Die Gedanken eines Liebenden
- Die Gedanken eines Liebenden -
Ein solch trübes, weinerliches Gesicht, welches mir aus dem Spiegel entgegen leidet, kann sie auch nicht geliebt haben. Aber sie hat mir oft genug gesagt, ja sogar geschworen, wie sehr sie mich liebt.
Aus! Warum? Wegen mir? Nein. Wegen einem anderen. Ich könnte mir nichts Schmerzlicheres vorstellen, als daran zu denken, wie dieser Mistkerl sich nun von ihr liebkosen läßt. Hoffentlich nicht mit der Zärtlichkeit, die sie mir entgegen gebracht hat.
Meine zittrigen Hände stützen sich auf das Waschbecken vor mir. Mein Blick fällt in den Spiegel und wird von diesem nur kalt und frech einfach reflektiert, mit dieser erbarmungslosen Gelassenheit.
Meine Freunde sagen: ‘Sie war doch nur eine Freundin, eine von vielen’, warum also sollten sie sich um mich kümmern. Eine von vielen war sie für mich allemal nicht.
Jetzt bin ich solo. Nicht schlimm. Aber leider bestimmt ein Duett die Liebe, welches sich nun nicht mehr vervollständigen läßt.
Ich liebe sie, und ich kann allein nicht mehr. Es mag sich komisch anhören, aber es zerfrisst mich. Ich gebe all jenen recht, die behaupteten geliebt zu werden sei eine Strafe. Aber die Auswirkungen der Strafe zeigen sich immer erst hinterher. Leider.
Ich finde das Wort Selbstmord in irgendeiner Weise pervers, abtrünnig. Als ob ich mich selbst ermorden möchte. Das Wort Freitod beleuchtet doch viel mehr die Befreiung, die für viele dahintersteckt.
Befreiung?
Mein Blick gleitet langsam über die Rasierklinge. Sie ist so scharf und rein, sie glänzt. Ich kann es mir nicht verweigern sie anzufassen, in die Hand zu nehmen, das unscheinbare Pflegeinstrument, mit dem schon allzu viele Leute ihre Seele gepflegt haben, zu berühren. Zwei kurze Schnitte, mehr nicht.
Ich liebe sie! Ihre Hände waren für mich immer etwas derart faszinierendes. Diese Gepflegtheit, diese Bescheidenheit, diese Schönheit der Handflächen. Unvergeßlich.
Am besten werde ich den Schnitt vertikal vornehmen, nicht horizontal, daß dauert zu lange. Komisch, ich habe aufgehört zu weinen. Keine Träne mehr, nichts. Leere. Meine Hände zittern. Ich blicke mich ruhig an. Warum war ich nicht fähig ihre Liebe aufrechtzuerhalten?
Dieser Spiegel regt mich auf. Er macht mich wütend. Dieses unverfrorene Lächeln. Meine geballte Faust trifft mit all meiner Frustation, meiner Trauigkeit und Hilflosigkeit auf die kristallene Oberfläche des spottenden Spiegels.
Zerschlagen.
In tausend kleinen Scherben fällt er zu Boden. Dieser gottverdammte Spiegel.
Ich liebe sie! Ihre Augen, ihre Haut.
Schluß? Ja, ich mache Schluß. So einfach ist das. Der Gedanke zu vernichten ist erleichternd und fesselnd. Ein wenig Stolz überkommt mich.
Staunen werden jene, die meine Gefühle nicht ernst genommen haben.
Weinen werden sie, sie werden sich Vorwürfe machen, mir nicht zugehört zu haben.
An meinem Sarg werden sie trauern Tag für Tag. Und sie?
Sie wird eine Rose auf die frische Blumenerde legen. Eine rote Rose. Das Symbol der Liebe. Die Farbe, der Duft.
Blut ist auch rot. Ich strecke meinen Arm aus. Der Hemdknopf geht nicht auf. Ich zerreiß den ganzen Ärmel. Mutter wird stinksauer sein. Aber auch sie wird an meinem Grabstein angelehnt um mich weinen.
Mit entsetzlicher Sehnsucht auf das Ende setze ich mit der Klinge an.
Ich las einmal, daß die eigentliche Antwort auf das Leben immer der Tod ist. In einem Buch, daß ich zum vorletzten Weihnachtsfest geschenkt bekommen habe, von ihr. An diesem Tag hatte sie ihr wunderschönes Kleid an. Eines der schönsten, daß ich je gesehen habe. Ein rotes Kleid. Rot. Liebe. Blut. Rot, eine Farbe, die, wenn sie verlorengeht, ein Leben auslöschen kann.
