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Die Gastfamilie
Im Bus war es ruhiger geworden. Man konnte die Anspannung der Schülerinnen und Schüler der Collége des Bons-Enfants spüren, als sie die letzten Kilometer ihrer Reise zurücklegten. Auch Anne, welche die meiste Zeit mit ihren Freundinnen herumgealbert hatte, saß nachdenklich da und versuchte jedes Detail der Umgebung durch die angelaufene Scheibe des Reisebusses zu erhaschen. Dies sollte also für die nächsten zwei Wochen der Ort des Schüleraustauschs sein. Ein bergiges Waldgebiet in Süddeutschland zog mit seinen dunklen Wäldern und verschlafenen Dörfern schon eine ganze Weile an den Jugendlichen vorüber und erweckte in ihnen nicht gerade die Aussicht auf aufregende Partys, vielmehr auf hochgeklappte Gehsteige nach Sonnenuntergang.
Anne war das erste Mal allein von zu Hause weg und sollte bei wildfremden Menschen zwei Wochen verbringen. Zwar hatte sie mit dem Mädchen, sie hieß Annegret, einen kurzen Briefwechsel unterhalten, doch waren die Briefe knapp und oberflächlich gewesen. Das beiliegende Foto zeigte ein dürres Mädchen mit Zöpfen. Ihre Hornbrille und der dämliche Gesichtsausdruck hatten bei Anne den Eindruck einer langweiligen Streberin hinterlassen. Nach längerer Betrachtung hatte sie aber ein wenig Mitleid empfunden.
Endlich kamen sie an der Schule an. Erwartungsvolle Gesichter blickten ihnen entgegen. Anne wäre am liebsten wieder nach Hause gefahren. Als Letzte stieg sie missmutig die Treppe des Busses herab, um sich dann durch das Menschengewühl hindurch zu drücken. Wo war ihr Koffer? Der Fahrer hatte in Windeseile sämtliches Gepäck aus dem Laderaum geworfen und dadurch für viel Chaos gesorgt.
Endlich gefunden, zog sie ihn hinter sich her und schaute zu, wie sich die Austauschschüler begrüßten und die Mädchen umarmten.
„Hallo, Kleine! Hier bin ich!“
Ein Mann mit Halbglatze kam lächelnd auf sie zu. Annegret kam hinterher geschlichen.
„Salut! Freud misch, Sie kennen zu lernen!“ Anne machte einen Knicks.
„Nun schau dir mal dieses gut erzogene Mädel an, Annegret! Ihr werdet bestimmt gute Freundinnen werden. Na los, begrüße sie doch!“
Annegret reichte schüchtern die Hand.
„Ich bin übrigens Dieter, dein neuer Papa.“
Dies war also die Gastfamilie. Anne seufzte nach der knappen Begrüßung. Neidisch blickte sie ihren Freundinnen nach.
Dieter lud den Koffer in den Kofferraum eines alten Kombis und sie stiegen ein. Anne saß auf der Rückbank zusammen mit ihrer neuen Freundin, die sie vor lauter Schüchternheit nicht anzublicken wagte. Gut zehn Minuten später fuhren sie auf einer kleinen Straße, die in den Wald hinein führte.
„Bei uns wird es dir gefallen, es gibt hier Rehe und Wildschweine“, sagte Dieter.
Anne, das Mädchen aus der Großstadt, versuchte zu lächeln.
Endlich bog das Auto in eine von mannshohen Hecken gesäumte Einfahrt. Das schmucklose Flachdachhaus erinnerte Anne an einen Bunker. Die Fenster waren mit geschwungenen Gittern versehen.
Sie stiegen aus, Dieter holte den Koffer und schloss schwer atmend die Haustür auf. Anscheinend war die Außenbeleuchtung defekt. Annegret huschte hinein und ein Junge von vierzehn, fünfzehn Jahren erschien lachend an der Tür. Er klatschte erfreut in die Hände und hüpfte dabei.
„Mach dass du reinkommst!“, brüllte Dieter.
Anne zuckte zusammen.
