Die Friedhofskatzen
Die Friedhofskatzen
„Schätzchen…Schätzchen…“
Die alte Dame bückte sich hinter den Grabstein und holte eine kleine Blechschüssel hervor.
Mit einem Taschentuch wischte sie die vertrockneten Futterreste weg. Immer wieder drehte sie sich um. „Schätzchen … komm.“ Kurz nachdem ihr Mann hier auf dem Hauptfriedhof seine letzte Ruhe gefunden hatte, fielen ihr die Katzen auf. Anfangs nahm sie nur im Augenwinkel Bewegungen in den Büschen und zwischen den Gräbern wahr. Ein Rascheln hier, ein Huschen da. Viele, scheue Augenpaare beobachten sie eine Zeit lang argwöhnisch bei ihrer Grabpflege. Ein reges Treiben spielte sich hinter den Kulissen der Trauer ab. Schließlich, nach einiger Zeit, nahmen die Phantome Gestalt an. Graue, schwarze, braune, getigerte und gescheckte Samtpfoten kamen so nach und nach zum Vorschein.
Mit der Zeit lernte sie alle kennen. Eine ganze Sippe lebt auf dem Friedhof. Wie und wann es angefangen hatte, weiß niemand. Sie waren einfach da. Vielleicht von ihren Besitzern ausgesetzt, vielleicht entlaufen. Die alte Dame war sehr tierlieb und hatte selbst Katzen in ihrer bescheidenen Wohnung. Sie konnte die armen, ausgemergelten Kreaturen einfach nicht leiden sehen und so begann sie irgendwann mit dem Füttern. Dabei wechselte sie sich mit anderen, tierlieben Friedhofbesuchern ab, die Sie im Laufe der Zeit kennen gelernt hatte. Jeden Samstag füllte sie die Futterschalen auf, die anderen Tierfreunde an den übrigen Wochentagen.
Es dämmerte bereits, als sie durch das Eingangstor schritt, vorbei an der Kriegsgräberstätte. Um diese Zeit war selten noch ein Besucher auf dem Gelände und so war sie auf dem Weg zur Futterstelle auch Niemanden begegnet.
„Schätzchen…“ Der rote Kater hatte sich von hinten über den alten Judenfriedhof herangeschlichen. Nun strich er schnurrend um ihre Beine. Er war zwar erst vor kurzem hier aufgetaucht, hatte sich aber schnell zum Anführer der Gruppe entwickelt. Er war ein kräftiges Tier und bei weitem nicht so scheu wie die Anderen. Von Anfang an schon fraß er der Frau aus der Hand, so auch jetzt. „Na, mein lieber.“ Liebevoll streichelte sie den stolzen Kater über den Rücken, der sofort anerkennend schnurrte.
Sie war den ganzen Tag über sehr müde gewesen und hatte lange überlegt, ob sie überhaupt zum Friedhof gehen sollte. Aber es war schließlich Samstag, ein Tag vor Heiligabend, und die armen Kreaturen sollten über die Feiertage nicht hungern. Und so hatte die alte Dame sich trotz Dämmerung und Kälte doch noch zurecht gemacht, um kurz vor Torschluss noch schnell die Näpfe aufzufüllen.
Sie war gerade auf dem Weg zum letzten Napf, als die ersten Schneeflocken fielen. Der Kater war ihr die ganze Zeit gefolgt. Das war sehr ungewöhnlich. Normalerweise zog er sich wieder zurück, nachdem er sich satt gefressen hatte. Doch diesmal folgte er ihr auf Schritt und Tritt und streifte ein paar mal schnurrend zwischen ihre Beine, sodass sie zweimal fast gestolpert wäre. „Was ist denn heute nur los mit Dir, mein Lieber?“
Der Schnee fiel mittlerweile so dicht, dass die Rentnerin die Schüssel hinter dem Grabstein erst gar nicht sah. Sie bückte sich und entfernte das letzte Laub der alten Kastanie, die neben der Gruft stand, aus dem Napf. Als sie sich wieder aufrichtete, spürte sie einen dumpfen Schlag in der Brust. Ein schmerzhafter Druck machte sich in ihrem Brustkorb breit und sorgte für eine akute Atemnot. Sie rang verzweifelt nach Luft. Der Napf fiel ihr aus der Hand und prallte scheppernd auf die Steinplatten, die das Grab umsäumten.
Ihr wurde schwindelig, alles drehte sich. Der Grabstein verzerrte sich vor ihren Augen, die alte Kastanie neigte sich ihr entgegen. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ihr Kopf schlug hart gegen die massive Marmor-Grableuchte.
Ein heißer Rinnsal lief über ihre Schläfe. Sie wollte die Wunde betasten, konnte sich aber nicht bewegen.
Da lag sie also in dem hintersten Winkel des verlassenen Friedhofs. Nach den Feiertagen würde man sie sicher finden-erfroren. Ein tröstendes Miauen riss sie aus ihren Gedanken. „Mein lieber...“ nur schwach kamen ihr die Worte über die Lippen. Der Kater stupste ihr aufmunternd den Kopf in die Seite, dann rannte er davon.
Der Druck in ihrem Brustkorb wurde unerträglich. Sie starrte eine Weile in den grauen Himmel und blinzelte, als ihr die Schneeflocken in die Augen fielen. Schließlich schloss sie die Augen, bereit sich ihrem furchtbaren Schicksal hinzugeben.
Ihr war kalt und sie zitterte am ganzen Körper. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, hörte sie ein leises Tapsen um sie herum im Schnee. Da waren sie. Alle Katzen, um die sie sich in den letzten Monaten so liebevoll gekümmert hatte. Sie kuschelten sich eng an den Körper und wärmten die alte Dame. Sie leckten Blut und Schnee von ihrem Gesicht.
Der Friedhofsgärtner freute sich auf das bevorstehende Fest. Die anstrengende Weihnachtsgeschäft war zu Ende. Er hatte seinen kleinen Blumenladen abgeschlossen und wollte gerade in seinen Wagen steigen, als ein roter Blitz vor seine Beine schoss. Laut miauend scharrte der Kater mit den Pfoten an den Schuhen des Mannes, lief ein Stück Richtung Friedhoftor, kam zurück und wiederholte die Prozedur. Der Gärtner wurde stutzig. So ein seltsames Verhalten hatte er bei noch keiner Katze erlebt. Obwohl seine Familie zu Hause wartete, beschloss er dem Tier zu folgen.
„Das war Rettung in letzter Sekunde! Nur wenige Minuten später und die Frau wäre an den Folgen des Herzinfarktes und einer Unterkühlung gestorben.“ Der Friedhofsgärtner nickte und kraulte den Kopf des Katers, während er den Rettern ein frohes Fest wünschte. Beobachtet von vielen Augenpaaren zwischen den Büschen verließ der Krankenwagen das Friedhofsgelände.