicht endlos Zeit, um Acht wollen wir ins Kino.“
„Hier, und eine Liste, vergiss bitte nichts, und bring nicht wieder Unmengen von Chips mit.“
„Den Rest behalte ich.“, forderte Natalie.
„Ja, ist schon gut, aber vergiss diesmal wirklich nichts, dein Bruder kommt, und ich wollte für ihn Kuchen backen.“
„Ja für ihn machst du immer alles. Wann hast du das letzte Mal für mich Kuchen gemacht?“
„Vor zwei Wochen?“
„Der war für Norbert, nicht für mich!“
„Du hast trotzdem fast die Hälfte gegessen.“
„Da ist doch egal, du hast den Kuchen für ihn gemacht!“
Mit diesen Worten und ohne Einkaufzettel war Natalie zum Supermarkt gegangen.
An einem anderen Tag bat Norbert sie: „Natalie könntest du noch den Geschirrspüler ausräumen. Ich muss jetzt wirklich zur Arbeit. Und du weißt, Jeanette will das die Küche ordentlich ist, wenn sie nach Hause kommt.“
„Du hast mir gar nichts zu sagen!“ schrie sie ihn an und knallte die Tür vor seiner Nase zu.
Dann kam der Tag, an dem Natalie das erste mal ihren Vater wieder sah. Sie fielen sich in die Arme, beide weinten und wussten nicht was zu sagen. Sie war froh, wieder einen Vater zu haben. Auch wenn sie ihn kaum kannte, hatte er doch immer gefehlt.
Die Familie war das seit Jahren wieder zusammen. Weinachten stand vor der Tür, es wurde gleich zweimal gefeiert, einmal bei der Mutter und einmal beim Vater. Außerdem war die Familie größer geworden, denn dem Vater wurden mit seiner neuen Frau zwei Kinder geboren. Natalie hatte zwei neue Brüder, Marcel und Dennis.
Sie erschrak als sie neben ihrem Sofa aufwachte, und erkannte, das letzte Weihnachten war das schönste, das sie seit langem gefeiert hatte.
„Ja, ja, so war es einmal“ verabschiedete sich der Geist der Vergangenheit mit einem hämischen lachen.
Natalie dachte an ihre beiden älteren Geschwister, die jetzt bei der Mutter waren. Sicher gab es gutes Essen und kleine Geschenke, mehr Symbole als wirkliche Werte. Ihr rann eine Träne über die Wange.
Sie war zu ihrem Freund gezogen und hatte sich deswegen so sehr mit ihrer Mutter zerstritten, dass sie nicht mehr miteinander sprachen.
„Dann verschwinde ich halt!“, war ihr letztes Wort.
Da sie noch zur Schule ging, konnte sie nicht arbeiten um sich selbst zu versorgen. Sie wollte kein Wort mehr mit ihrer Mutter sprechen, darum ging zu einem Anwalt um den Unterhalt einzuklagen.
Von Alexa hatte sie erfahren, dass die Mutter operiert werden musste. Sie wollte sie sich entschuldigen.
„Doch, Nein ich zieh nicht wieder zurück, es ist mir egal!“, hatte sie sich geschworen.
Jetzt weinte sie und es tat ihr Leid, überhaupt so gedacht zu haben.
„Du brauchst nicht zu weinen“, sagte eine schroffe Stimme. Das Mädchen schaute zum Fernseher, dort war ein Mann, fein gekleidet in einen Anzug. Starr vor Schreck wagte sie nichts mehr zu sagen.
„So glücklich sitzen sie nicht am Esstisch. Du weist genau deine Mutter ist krank, sie wurde vor zwei Wochen operiert und braucht Ruhe. Gerade hat sie sich zu Bett gelegt. Dein großer Bruder wird noch ein paar Freunde besuchen, und deine Schwester wird zum Vater gehen. Morgen haben sie sich dort zum Essen verabredet.
Du kannst mir nichts vormachen ich bin der Geist der Gegenwart, ich weis ganz genau was du in diesem Moment denkst und fühlst.
Aber dir fehlt der Mut dich bei deinem Vater sehen zu lassen. Schluck ruhig deinen Tränen herunter, sie wären hier in der Einsamkeit sowie so umsonst vergossen.“
Mit diesen schroffen Worten verschwand der Geist der Gegenwart. Natalie weinte fürchterlich, denn er hatte Recht. Zu sehr würde sie sich schämen ihrem Vater in die Augen zu schauen. Das Mobiltelefon klingelte und zeigte: „Alexa“, sie wusste es war ihre Schwester, war aber zu stolz um abzuheben. Weinend schlief sie wieder ein.
Natalie fröstelte es, als sie aufwachte. Neben ihr saß eine Weisgekleidete Frau, die mit einer heiseren verzerrten Stimme sagte:
„Ich bin der Geist der Zukunft, niemand weiß was ich bringen werde.“
Natalie sprang auf.
„Last ich mich endlich in Frieden, ich habe euch nichts getan.“, rief sie verstört durch die leere Wohnung, ihr Freund war bei seiner Familie und würde erst am nächsten Morgen wiederkommen.
Natalie sah jemand am Tisch sitzen, es war sie selbst, nur zehn Jahre älter. Kein Mucks tat sich. Sie sah sich eine Suppe löffeln. Draußen leuchtete der Weihnachtsschmuck. Laut klirrte das Geschirr. Sonst war es ruhig im Raum. Sie hörte ihren eigenen Atem, unerträglich pochte ihr Herz, wie Hammerschläge. Dann klingelte das Telefon. Die Person am Tisch schaute nach diesem, Achsel zuckend schüttelte sie den Kopf und schlürfte kaltblütig an ihrer Suppe.
Schweißgebadet wachte Natalie auf. Sie sah auf ihr Handy, es war gerade mal 17:00 Uhr. „2 Anrufe in Abwesenheit“, blinkte es auf dem Display. Sie schaute zum Fenster es hatte geschneit, eine weiße Weihnacht. Das Telefon klingelte: „Eine Kurzmitteilung erhalten“, von Alexa: „Natalie, komm doch bitte vorbei, wir sind bei Mama.“