Die Gefahr
8.00 Uhr! Ein schöner Tag, Urlaubstag. Der Radiowecker dudelte: „Schön ist es auf der Welt zu sein...“ Draußen herrliches Wetter, die Sonne schien auf mein Bett und die Vögel zwitscherten. Aber dann meldete sich mein Unterbewusstsein, die bittere Realität erinnerte mich an den Grund des Urlaubtages: Wagen ummelden und Steuererklärung abgeben. Wenn ich es mir recht überlegte, der Tag war gelaufen.
"Nein, ich werde mir meine gute Laune nicht nehmen lassen, werde nicht widersprechen, wenn ich nach sich stets wiederholendem, endlosen Schlange stehen von Zimmer 102 zu Zimmer 634, von dort zu Zimmer 212 und dann wieder zu Zimmer 102 geschickt werde. Ich werde auch dann nicht reagieren, wenn ich nach erneutem Warten endlich die erlösende Tür von Zimmer 102 öffnen darf, um von einem wichtigen Herrn, um ca 11.30 Uhr, auf die gerade beginnende Mittagspause hingewiesen werde.
Ich werde verständnisvoll die läppischen 90 Minuten an dem Kiosk gegenüber eine überteuerte Currywurst essen, das Schild: „Beamte FA zahlen die Hälfte“ souverän ignorieren, rauchen, trinken und gut gelaunt die zweite Runde einläuten. Allen Widrigkeiten zum Trotz werde ich versuchen, noch an diesem Tag meine Steuerklärung dem Beamten plausibel zu machen, und wenn er dann sämtliche Positionen streicht, werde ich lächeln und in Gedanken die Steuernachzahlung vom Sparbuch abbuchen. Ist dann die Zeit für die Kfz-Ummeldung verstrichen, kann ich ja einen weiteren schönen Urlaubstag auf der Behörde verbringen."
So weit die Vorsätze.
Derart motiviert sprang ich aus dem Bett, schlüpfte in meine Feiertagsklamotten, stellte meiner Katze Wasser und Futter für einen langen Tag hin und fuhr mit dem Wagen zum Finanzamt. Da in der Regel der Parkplatz vor dem Finanzamt von den Beamten vollgeparkt ist, stellte ich den Wagen auf einen weiter entfernten ab. Lieber 15 Minuten per pedes, als 20 Euro per Bank. Da das Wetter sich von seiner besten Seite zeigte, gefiel mir der Spaziergang, ja ich genoss sogar die wärmenden Strahlen auf meiner Haut, die einen angenehmen Kontrast zu der noch etwas kühlen Morgenluft bildeten. Am Finanzamt angekommen, staunte ich nicht schlecht. Es war 9.00 Uhr und der Parkplatz war fast total leer.
Ich betrat die „heiligen Hallen“, offenbar hatte man seit letztem Jahr viel Geld in den Umbau gesteckt. Alles wirkte sehr modern und behaglich. Eine junge Frau trat mir entgegen: „ Wo möchten Sie hin?“ Die golden schimmernde Haarpracht, die markanten hellblauen Augen, die vollen roten Lippen wirkten beruhigend und aufregend zugleich. Ihre Uniformjacke war eindrucksvoll gefüllt und obendrein mit einem kleinen, aber auffälligen Schild versehen, auf dem stand: „ SIE sind der Staat, wir IHR Diener.“
Ich war von dem Schild, der Frage und dem Aussehen der Fragenden so verwirrt, dass ich nur „St...t...t...euererk..k...k...klärung“ stottern konnte, wobei ich ihr den letztjährigen Bescheid entgegenhielt. Freundlich, aber bestimmt nahm sie mich am Arm. „Ich bringe Sie hin“, sie führte mich zu Zimmer 102, an welchem ein - und nur ein (!)- Mann stand, der bei unserer Ankunft gerade den Raum betrat. Die junge Frau wünschte mir noch einen schönen Aufenthalt, strich mir freundschaftlich über die Hand und entschwebte engelsgleich in Richtung Eingangshalle, um, so nahm ich an, den nächsten Bittsteller mit Aussehen, Schild und Frage in das gleiche emotionale Chaos zu stürzen, in dem ich mich gerade befand.. Ich setzte mich auf den Stuhl neben der Eingangstür zu Zimmer 102.
Kaum dass ich saß, öffnete sich die Tür von Zimmer 103 und ein älterer Herr trat heraus und an meinen Stuhl. „Entschuldigen Sie, sind Sie wegen Ihrer Steuerklärung hier?“ Ich nickte und war wieder verunsichert. „Dann kommen Sie doch zu mir, ich übernehme das für meinen Kollegen, habe im Moment keinen Besucher.“ Er winkte mich zu sich und betrat den Nachbarraum. „Geben Sie mir doch schon Ihre Unterlagen. Wenn Sie keine außergewöhnlichen Dinge haben, können wir das gleich fertig machen. Möchten Sie inzwischen einen Kaffee?“ Ich nickte, wobei der Grad meiner Verwirrung inzwischen sicherlich dazu beitrug, dass mein Gesichtsausdruck einen einstelligen IQ widerspiegelte. Marion hieß die Dame, die mir den Kaffee brachte und mir mit einigen Sätzen Smalltalk die Gelegenheit verschaffte, wieder Boden unter die Füße zu bekommen.
