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Die Geheimnisse von Ranor
Ich falle - aus aberwitziger Höhe. Der Wind braust und rüttelt an meiner Kleidung. Die vom fahlen Licht des Mondes beschienenen Wolken verbergen, was unter ihnen liegt. Stetig nimmt meine Geschwindigkeit zu. Ich tauche ein in die graue Materie - für einen Moment: völlige Dunkelheit. Nichts bei mir, um meinen Sturz zu bremsen, nähere ich mich immer schneller der Erde. Die meisten hätten wohl mit ihrem Leben abgeschlossen oder wären in Panik ausgebrochen, doch ich bin nicht wie die meisten, ich habe keine Angst.
Endlich, der Schleier lichtet sich, die ganze Pracht der Stadt Ranor, die wie ein Juwel funkelt, liegt vor mir. In der Mitte die Kristallbauten der Herrscher und Priester, die weit über die umliegenden Gebäude emporragen. Von Magie durchdrungen erleuchten sie die Nacht in allen Farben des Regenbogens. Ansehnliche Stein- und Fachwerkhäuser umgeben diese. Gepflasterten Straßen und Wege, bestückt mit sogenannten Laternen - hölzerne, kunstfertig verzierte Pfosten mit ebensolchen Kristallen bestückt, aus denen die Paläste jener obersten Schicht bestehen – durchziehen die innere Zone.
Trotzdem trügt der schillernde Anblick, der Großteil der Menschen lebt in zusammengeschusterten Baracken, durch eine hohe Mauer vom Rest der Bevölkerung getrennt. Licht sucht man hier in der Nacht vergebens. Kaum 50 Meter trennen mich noch vom Boden, ich schließe meine Augen – es ist so weit - wie von Geisterhand werde ich behutsam abgebremst und lande lautlos in einer Gasse – wie geplant. Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, dass ich den ein oder anderen Trick auf Lager habe. Gerade an jenem Ort inmitten der Finsternis befindet sich mein Ziel: eine mystische Anomalie.
Es ist äußerst ungewöhnlich hier die Entfesslung gewaltiger Energie zu spüren, wo kaum jemand in der Lage ist, mehr als ein schwaches Licht zu erzeugen. Zumindest traf dies vor einigen Wochen noch zu. Um solche Fälle ausfindig zu machen, schwebte ich bis vor kurzem über der Stadt. Vom Boden aus könnte ich von einem Ende der Stadt aus unmöglich derartige Schwankungen an einem anderen aufspüren. Schließlich leben im Inneren die mächtigsten Individuen, solche, die man im Allgemeinen als Magier bezeichnet, solche wie ich es einer war. Denn offiziell bin ich tot.
Mir wurde Äther eingeflößt, eine verbotene Substanz, die immense Kräfte verleiht, doch der Preis ist zu hoch. Niemand darf wissen, dass ich noch lebe; es wäre zu gefährlich für alle, die mir wichtig sind und nicht zuletzt auch für mich selbst. Kapuze und Maske helfen mir dabei, Gerüchte verbreiten sich nichtsdestotrotz schnell, sie tauften mich Schattenwind. Bei dem, was auf mich zukommt, bin ich jedenfalls auf mich allein gestellt: ein Opfer des Äthers.
Lange muss ich nicht suchen, es ertönen Schreie, ich bin nah dran. Da ist er. Seine Kleidung ist zerfetzt, seine Augen leuchten gespenstisch Blau, genauso die hervorgetretenen Adern. Erfreulicherweise ist hier genug Platz für eine kleine Auseinandersetzung, mit etwas Vorsicht würde kein Kollateralschaden entstehen. Geschwind sprinte ich los und packe ihn, so fest wie möglich. Keine Chance: er befreit sich mühelos und schleudert mich durch die Luft. Meine Barriere absorbiert den Aufprall fast gänzlich, in einem Duell der Gewalt ist er offenkundig überlegen. Zumindest ist mir seine Aufmerksamkeit nun gewiss.
Ich warte geduldig auf seine nächste Aktion, schließlich habe ich keine Eile. Er starrt mich bereits seit einigen Sekunden an, dann endlich, da kommt der Angriff. Funken schießen aus seinem Mund, gefolgt von einer gewaltigen Stichflamme. Feuer … jedes Mal Feuer. Ich hasse Feuer. Selbst wenn mein unsichtbarer Schutz ausreicht: brennende Häuser, versengte Haare, unerträgliche Hitze. Zum Glück weiß ich, was zu tun ist. Mit Windmagie entziehe ich genug Sauerstoff, um die Flamme zu löschen; viel eleganter als Wasser und man ist nicht patschnass hinterher.