„Das ist unser Uwe. Keine Sorge, er ist ganz harmlos.“
Anne nickte.
Später saß die ganze Familie am Esszimmertisch beim Abendessen. Annegret hatte neben Uwe noch einen achtjährigen Bruder namens Kevin. Silke, ihre Mutter, brachte den Eintopf aus der Küche. Sie war hager und hatte eine Schürze umgebunden. Die gräulichen Haare waren sorgfältig hochgesteckt.
„Anne ist ein hübsches Mädchen, Anne ist ein hübsches Mädchen!“ Uwe klatschte bei seinem Reim in die Hände.
„Uwe ist verliebt. Bald wird seine Hochzeit sein!“, stimmte Kevin mit ein.
„Beim Essen ist Ruhe, verdammt noch mal!“ Dieter schlug seinem Sohn auf den Hinterkopf. Dies schien den aber wenig zu beeindrucken.
„Dieter, bitte! Also, Anne, warst du schon mal in Deutschland?“, versuchte die Mutter die Stimmung zu retten.
„Nein, ist erste Mal.“
„Anne ist ein hübsches Mädchen“, sagte Uwe wieder und grinste. Sie lächelte zurück.
„Letzte Warnung, Uwe“, sagte Dieter ruhig.
„Uwe ist ein Volldepp. Bald bekommt er Dresche!“, reimte wieder Kevin, und das Gebrülle startete von neuem. Schließlich wurde das Abendessen mit einem Nachtisch beendet.
„Komm, ich zeig dir dein Zimmer“, sagte Annegret.
Sie stiegen die Treppe in den Keller hinunter. Gelbes Licht erhellte den Gang. An den Wänden hingen gemalte Landschaftsbilder. Es roch nach altem Teppich und Heizöl. An seinem Ende angekommen, gingen sie durch die dunkelbraune Tür des Gästezimmers. Mit offenem Mund blickte sich Anne um. Außer dem Bett mit geblümter Decke stand nur ein großer, schwarzer Schrank in der Ecke. Ein kleines Waschbecken befand sich auf der anderen Seite. Das Kellerfenster würde auch am Tage nicht viel Licht herein lassen.
Annegret stand wie angewurzelt neben Anne. Ihr ganzer Körper war verkrampft, der starre Blick auf das Bett gerichtet. Schließlich sagte sie:
„Morgen früh weck' ich dich und Vater wird uns zur Schule fahren. Gute Nacht!“
„Halt, warte!“ Anne packte ihren Arm. Sie wollte jetzt noch nicht allein gelassen werden.
„Wo ist eigentlich dein Zimmer?“
„Oben.“
„Kannst du es mir zeigen?“
„Morgen.“
„Komm, setz disch, isch möchte disch kennenlernen!“
Annegret starrte wieder auf das Bett. Dann sagte sie energisch:
„Ich muss jetzt schlafen gehen.“
Die beiden Mädchen sahen sich ernst in die Augen. Anne merkte, dass ihr Griff fester geworden war. Sie ließ die Bluse los.
Annegret trat einen Schritt zurück. Ihre Augen wanderten unsicher im Raum. Dann drehte sie sich um und rief „Gute Nacht !“, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
„Merde, merde, merde“, murmelte Anne kopfschüttelnd vor sich hin. Sie kam sich vor, wie in einem schlechten Film. Schließlich ließ sie sich auf das quietschende Bett fallen. Sie holte ihr Handy aus der Tasche, um ihre Eltern anzurufen. Unter Tränen schilderte sie ihrer Mutter von den unsymphatischen Menschen hier und wie sehr sie sie vermisse. Ihre Mutter beruhigte sie, meinte, sie solle den nächsten Tag abwarten. Anne schniefte, hörte Mutters Worte und wusste, dass sie keine andere Wahl hatte.
Nachdem sie sich die Zähne geputzt und ihren Schlafanzug angezogen hatte, lag sie nun im Bett, starrte an die Decke. Dann drehte sie sich zur Seite. Die Tür ließ sich nicht abschließen. Was, wenn der Vater hereinkäme?
