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Die Fremden
„Kannst du mich etwas dichter ran schieben, Mama?“
Eigentlich hatte Lisas Rollstuhl einen elektrischen Antrieb, aber auf dem weichen Boden vor der Pferdekoppel funktionierte der nicht richtig. In solchen Situationen war Lisa auf die Hilfe ihrer Mutter angewiesen.
„Ungern“, antwortete diese jetzt. „Aber weil du’s bist...“ Sie schob den Rollstuhl so nahe an den Zaun, dass die schwarze Stute und sogar ihr braun geflecktes Fohlen das Brot von Lisas ausgestreckter Hand fressen konnten. Dabei achtete Mama darauf, den Tieren nicht zu nahe zu kommen. Lisa selbst liebte Pferde mehr als alle anderen Tiere. Eines Tages auf ihnen reiten zu können, war einer ihrer beiden unerfüllbaren Träume. (Der andere war, eine berühmte Balletttänzerin zu werden. Das wünschte sie sich, seit sie einmal im Fernsehen eine Aufführung von „Schwanensee“ gesehen hatte.)
Ihre Mutter hingegen mochte Pferde überhaupt nicht, und Lisa hatte lange darüber nachgedacht, was der Grund dafür sein konnte. Vielleicht war gerade jetzt der richtige Moment, sie danach zu fragen.
„Ist es wegen ihrer großen Köpfe?“ Sie konnte kaum glauben, dass sie die Frage wirklich laut ausgesprochen hatte. Doch nun schwebte die Vermutung in der Luft, und Lisa fügte hinzu: „Erinnern die Pferde dich an die Fremden?“
Ihre Mutter zögerte, dann sagte sie nur: „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Komm, genug gefüttert für heute. Es ist Zeit für unser eigenes Abendessen.“
Auf dem Weg nach Hause rollte Lisa langsam neben ihrer Mutter her. Beide schwiegen. Lisa dachte daran zurück, wie sie zum ersten Mal über die Fremden gesprochen hatten.
Sie war damals in der dritten Klasse und kam eines Tages wütend aus der Schule zurück. Wortlos knallte sie ihr Aufsatzheft auf den Tisch. Als Mama fragte, was los sei, sagte sie empört: „Wir sollten einen Aufsatz über einen Traum schreiben, den wir hatten. Ich hab mich nur an einen einzigen erinnert. Dafür hab ich eine Fünf gekriegt. Nikolai hat eine Eins. Für eine ganz lange, dämliche Geschichte. Angeblich hat er geträumt, dass er im Lotto gewinnt und ganz verrückte Sachen mit dem Geld macht. Frau Schmidt fand das ganz toll. Und weißt du was? Zum Schluss hat sie ihn gefragt, ob er sich das nur ausgedacht hat. Für den Aufsatz. Er hat ‚ja’ gesagt, und Frau Schmidt hatte sich das schon gedacht! Das ist doch voll ungerecht! Die Aufgabe war doch, über einen Traum zu schreiben! Und nicht, sich eine Geschichte auszudenken! Ich halt mich an die Aufgabe und krieg eine Fünf, und Nikolai hält sich nicht an die Aufgabe und bekommt eine Eins, obwohl Frau Schmidt das ganz genau wusste! Ich hasse Nikolai! Und Frau Schmidt hasse ich noch viel mehr!“
Oma blickte kurz von der Spüle zu ihnen herüber, dann wandte sie sich wieder dem Abwasch zu. Mama nahm das Heft und las Lisas Aufsatz laut vor. Er war sehr kurz, aber mehr gab der Traum nun einmal nicht her:
„In meinem Traum liege ich im Bett. Ich wache mitten in der Nacht auf. Da ist so eine Art komisches blaues Licht überall. Ich will zu meinen Eltern gehen. Aber so eine Art Gespenst mit einem großen Kopf versperrt mir den Weg. Ich habe ganz viel Angst. Dann fällt mir ein, dass ich sowieso nicht gehen kann. Weil meine Beine ja gelähmt sind. Dann ist der Traum vorbei. Ich träume das oft.“
Nervös wartete Lisa darauf, was Mama sagen würde. Manchmal, wenn Lisa über Frau Schmidt schimpfte (das tat sie nämlich oft), war Mama auf der Seite ihrer Tochter. Manchmal aber auch auf der Seite der Lehrerin. Hoffentlich würde sie jetzt nicht so etwas Blödes sagen wie: „Das ist ja wirklich ein bisschen kurz.“ Lieber etwas vernünftiges, so wie: „Frau Schmidt spinnt doch total!“
Auf keinen Fall hätte Lisa erwartet, was Mama schließlich tatsächlich sagte: „Diesen Traum hatte ich auch immer, als ich klein war.“
Als sei das nicht schon überraschend genug, gab es auch noch ein plötzliches, lautes Geräusch, das sie fast zu Tode erschreckte. Mama und Lisa sahen zu Oma, der gerade eine Tasse aus der Hand gefallen war und die die beiden mit großen Augen ansah. Niemand beachtete die Scherben der Tasse auf dem Fußboden. Stattdessen sagte Oma: „Ich glaube, wir müssen reden.“
So erfuhren an diesem Tag gleich drei Personen, dass es die Fremden nicht nur in ihren eigenen Träumen gab.