Der ältere Herr, übrigens auch mit dem Anhänger „ SIE sind der Staat, wir IHR Diener.“ versehen, hatte meine kärglichen Unterlagen durchgesehen und wies mich darauf hin, dass ich vergessen hätte, die Fahrten zur Arbeitsstätte zu erwähnen, ebenso die Umzugskosten (hatte er anhand der Adressänderung erkannt); er trug das nach und nannte mir einen Betrag von 195,-- Euro, die ich nächste Woche erstattet bekommen würde. „Den schriftlichen Bescheid erhalten Sie leider erst in zwei Tagen, es sei denn, Sie haben eine E-Mail Adresse“, er lächelte und bat um Verständnis, „in der Regel bevorzugen die Kunden jedoch den gewohnten Papierweg per Post. Oh, übrigens habe ich mir erlaubt, Ihre Kfz – Ummeldung in die Wege zu leiten, während Sie sich mit Marion unterhielten. Sie hatten mir versehentlich alle Ihre Unterlagen herübergereicht.“ Er entschuldigte sich für sein selbstständiges Handeln und noch während er das sagte, kam Marion und brachte mir zwei Nummernschilder, mit der Bitte, diese doch selbst anzubringen und die alten an der Pforte abzugeben. Andernfalls könne ich auch meinen Wagenschlüssel abgeben, den Standort meines Wagens nennen und den Wagen dann, ein klein wenig später, fix und fertig übernehmen. Ich übergab den Schlüssel, nebst Wegbeschreibung und wurde nach unten in die Cafeteria gebeten, wo ich bei einem kleinen, kostenlosen Snack auf die Ankunft meines Wagens wartete, der um 9.45 Uhr vorgefahren wurde.
„Na, wie hat dir diese Simulation gefallen? Man erlebt alles sehr realistisch, nicht wahr? Kannst du dir vorstellen, dass du in der ganzen Zeit, während du im Bett lagst, den Spaziergang unternahmst und dich im Amt aufhieltest, dich in Wirklichkeit auf dieser Liege hier befandest? Die Simulation schafft die Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel die Charaktere der Beamten, die dir begegneten und Veränderungen, die im Zusammenhang mit dem Test stehen, bettet sie dann in deine Erinnerungen ein, sodass du unbeeinflusst in deiner Persönlichkeit dein Leben simulieren kannst, allerdings unter Einfluss der Testvorgaben. Das gilt für Einzelpersonen, aber es lassen sich auch Simulationen für Gesellschaft, Wirtschaft, oder Sonstiges durchführen.
Wir haben vor genau zwei Jahren diese Simulation geschaffen, von der du einen kleinen Teil soeben durchlebt hast, um die Auswirkungen einer Erfindung zu testen, die seit einigen Jahren in einem Patentamt verrottete. Die Möglichkeit der Mentalitäts - Modifikation von Menschen mit einer ganz bestimmten Gehirnschwingungsfrequenz . Das Gerät bewirkt, dass der davon bestrahlte Mensch mentalitätsmäßig komplett umgewandelt wird, ab dann ist er arbeitsam, zielstrebig, entscheidungsfreudig, verantwortungsbewusst, hat eigentlich nur noch positive Eigenschaften. Das Problem ist, dass es –wie ich schon sagte- nur bei bestimmten Personen wirkt und das sind: Beamte. Unsere Simulation der Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft hat unsere anfängliche Euphorie schnell beseitigt.
Stell dir vor, alle Beamten würden Ihre Arbeit sofort, mit Entschlusskraft und Elan übernehmen. Abgesehen von der eintretenden zunehmenden Verwirrung der Bürgerschaft, du hast es ja am eigenen Leibe erfahren, führte unsere Simulation uns vor Augen, dass nach 1,72 Jahren sämtliche alten Akten, in allen Behörden, abgearbeitet wären. Eine unglaubliche Menge von Beamten, die ihr Recht auf Arbeit einklagen, würden daraufhin vom Staat bei vollen Bezügen freigestellt werden müssen, da absolut keine Rückstände mehr existieren und die vorhandene Arbeit von zehn Prozent der Beamten erledigt werden kann. Das heißt weiter, dass 90 Prozent aller Beamten –mit modifizierter Mentalität- auf den Arbeitsmarkt drängen und dabei bereit sind, für sehr niedrige Löhne und Gehälter zu arbeiten, da sie ja bereits ein gesichertes Einkommen haben. Die Unternehmen würden mit Entlassung der bisherigen Mitarbeiter reagieren und stattdessen für kleines Geld ehemalige Beamte einstellen. Folge wäre eine Vervielfachung unserer Arbeitslosenquote, Zahlungsunfähigkeit des Staates, Zusammenbruch der Wirtschaft, der totale Bankrott.
Wir haben uns nun sämtliche Rechte an diesem Patent gesichert und es bei einer Behörde zur Prüfung eingereicht. Damit ist vorerst die Gefahr gebannt.“
[Beitrag editiert von: querkopp am 26.03.2002 um 17:20]