„Unsinn!“, sagte sie sich. Sie wollte jetzt stark und erwachsen sein. So wie es Mutter gesagt hatte. Irgendwie würden die zwei Wochen schon vorbeigehen. Langsam legte sich der Schlaf über sie.
Durch eine sanfte Berührung wurde sie geweckt. Sie öffnete verschlafen ihre Augen und erblickte das lächelnde Gesicht von Uwe. Anne kreischte. Rutschte in die Ecke und zog die Bettdecke schützend an sich. Uwe hatte sich nicht weniger erschrocken. Nach einer kurzen Irritation führte er seinen Finger zum Mund.
„Schhh, Anne, nicht schreien! Uwe ist brav“, versuchte er sie zu beruhigen.
Anne saß mit rasendem Herzen da. Ihre Furcht schlug mehr und mehr in Zorn um.
„Raus hier!“, schrie sie Uwe an. Dieser zeigte einen enttäuschten, fast wehmütigen Gesichtsausdruck und meinte:
„Aber Uwe ist brav. Uwe ist nicht böse!“
„Was hast du hier unten verloren?“ In der Tür stand auf einmal Dieter. Uwe zog das Genick ein und wandte sich ihm ängstlich zu. Der Vater kam herein, packte Uwe am Arm und schlug ihn mit der flachen Hand auf den Kopf. Uwe winselte.
Anne begann laut zu weinen und rief: „Aufhören! Aufhören!“
Der Vater blickte sie kurz an, dann stieß er seinen Sohn aus dem Zimmer.
„Lass dich hier unten nicht mehr blicken, sonst schlag ich dich tot!“
Dieter rieb sich die Hände und schloss die Tür. Er drehte sich um und hatte sein schönstes Lächeln aufgesetzt.
„Hab doch keine Angst! Ich hab dir doch gesagt, dass er harmlos ist“, sagte er im väterlichen Ton. Anne saß noch immer zusammengekauert in der Ecke.
Schließlich setzt er sich auf die Bettkante.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Er wird nicht mehr herein kommen. Versprochen!“, sagte Dieter. Er schob mit dem Zeigefinger die Brille hoch. Wartete auf eine Reaktion von ihr.
Anne wagte nicht zu atmen.
„Weißt du was in einer solchen Situation am besten hilft? Eine Umarmung! Na komm her!“, sagte er und öffnete seine Arme.
Anne roch die Alkoholfahne. Von diesem Mann umarmt zu werden, war das Letzte, was sie jetzt wollte. Sie schüttelte schnell den Kopf und zog die Decke noch etwas höher.
Dieter wich etwas zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen.
Schließlich holte er einen Schlüssel heraus und hielt ihn so, als wäre er ein Hauptgewinn.
„Wie wär' s wenn ich die Tür abschließe?“
Anne blickte abwechselnd von der Tür zu Dieter. Was meinte er damit? Wollte er sie einsperren?
„Nein.“, sagte Anne schnell.
„Na gut. Wie schon gesagt, es kann dir ja nichts passieren. Ich pass' schon auf dich auf.“ Er steckte den Schlüssel wieder ein.
„Wie wär's dann mit einem Gutenachtkuss?“
Anne schüttelte den Kopf und versuchte dabei zu lächeln. Sie sah aber dabei aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
„Na los, komm zu Onkel Dieter!“, flüsterte er und bewegte sich langsam in ihre Richtung. Plötzlich riss er ihr die Bettdecke weg.
Anne begann zu schreien. Er packte sie fest an den Armen und hatte einige Mühe, das zappelnde und störrische Mädchen unter seine Kontrolle zu kriegen.
„Sei still du Schlampe! Ich werd dir gleich zeigen was passiert, wenn du nicht parierst!“ Er ohrfeigte sie einige Male. Dann drückte er sie mit seinem Körper auf die Matratze. Anne kreischte so laut sie nur konnte.