Das war jetzt schon einige Jahre her. Lange Zeit hatten die drei nicht mehr darüber gesprochen (und mit Papa oder Lisas Bruder Marcel schon gar nicht). Lisa hatte auch nicht mehr von merkwürdigen Wesen mit großen Köpfen geträumt. Bis vor zwei Jahren. Da hatte sie im Traum wieder das blaue Licht gesehen, und in ihrem Zimmer waren gleich ein paar von den Fremden gewesen. Plötzlich hatte sie Omas Stimme gehört, und sie war aufgewacht.
An jenem Vormittag hatten sie entdeckt, dass Oma spurlos verschwunden war.
Natürlich hatten sie überall gesucht und alle Bekannten gefragt, und sie waren auch bei der Polizei gewesen. Aber Oma war niemals zurückgekehrt.
Danach hatte Lisa sich viele Gedanken gemacht, und sie war in die Bücherei gefahren. Überrascht hatte sie festgestellt, dass es schrecklich viele Menschen gab, die die nächtlichen Besucher kannten. Es gab in der Bücherei gleich mehrere Bücher darüber, und sie hatte zwei oder drei davon mit nach Hause genommen und Mama gezeigt.
Manche Leute glaubten, es seien Wesen aus dem All, die die Menschen studierten. Andere behaupteten, es seien Engel, die uns vor irgendetwas warnen wollten. Wieder andere hielten sie einfach für hässliche, böse Kobolde, wie sie schon in ganz alten Märchen auftauchten.
Mama und Lisa, und vorher auch Oma, hatten sie immer nur ‚die Fremden’ genannt. Lisa hatte Oma einmal gefragt, warum diese Wesen ihnen immer solche Angst machten. Oma hatte gemeint, das wollten sie wahrscheinlich gar nicht. „Vermutlich“, hatte sie gesagt, „wissen sie gar nicht, dass wir Menschen Angst haben. Vielleicht wissen sie nicht einmal, was Angst ist. Und ich glaube nicht, dass sie überhaupt unsere Sprache verstehen.“
All diese Erinnerungen gingen Lisa immer noch durch den Kopf, als sie am Abend im Bett lag. Na toll, dachte sie. Heute schlafe ich bestimmt nicht vor Mitternacht ein. Dabei hatte sie sich das so fest vorgenommen, und es wäre auch ohne die Gedanken an schlechte Träume und an Oma, die sie immer noch schrecklich doll vermisste, schwer genug geworden.
Morgen war nämlich ihr fünfzehnter Geburtstag.
Sie musste wohl trotzdem bald eingeschlafen sein, denn auf einmal schlug sie erschrocken die Augen auf. Als sie das blaue Licht sah, das durch ihr Zimmerfenster drang, war ihr erster Gedanke, dass sie an diesem Tag wohl zuviel Zeit mit ihren Erinnerungen verbracht hatte. Dann wurde ihr bewusst, dass tatsächlich jemand neben ihrem Bett stand. Ängstlich drehte sie den Kopf in diese Richtung – und kam verblüfft zu dem Schluss, dass es heute wirklich nur ein Traum war. Denn es war keine eigenartige Gestalt mit großem Kopf, die da stand.
Es war Oma.
