- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Die Geburt eines Engels
Als ich nun gerade über meine Studien für ein neues Werk zur geistigen Natur des Menschen nachsann, hörte ich, obgleich die Stunde spät und das Wetter unwirsch war, die Stimme eines Mannes an meiner Pforte. Verwundert von dieser, an meinem Gehör und meiner psychischen Gesundheit zweifelnd, führte ich meine Lektüre fort, unsicher, ob dies Buch nicht meine Sinne verfälscht hätte. So lauschte ich weiter dem Prasseln des Regens und dem Knistern des Kaminfeuers, und versank wieder in die Welt meiner neuen Lektüre.
Bald jedoch vernahm ich die Stimme abermals, diesmal allerdings näher, fast schon, als wäre ihr Ursprung vor der Tür meines Gemachs. Nun aber, überzeugt davon, dass es nicht die Stimme meiner Müdigkeit war, die mich aus meinem Sessel rief, sprang ich auf und ging mit zielsicherem Schritte zu meiner Tür, bereit, einem Schuft entgegenzutreten. So ergriff ich einen Brieföffner, der auf meinem Schreibtisch geruht hatte, und nahm die Klinke in meine andere Hand. Für einen Moment sammelte ich mich, lauschte in die dunkle Stille. Dann, mit einem Ruck, riss ich die Tür auf, bereit für alles, was dahinter lauern möge;
außer der jämmerlichen, dürren und triefenden Gestalt des Mannes, welcher nun vor mir stand. Dieser nutzte meine Sprachlosigkeit, um das Wort zu ergreifen.
„Werter Herr“, sprach dieser, „verzeiht mir, Euer Haus ohne jegliche Einladung mit meiner Anwesenheit zu beschmutzen, doch mein Anliegen ist von höchster Dringlichkeit. Auch habe ich bisher jeden anderen Gelehrten in der Stadt ersucht, doch seid Ihr nun der Letzte, den ich um Hilfe bitten kann“. Noch mit meiner Überraschung ringend versprach ich dem Mann meine Hilfe, da es mich neugierig machte, mich einer Patientin anzunehmen, die sonst jeder abgewiesen hatte, auch wenn mich das Auftreten des Mannes misstrauisch machte. Da mir dieser auf meine Nachfrage hin versicherte, dass die Lage äußerster Eile bedurfte, bot ich ihm an sofort in meiner Kutsche zu der Patientin zu fahren.
Jene Fahrt nutzte ich, um möglichst viel um über den mysteriösen Mann und sein plötzliches Anliegen herauszufinden. So erzählte er mir, dass es sich bei der Patientin um seine Gattin handelte. Schnell verstand ich, weshalb er von allen Anderen abgelehnt worden war; seine Geschichte klang unmöglich, sie müssen, wie auch ich zuerst, gedacht haben, dass er sie zum Narren halten wollte. Er berichtete mir, dass seine Frau schon seit einigen Tagen bettlägerig sei, und sich weigern würde mit ihm zu sprechen.
Das wahrhaft ungewöhnliche jedoch war, dass sie innerhalb weniger Tage bis zum höchsten Punkt der Schwangerschaft gereift sein soll. Er fürchtete, dass böses Hexenwerk oder gar Dämonen hinter ihrer unpässlichen Situation steckten. Dies hielt ich zu diesem Zeitpunkt natürlich für eine Närrigkeit seinerseits. Noch nie hatte ich von einem ähnlichen Fall gehört, auch fiel mir keine medizinische Begründung für derartige Beschwerden ein. Die Verzweiflung war dem armen Mann deutlich ins Gesicht gemeißelt, das Wohl seiner Frau schien ihm äußerst am Herzen zu liegen.
Für eine kurze Zeit lenkte mich der Anblick des Stadtteils ab, in den wir auf dem Weg zu seiner Wohnung fuhren. Hier wohnten jene, soweit man ihre Situation als wohnen bezeichnen konnte, die sich kaum Nahrung leisten konnten. Die Gebäude waren hoch, dicht aneinander gereiht wie Schwefelhölzer in einer Schachtel. Ihre Fassaden bröckelten, Türen und Fenster waren teils notdürftig verbarrikadiert, Licht drang nur aus einigen wenigen. Der Wagen der Kutsche schwamm geradezu auf dem Unrat, den die Leute hier auf den Straßen entladen hatten.
