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Die Frist
Der Wecker reißt mich mit seinem nervtötenden Piepen aus dem Schlaf. Sonnenlicht flutet ins Zimmer. Ich habe Kopfschmerzen. Das kommt davon, wenn man sich fast die ganze Nacht um die Ohren schlägt. Heute Morgen um vier Uhr stand ich noch am Fußende von Frau Lehmanns Bett und betrachtete die alte Dame. Ihre Nachttischlampe brannte und mit dem auf die Brust gesunkenen Agatha-Christie-Krimi und der schief sitzenden Brille sah sie aus, als wäre sie beim Lesen eingeschlafen. Aber sie war tot. Ich wusste schon seit Wochen, dass sie heute früh stirbt, denn ich kenne die natürliche Frist, die anderen Menschen gegeben ist.
Zum ersten Mal passierte es vor ziemlich genau zwanzig Jahren. Ich war sechzehn und saß mit den anderen Mädels in Frau Füchtes Handarbeitsklasse. Plötzlich wurde mir schwarz vor den Augen. Als ich wieder sehen konnte, standen einige Mädchen über mich gebeugt und ich sah jede von ihnen in einem pulsierendes Licht in verschiedensten Grüntönen. Mir war sofort klar, was ich dort sah. Es waren ihre Lebensauren. Wenn ich mich auf eine einzelne Aura konzentrierte, wusste ich genau, wie lange das Mädchen, zu dem Sie gehörte, noch zu leben hatte. Ich konnte es in den Farben der Aura lesen. Meine Mutter, die vor einem Jahr an einer Lungenentzündung gestorben war, besaß diese Gabe auch. Kurz bevor sie starb, hatte sie mir davon erzählt. „Das bleibt unser Geheimnis!“, sagte sie, aber ich musste einfach mit jemandem darüber sprechen und redete mit meinem Vater. „Keine Angst, Martina.“, antwortete er mir, „ Deiner Mutter geht es nicht gut. Sie hat Fieber. Sie fantasiert.“ Aber jetzt wusste ich: Sie hatte nicht fantasiert. Wie muss es für sie gewesen sein, zu wissen, wann mein Vater und ich sterben würden? Sie hatte dieses Wissen niemals preisgegeben. Und jetzt sah auch ich die Auren.
Der Anblick war wunderschön und schrecklich zugleich und ich schrie auf. Frau Füchte drängte sich durch die Umstehenden: „Martina, Mädchen, was ist mit dir?“ Ihr Gesicht war direkt über mir. Ich sah ihre Aura, schwarz, unbeweglich und irgendwie brüchig – und ich wusste, dass sie in vier Minuten sterben würde. Ich wollte sie irgendwie zur Krankenstation bekommen, obwohl ich innerlich bereits sicher war, dass ihr niemand mehr helfen konnte. „Mir ist schlecht.“, antwortete ich. Sie fasste mich unter den Arm und half mir hoch. „Komm, ich bringe dich zu Schwester Katja.“ Frau Füchte führte mich auf den langen Flur hinaus. Ihre kleine Handtasche, die sie nie aus den Augen ließ, hielt sie dabei fest an sich gepresst, als hätte sie Angst, ich würde sie ihr entreißen. Wir gingen langsam über den leeren Gang. „Atme tief ein und bleib ganz ruhig“, sagte sie noch. Dann lockerte sich ihr Griff und sie blieb wie angewurzelt stehen. Es war so weit. Ich sah Frau Füchte an. Ihr Gesicht zeigte einen erstaunten Ausdruck. Ihre Iris verschwand unter dem oberen Rand der weit aufgerissenen Augen und sie fiel zuckend auf das grüne Linoleum ohne einen Laut von sich zu geben. Ihre Aura färbte sich zu einem ozeantiefen Blau, wurde dann strahlend weiß und verflüchtigte sich. Der Anblick war überwältigend schön. Frau Füchte lag still. Ich wusste, dass sie tot war. Aber noch fühlte ich keine Trauer, keinen Schock. Das kam erst später. An diesem Tag entdeckte ich eine Seite an mir, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Die Handtasche war Frau Füchte entglitten und lag neben ihr. Niemand befand sich auf dem Flur und in meinem Kopf setzte sich eine Idee fest, die mich gleichzeitig erschreckte und faszinierte. Ich musste schnell entscheiden, ob ich zur Diebin werden wollte oder nicht. Ich sah auf den leblosen Körper neben mir. Ihr würde es bestimmt nichts mehr ausmachen. Damit war es entschieden. Ich nahm das Portmonee aus ihrer Handtasche. Einhundertfünfzig Mark waren darin. Ich nahm hundertzwanzig heraus, verstaute die Scheine in meiner Jeans und legte die Börse zurück. Dann begann ich aus Leibeskräften zu schreien und lief in das Krankenzimmer. Die Alpträume kamen erst in der Nacht. Sie blieben sehr lange.
Anfangs war es schrecklich für mich, die Auren zu sehen. Aber ich weiß nicht von jedem Menschen, wann er sterben wird. Das macht es ein wenig leichter. Wenn sich zum Beispiel ein Mensch vom Hochhaus stürzt, vergiftet wird oder bei einem Flugzeugabsturz oder Autounfall ums Leben kommt, dann versagt mein Sinn. Ich kann nur die Zeit sehen, die bleibt, bis jemand eines natürlichen Todes stirbt. Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, mit diesem Wissen umzugehen und es in bare Münze zu verwandeln. Ich habe mich auf alte Menschen spezialisiert. Alt und einsam müssen sie sein. Und einen einigermaßen gesunden Eindruck machen. Wenn mir so jemand begegnet und ich sehe, dass seine Lebenszeit in einigen Wochen abläuft, dann versuche ich, das Vertrauen dieser Person zu gewinnen. Und wenn sie tot ist, raube ich sie aus.