„Hallo, mein Schatz“, flüsterte sie. „Ich habe dich vermisst.“
Lisa setzte sich auf und antwortete: „Ich dich auch, Oma. Du glaubst gar nicht, wie sehr. Ich wünschte, das wäre kein Traum.“
Oma lächelte nur, und die beiden nahmen sich in die Arme und drückten sich fest und lange. Dann sagte Oma: „Komm mit, ich habe eine Überraschung für dich. Ein Geburtstagsgeschenk sozusagen.“ Sie zog sanft die Decke beiseite und fügte hinzu: „Du brauchst keine Angst zu haben. Und den Rollstuhl brauchen wir auch nicht.“
Lisa merkte, wie sie über dem Bett zu schweben begann. Oma hielt ihre Hand, also war das wohl in Ordnung. Langsam richtete sie sich auf, doch ihre Füße berührten nicht den Boden. Omas anscheinend auch nicht.
Zusammen schwebten sie auf die Wand zu und einfach hindurch.
Draußen war es gar nicht kalt. Verwundert fiel Lisa auf, dass sie ein Kleid trug. Das leuchtend rote, das Oma ihr gekauft hatte. Sie war doch seitdem gewachsen – aber das Kleid schien ihr immer noch zu passen. Na, es war eben ein Traum.
Deshalb war es auch gar kein Wunder, dass die Wiese hinter dem Haus größer war als sonst. Und auf dieser Wiese stand ein riesiges Zelt – ein Zirkuszelt, aus dem auf allen Seiten das blaue Licht strömte.
Während Oma und Lisa auf das Zelt zuschwebten, hörte Lisa Zirkusmusik.
Sie schwebten durch den breiten Eingang, vorbei an den Sitzreihen. Aus den Augenwinkeln sah Lisa unzählige Gestalten auf den Bänken, doch ihr Blick war auf die Manege gerichtet. Dort trabten zwei wunderschöne Pferde, die in diesem Licht ganz blau aussahen. Auf einem der Pferde ritt ein Clown, aber nicht einer mit roter Nase und dickem Bauch. Es war einer der anderen Sorte, groß, schlank, mit weißem Gesicht wie ein Pantomime und mit einem spitzen Hut auf. Lisa fand, dass sein Kopf ungewöhnlich groß war, und sie fragte: „Oma, das ist kein normaler Zirkus, oder? Es sind die Fremden, nicht wahr?“
„Hab keine Angst“, wiederholte Oma. „Ich habe endlich gelernt, mit ihnen zu reden. Sie wissen jetzt, wieviel Angst sie dir gemacht haben, und sie möchten es mit diesem Geschenk wieder gutmachen.“
Dann ließ Oma ihre Hand los, und ohne ihr Zutun schwebte Lisa in die Manege, direkt auf das reiterlose Pferd zu, das für einen Moment stehen blieb. Sie hielt kurz den Atem an, als sie auf den Rücken des Pferdes schwebte.
Das Pferd machte ein paar sanfte Schritte und verfiel dann wieder in Trab.
Vor Schreck klammerte sich Lisa mit ihren Beinen an den Körper des schönen Tieres. Tatsächlich – sie bewegte ihre Beine, und sie fühlte sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie ihre Beine!
Es war ein herrliches Gefühl. Das Pferd lief immer schneller, begann zu galoppieren, und Lisa presste sich an seinen Hals und lachte vor Glück. Ihre langen, blonden Haare flatterten in der Luft. Die Gestalten auf den Bänken, der Clown auf dem anderen Pferd, selbst ein Artist hoch oben auf dem Trapez jubelten ihr zu. Und auch Oma stand am Rand der Manege und klatschte ihr bei jeder Runde begeistert zu. Die Zirkuskapelle spielte ohne Unterbrechung.
Doch die Art der Musik änderte sich beinahe unmerklich. Sie wurde langsamer, klang jetzt eigenartig vertraut. Das Pferd begann erneut zu traben. Vor der Kapelle schwebte etwas, das wie der Mond aussah und einen See aus Licht in die Mitte der Manege warf. Und nun endlich erkannte Lisa die Musik: Es war „Schwanensee“.
Ohne darüber nachzudenken, erhob sich Lisa und stieg auf den Rücken des Pferdes.
Sie hatte überhaupt keine Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Sie hob ihre Arme, wiegte sich im Rhythmus der Musik und stellte sich auf ihre Zehenspitzen! Vielleicht schwebte sie sogar über dem Rücken des Pferdes, sie wusste es selbst nicht genau. Sie wusste nur, dass sie auf einem Pferd war und tanzte, und dass sie so glücklich war wie nie zuvor in ihrem Leben.