Ich drücke die Rasierklinge an meine Haut. Soll ich? Ist die Liebe dies wert?
Sie hat mich für eine „andere Liebe“ stehen lassen, allein gelassen. Sollte ich mich lieber vor ihr umbringen? Dann würde sie meinen Schmerz wenigstens noch in meinen sterbenden Augen sehen.
Eine „andere Liebe“. Dieser Ausdruck ist banal. Zu mir hat sie gesagt, daß sie mich liebt. Also bin folglich ich ihre Liebe. Dann kann man doch nicht von einer anderen Liebe im gleichen Sinne reden. Gut, vielleicht hat sie auch ihm gesagt, sie liebe ihn. Aber nicht mit diesem Blick, nicht mit dieser Stimme und auch nicht mit diesen lieblichen Berührungen.
Ich tue es jetzt. Die Klinge bohrt sich in meine Haut. Ich ziehe schnell und kraftvoll an der Ader entlang hoch. War gar nicht so schwer, einfach einer Linie nachschneiden. Blutrot quillt es aus meinem Unterarm, warm und klebrig, als habe es die Absicht mir Bedenkzeit zu geben, bevor es zu spät ist. Aber mein Entschluß steht fest.
Hoffentlich sehe ich alle vor meinem Grab knieen.
Was kommt nach dem Tod?
Ich krempel mir den anderen Ärmel hoch. Setzte wieder an und ziehe nach oben. Es kam mir so vor, als hätte die Ader des linken Armes mehr Kurven gehabt. Blut fließt in Strömen, jener besondere Saft, wie Goethe sagte, verläßt meinen Körper.
Der erste Tropfen zerschellt auf dem weißen Porzellan des Waschbeckens.
Ein schöner Anblick. Kunstvoll irgendwie.
Das rote Blut, das Symbol des Lebens, fließt zur roten Rose, dem Symbol der Liebe.
Mir kommt es vor, als würde mit jedem Tropfen rotem Blut, den ich verliere, einen Teil ihre Liebe aus meinem Körper fliehen. Aber ich will ihre Liebe nicht verlieren. Vielleicht kommt sie ja auch wieder zurück.
Pflaster!
Unten im Schrank neben der Waschmaschine genau hinter mir.
In der Drehung halte ich inne. Ich habe es mir vorgenommen. Ich bin kein Schwächling. Heute nicht. Wieviel Blut mag ich schon verloren haben? Vielleicht mach ich die Verstopfung am Waschbecken zu, damit ich sehen kann wieviel ich verliere. Aber es ist schon einiges.
Was kommt nach dem Tod?
Wieder Liebe?
Bitte nicht, guter Gott!
Gedankenfetzen huschen durch mein trüber werdendes Denken.
Ich habe genug von Liebe, von ihrer Liebe! Nein!
Nicht von ihrer Liebe. Ich will ihre Liebe, sonst nichts! Mir wird komisch.
Jetzt schon?
Meine Beine werden weich.
Jetzt schon?
Ich dachte, ich hätte mehr Zeit. Ich will jetzt nicht gehen.
Ich falle hin. Knapp neben die Kloschüssel. Glück gehabt, ich hätte mir weh tun können. Ich will nicht sterben!
Das Pflaster!
Ich kann nicht mehr. Mir wird schwarz vor Augen.
Jetzt schon?
Ich will sie noch einmal sehen!
Der Brief! Ich habe keinen Abschiedsbrief geschrieben! Werden meine Freunde nun doch nicht an meinem Grab knieen?
Ich werde müde.
Bestimmt bin ich blass, nahezu pulslos.
Das rote Blut.
Ich liebe sie mehr als diesen Anblick roten Blutes. Ich fühle meine Beine nicht mehr. Der große Zeh reagiert nicht mehr. O Gott!
Was habe ich getan?
Ich will sie noch einmal sehen! Nur einmal! Meine Hände werden schwach. Ich kann nicht mehr klar denken. Alles so wird weich und so angenehm. Meine Augen werden schwer.
Jetzt schon?
Ich liebe sie! Ich hätte es ihr wenigstens nocheinmal sagen sollen. Einmal: Ich liebe dich! Es wird dunkel! Was kommt jetzt?
Meine Atmung ...
Angst!
Liebe!
Es wird stockfinster ... Ich liebe sie! ...
Zu spät.