Spätestens jetzt haben alle Schaulustigen das Weite gesucht. Rasend vor Wut schießt er ganze Salven ab - vergeblich. Es kann nicht mehr lange dauern, er müsste beinahe am Ende sein. Plötzlich ein grelles Licht. Ein Blitzstrahl - viel zu schnell, um mit Magie zu kontern. Er trifft, erneut reißt es mich von den Füßen und ich pralle auf den Boden, im Gegensatz zum letzten Mal spüre ich den Aufschlag ungefedert. Aber ich lebe. Gerade im letzten Moment vor dem Einschlag gelang es mir meine Barriere auf genau diesen Punkt zu konzentrieren - mein Rücken folglich ungeschützt. Drückender Schmerz breitet sich aus. Ich rapple mich auf, das Atmen fällt mir schwer. Meinen Gegner kümmert dies nicht, mittlerweile direkt vor mir geht er mit den Fäusten auf mich los, seine Reserven sind endlich erschöpft. Obwohl auch ich angeschlagen bin, ist es nicht sonderlich schwer, den ungeschickten Hieben auszuweichen: links - rechts – unten – rechts. Ich merke, wie er immer schwerfälliger wird, seine Kraft schwindet. Er sackt zusammen.
Zunächst vollkommen reglos fängt er bald an, ängstlich und verwirrt loszustammeln: „H-Hilfe, wer bist du … wo bin ich, was mache ich hier?“ Ich entledige mich meiner Tarnung, knie mich hin, blicke ihm in die Augen und fange letztlich an zu erklären: „Hör mir zu, du hast nicht viel Zeit, ich bin kein Feind, du warst unter dem Einfluss von Äther, du m-“ „Äther! Nein, das kann … das darf nicht wahr sein“, fällt er mir ins Wort, doch ich brauche Informationen, also packe ich ihn an den Schultern und fahre fort: „Es tut mir leid, es gibt keine Rettung, aber es gibt noch etwas, was du tun kannst, hilf mir die Verantwortlichen zu finden, dann kann ich verhindern, dass es weitere Opfer wie dich gibt.“ Mit letzter Kraft presst er noch ein Wort aus seinem Mund: „Schiefer“. Schon verlässt ihn der letzte Hauch. Schiefer … vielleicht ein Name. Nicht viel - aber das ist ein Anfang. Hier gibt es nichts mehr für mich zu erledigen, also erhebe ich mich in die Luft und eile in Richtung des südlichen Waldes.
Der Kampf beschäftigt mich noch immer, schließlich spüre ich noch immer dessen Folgen. Gesteigerte Körperkraft und besonders der Blitz sind sehr seltsame Äther-Symptome. Zwar variieren diese je nach von Person zu Person, aber solch mächtige Zauber wurden bisher nie hervorgerufen. Andererseits ist eine unerwartete Wirkung nichts Neues, immerhin hat das Mittel mein Leben verschont. Es kann nicht nur daran liegen, dass ich bereits zuvor die Magie in mir trug. Denn im Zentrum wird es nicht ohne Grund vollkommen vermieden. Vielleicht experimentiert jemand mit der Substanz. Zahlenmäßig sind die Einwohner außerhalb der Mauer deutlich überlegen. Es erfüllt mich mit Furcht, diesen Gedanken weiterzuführen, meine Ankunft lenkt mich immerhin fürs Erste davon ab.
Im Wald habe ich mir eine Höhle als Unterschlupf eingerichtet. Angenehme Temperatur und Licht sind mit etwas Zauberei kein Problem. Auf jeden Fall ist in Zukunft mehr Vorsicht geboten. Ich sollte meine Barriere deutlich verstärken, immerhin stehen mir nun genug Energiereserven zur Verfügung, sodass mein Körper die zusätzliche Belastung verkraften kann. Gesteigerte Stärke hätte ich auch gerne. Aber wie funktioniert das nur? Die Faustregel besagt, was auch immer man sich bildlich vorstellen kann, lässt sich ohne Zauberspruch verwirklichen. Im Grunde muss ich lediglich Energie in meine Muskeln einspeisen. Also positioniere ich mich vor einem Baum, lenke meine Kraft in meinen rechten Arm, hole aus und lasse meine Faust geschwind auf den Baum zudonnern. Aaah! Mist! Das tut höllisch weh. Keine Schramme am Baum, meine Hand hingegen sieht ziemlich mitgenommen aus.
Dummerweise errichte ich meine Defensive ausschließlich in Erwartung eines Kampfes; dass Magier über deutlich schnellere Selbstheilungskräfte verfügen, ist dabei kein großer Trost. Ich bin wohl schlicht und ergreifend zu müde und sollte schlafen, spät genug ist es allemal. Zurück in meiner Höhle lege ich mich einfach ins nichts und schwebe in der Luft – bequemer als jedes Bett. Morgen ist ja auch noch ein Tag. So viele Dinge bleiben im Verborgenen und schon wieder neue Fragen … Schiefer …
Es ist hell, langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht, ein neuer Tag ist angebrochen. Ein wunderschöner noch dazu: eine leichte Brise, blauer Himmel. Doch keine Zeit zum Faulenzen - es wartet Arbeit auf mich.