Ein dumpfes Geräusch ließ Dieter überrascht innehalten. Er drehte sich langsam um, wobei er sich den Hinterkopf hielt. Anne sah, wie Blut aus seinen Fingern rann. Der zweite Schlag traf seine obere Zahnreihe. Dieter schrie laut auf und hielt sich den blutverschmierten Mund. Anne sah Uwe hinter ihm stehen. In seiner Hand hielt er zitternd einen Baseballschläger, bereit wieder auszuholen.
Er lächelte ihr zu und sagte: „Anne, nicht weinen! Uwe hilft dir.“
Dieter begann zu brüllen und stürzte sich auf Uwe. Anne zog kreischend die Decke über den Kopf. Sie hörte, wie die beiden miteinander kämpften. Dann heulte Uwe auf. Einen Moment später krachte jemand an die Schranktür. Dieter fluchte und schimpfte. Wieder dieses dumpfe Geräusch. Dieter schrie vor Schmerz.
Immer und immer wieder drangen jetzt die Schläge in ihr Ohr. Bei jedem Mal fuhr Anne zusammen. Dieter jammerte und winselte noch eine Weile, dann konnte man nur noch die gleichmäßig aufeinanderfolgenden Schläge hören. Die klatschenden Geräusche wurden zunehmend knirschend und matschig. Uwe stöhnte. Endlich schien er den Schläger auf den Boden geworfen zu haben. Er keuchte vor Anstrengung. Anne hörte wie er näher kam. Jetzt bewegte sich die Matratze. Ihr Herz pochte in den Ohren. Sie spürte Uwes vorsichtige Berührung an ihrem Arm. Dann zog er langsam die Decke weg.
Sein verschwitztes und mit Blut verspritztes Gesicht war nun über ihrem. Sie blickte in seine Augen. Das eine war halb zugeschwollen. Sie war wie gelähmt.
„Anne, sei nicht traurig, Papa ist tot!“, sagte er leise.
Anne wollte nur noch weg von diesem Ort. Wie ferngesteuert schob sie Uwe zur Seite und stand neben dem Bett. Vor ihr lag, was von Dieter übrig geblieben war. Mit halb geschlossenen Augen versuchte sie aus dem Zimmer zu gelangen. Sie stolperte über den Baseballschläger.
Endlich im Gang angekommen, hörte sie die Mutter von der Treppe runter rufen:
„Was is denn da unten für ein Krach ? Kann man hier nich in Ruhe schlafen?“ Sie hörte sich alkoholisiert an. Anne durchschritt den halbdunklen Gang zur Treppe. Uwe kam mit fragendem Blick hinterher.
Die Mutter stand oben. „Wo ist Dieter?“ Sie stütze die Arme auf ihr Becken und schwankte dabei hin und her.
„Papa war böse. Jetzt ist Papa tot!“, rief Uwe hoch.
„Was … was hast du getan!“ Silke kam die Treppe herunter. Anne huschte an ihr vorbei und stieß sie dabei in die Seite. Silke verlor das Gleichgewicht und fiel schreiend der Länge nach die Stufen hinunter. Hart schlug sie mit dem Kopf auf.
„Mama!“, hörte Anne Uwe rufen, als sie so schnell sie konnte in Richtung Haustür eilte. Sie war verschlossen, doch der Schlüssel steckte. Mit zitternden Fingern drehte sie ihn um und konnte endlich hinaus in die Freiheit.
„Warte, Anne!“, hörte sie noch Uwe. „Du hast Mama weh gemacht!“
Doch Anne rannte die Einfahrt hinunter, durch das Tor in der Hecke, auf die Straße hinaus. Nach einer Weile kam auch Uwe aus dem Haus und sprintete ihr nach. „Warte Anne, du warst böse!“, konnte man ihn noch rufen hören. Dann wurde es still.
Verschlafen trat Annegret in ihrem Nachthemd an die offene Haustür. In ihrer Hand hielt sie ihren Teddybär. Die eisige Nacht ließ sie frösteln. Da hörte sie in einiger Entfernung den panischen Schrei eines Mädchens verhallen.
Und endlich, nach so langer Zeit, zauberte sich wieder ein Lächeln auf Annegrets Gesicht.