Sie drehte Pirouetten, hüpfte auf der Stelle und merkte auf einmal, dass sie jetzt auf dem Kopf des Pferdes stand. Doch weder schien es dem Tier wehzutun, noch machte es ihr Probleme beim Tanzen.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon tanzte. Irgendwann, vielleicht nach Stunden, hielt das Pferd an, und sie schwebte wie von selbst herab und fand sich neben Oma wieder.
„Ich bringe dich jetzt zurück“, sagte Oma, ergriff ihre Hand und schwebte mit ihr aus dem Zelt und wieder auf das Haus zu.
Als Lisa den Kopf zurückwandte, sah sie, dass das ganze Zirkuszelt, immer noch blau leuchtend, sich drehte und langsam in den Nachthimmel stieg wie ein märchenhaftes Ufo.
„Was sind sie, Oma?“, wollte sie wissen. „Außerirdische? Engel? Kobolde?“
Oma lächelte und antwortete: „Ein wenig von allem, Schatz. Und sie brauchen mich, um mehr über die Menschen zu erfahren. Deshalb werde ich ihnen gleich folgen. Aber du musst wissen, dass ich dich sehr, sehr lieb habe. Dich, und auch deine Mutter. Sagst du ihr das von mir?“
Lisa nickte, und gemeinsam schwebten sie durch die Wand zurück in Lisas Zimmer.
„Wie haben sie das gemacht, Oma? Ich meine, warum konnte ich tanzen – war es, weil sie es wollten?“
Oma schüttelte den Kopf. „Nichts geschieht, weil jemand es will, Schatz. Es geschieht, weil sie daran glauben. Das ist es, was sie uns sagen wollen. Darum besuchen sie uns schon so lange. Darum, und weil wir so sind wie sie selbst. Auch wenn wir nicht so hässliche, große Köpfe haben.“ Sie schmunzelte. „Doch sei ganz ruhig, zu dir werden sie nicht mehr kommen.“
Lisa lag jetzt wieder im Bett, und sie merkte, wie ihr die Augen zufielen.
„Ich liebe dich“, sagte sie schläfrig, und dann war Oma fort.
„Herzlichen Glückwunsch, Schatz“, sagten drei Stimmen. Sie öffnete die Augen wieder. Es war hell, und Mama, Papa und Marcel standen neben dem Bett und hatten Geschenke in der Hand.
„Mama“, sagte Lisa aufgeregt, „ich hatte einen Traum – oder vielleicht war es auch gar kein Traum – jedenfalls war es wunderschön, und Oma war da, und...“ Sie sah Papa und Marcel an und fügte schnell hinzu: „Ich muss mit Mama alleine reden.“
Die beiden murrten, doch sie verließen das Zimmer. Lisa erzählte Mama alles, was sie erlebt hatte. Dann schwiegen beide.
Endlich kam Lisa ein Gedanke. Sie erinnerte sich an das, was Oma gesagt hatte.
Es geschieht, weil sie daran glauben.
Das ist es, was sie uns sagen wollen.
Weil wir so sind wie sie selbst.
Ganz plötzlich begriff sie, was das eigentliche Geburtstagsgeschenk der Fremden war, und sie begann vor Aufregung zu zittern.
„Ich glaube es“, sagte sie ganz entschieden.
Als sie begann, ihre Füße zu bewegen und Zentimeter für Zentimeter die Decke vom Bett zu strampeln, schlug Mama sich sprachlos die Hand vors Gesicht. Lisa schwang ihre Beine über den Bettrand. Sie richtete sich langsam auf, und dann machte sie zwei Schritte auf das Fußende des Bettes zu, bevor sie sich erschöpft wieder setzen musste.
„Oh, mein Gott!“, war alles, was ihre Mutter hervorbrachte.
„Der Rest ist Übungssache“, stellte Lisa fest, als hätte sie gerade das Selbstverständlichste auf der Welt getan.
„Natürlich!“, bekräftigte ihre Mutter, die immer noch große Augen machte. „Du musst deine Muskeln erst trainieren!“
„Ja, das auch“, sagte Lisa, die etwas anderes gemeint hatte.
Dann blickte sie zum Fenster hinaus und flüsterte: „Danke, Oma. Wo immer du jetzt bist – ich hoffe, die Fremden machen dich ebenso glücklich wie mich.“