Wir hielten schließlich an einem Haus, dreckig und halb verfallen wie alle anderen. Außer der Tatsache, dass in diesem nur hinter einem einzigen vernagelten Fenster das schwache, fast erloschene Licht einer Kerze tanzte. Sobald wir das Haus betreten hatten, vernahm ich einen seltsamen Geruch, der wie eine Warnung in der Luft hing. Mit jedem Stockwerk, ja mit jeder knarzenden Stufe, die wir erklommen hatten wurde dieser deutlicher. Was auch immer es war, so war es wohl am selben Ort, an den der Mann mich führte.
Schließlich kamen wir an seine Tür, die als eine der wenigen intakt war. In dem Augenblick, in welchem er diese öffnete, strömte mir ein entsetzlicher Gestank entgegen. Sofort erkannte ich nun den Geruch, der bereits im ganzen Haus zu riechen war, als den bitter-süßen Geruch der Verwesung. Der Mann jedoch, er schien diesen selbst nicht zu bemerken, wahrscheinlich war er ihn bereits gewohnt, ging wie in Trance zielstrebig auf eine Tür zu, die ich für zum Schlafgemach zugehörig hielt.
Die Behausung erschien erstaunlich intakt, das Mobiliar war vermutlich aus verschiedenen fremden Wohnungen zusammengetragen worden; keine zwei Stühle passten zueinander, der Tisch schien deutlich zu wertvoll für jene Gegend, und selbst die Türen waren ersetzt worden. Weder von der Farbe noch vom Stil her passten sie, die Ursprünglichen mussten bereits längst durch Faulheit oder Würmer zerfressen worden sein, ein Schicksal, welches diese neueren Exemplare jedoch auch bald teilen würden.
Einzig die Bilder hoben sich von diesem Anblick ab, sie schienen Bereits vor dem Verfall Teil der Wohnung gewesen zu sein. Sie zeigten den Mann, der mich hierher geführt hatte, zusammen mit einer schönen, jungen Frau, ihr Lächeln, hell wie ein Sonnenaufgang, schien die Finsternis aus dem Raum zu vertreiben.
Das Rufen des Mannes riss mich aus meinen Gedanken und erinnerte mich an den Grund meiner Anwesenheit. Langsam schritt ich auf den Raum zu, aus dem seine Stimme drang. Der Gestank wurde abermals stärker, nur noch eine Tür schied mich von seiner Quelle ab. Wie hätte ich ahnen können,was mich hinter dieser erwartete? War ich doch gekommen, um einer Patientin zu helfen, kam jede Hilfe für sie zu spät. Die einstige Schönheit der Frau auf den Bildern war längst verblasst.
„So sprecht,“ rief der Mann, „wisst Ihr, was ihr Laster ist? Vermögt Ihr, ihr zu helfen?“ So sprach ich also:
„Guter Mann, ich fürchte, dass jegliche Hilfe hier vergebens wäre, den eure Frau ist tot.“ Der Mann, als hätte er meine Worte nicht vernommen, begann dem Leichnam gut zu zureden, wie zu einem Kranken, der Zuspruch bedarf. Letztendlich begriff ich, der Mann war nicht mehr bei Verstand. Seine Frau musste schon vor Tagen verstorben sein, ihre blasse Haut hatte bereits einen stark ungesunden Ton angenommen, und die Gase in ihrem Bauch ließen die Frau aufgeblasen und schwanger wirken. Klar war mir nun, dass einzig der Mann krank war und meiner Hilfe bedurfte. So fasste ich den Entschluss, seinem Leiden ein Ende zu bereiten und zur selben Zeit seiner Frau ein würdigeres Begräbnis zu schenken. Die einzige Lösung war, ihre verloren Seelen durch die Reinheit des Feuers von diesem Ort zu lösen. Mit einem Gebet auf den Lippen sah ich zu, wie die Flammen der Hoffnung die verdorbenen Straßen erleuchteten.