So habe ich es auch bei Frau Lehmann gemacht. Ich habe ihr die Einkäufe in die Wohnung getragen, ihr beim Putzen geholfen, ihre Blumen gegossen und auf ihre Katzen aufgepasst, als sie ein paar Tage zur Erholung in den Schwarzwald fuhr. Abends habe ich ihr manchmal ein wenig Gesellschaft geleistet. Sie gab mir einen Wohnungsschlüssel und ich fand heraus, wo sie ihre Ersparnisse versteckt hat: In einer großen Bibel mit Bildern von Dürer und in einem Sparstrumpf unter dem Kopfkissen. Alte Leute vertrauen Banken nicht - meistens. Sechstausendneunhundert Euro fand ich heute Morgen bei Frau Lehmann. Dreitausendachthundert habe ich genommen. Ich nehme niemals alles. Ich bin nicht gierig. Außerdem kommt so kein Verdacht auf.
Von dieser Methode kann ich gut leben, aber ich gebe niemals zu viel Geld auf einmal aus. Ich will ja nicht auffallen. Letzten Monat habe ich dann aber doch nicht widerstehen können und mir einen echten Traum erfüllt. Ich entdeckte bei einem Juwelier diesen wunderschönen, lupenreinen Brillanten in einen schnörkellosen Platinring gefasst. Ein unglaublicher Stein. 1,2 Karat, 9.820,00 Euro. Ich habe ihn gekauft ohne zu überlegen und ich trage ihn seither fast jeden Tag. Es ist ein erhebendes Gefühl. Meinen Freundinnen habe ich erzählt, es wäre ein Zirkon. Nur ich kenne mein kleines Geheimnis. Und ich freue mich darauf, diesen herrlichen Schmuck anzulegen, wenn ich mich gleich mit Andreas treffe.
Andreas habe ich kennengelernt, als ich den Ring beim Juwelier kaufte. Er suchte nach einer Rolex-Uhr. „Sie scheinen eine Frau mit Geschmack zu sein“, sprach er mich an, nachdem mir der Juwelier den Ring eingepackt hatte. „Stecken Sie sich den Ring an den Finger. So ein Stück will getragen werden! Und dann helfen Sie mir, eine Uhr auszusuchen.“ Er lächelte. Ein Bild von einem Mann. Vielleicht zehn Jahre älter als ich, eine göttliche Figur, kurze Haare, die frech in alle Richtungen abstanden, ein kurzgeschorener Bart und jede Menge Lachfältchen um die freundlichen Augen. Dummerweise würde er neun Wochen und vier Tage nach unserer ersten Begegnung sterben. Aber bis dahin kann man sicher noch eine Menge Spaß miteinander haben - und vielleicht lässt sich ja auch noch etwas herausholen. Er scheint nicht unvermögend.
Ich prüfe mein Erscheinungsbild im Spiegel. Das schwarze Kleid sitzt perfekt. Dazu nur eine schlichte Perlenkette und mein Ring - keine Ohrringe. Ein leichtes und natürliches Make Up. Ich bin zufrieden. Wäre ich ein Mann, würde ich mich ganz sicher umwerfend finden. Ich nehme ein Aspirin gegen meine Kopfschmerzen. Andreas hat mich zum Abendessen in ein sündhaft luxuriöses Restaurant eingeladen. Ob er sich wohl in mich verliebt hat? Ich glaube schon. Würde ich ihn jetzt heiraten, wenn er um meine Hand anhielte? Nach nicht einmal einem Monat? Warum nicht? In ein paar Wochen wäre ich eine ziemlich junge Witwe. Eine ziemlich junge und ziemlich reiche Witwe.
Als ich das Restaurant betrete, kommt Andreas strahlend auf mich zu und führt mich zum Tisch. Ein vollendeter Gentleman. „Du bist wunderschön“, sagt er leise zu mir und seine Augen leuchten. Er bestellt eine Flasche Champagner und wir trinken ein Glas auf den schönen Abend. Verdammt, die Kopfschmerzen werden schlimmer. Ich sollte etwas essen. Schließlich habe ich mich schon auf eine gemeinsame Kissenschlacht gefreut und die werde ich mir sicher nicht entgehen lassen. „Meine Güte, habe ich einen Hunger.“ Ich nehme die Speisekarte in die Hand. „Moment“, sagt Andreas, „lass uns mit dem Essen noch etwas warten.“ Er blickt auf seine Armbanduhr. „Ich möchte erst mit dir tanzen.“ Er führt mich zur Tanzfläche und schließt mich fest in seine Arme und wir tanzen. Himmel, ist das schön. Ich muss wirklich aufpassen, dass ich mich nicht verliebe. Diese Kopfschmerzen machen mich noch verrückt. „Andreas ... ich glaube, ich muss mich setzen. Mir geht ... es ... nicht so gut.“ Er lächelt mich an: „Noch achtzehn Sekunden.“ Mein Blick verschwimmt. Alles zieht sich irgendwie zusammen. In meinem Kopf hämmert es. Ich fühle ein warmes Rinnsal aus meinem Ohr fließen. Dann tragen meine Beine mich nicht mehr. „Oh Gott, ist hier ein Arzt? Schnell, ein Arzt! Rufen sie einen Krankenwagen!“, höre ich Andreas panisch rufen. Ich fühle, wie er mich auf den Boden legt, wie er meine Hand nimmt. Dann beugt er sich dicht über mich. Er riecht so gut. Ich spüre, wie er mir den Ring vom Finger zieht. „Deine Frist“, flüstert er dicht an meinem Ohr, „ist abgel...