Mitglied
- Beitritt
- 30.12.2003
- Beiträge
- 153
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 21
Die Fremde
Einst ging die Sage von der ruhelosen Mutter im Geistermoor, die nachts in das Dorf kam und den Bewohnern erschien. Sie bat um Almosen oder Obdach für sich und ihr Kind mit leiser Stimme. Nie nahm sie etwas an, sondern dankte nur, wenn man ihrem Wunsche nachkommen wollte. Doch an den Folgetagen sprach man im Wirtshaus und abends in den Stuben über Nächstenliebe und Mildtätigkeit, bis wieder der Alltag einkehrte und die Ruhelose vergessen ließ.
Der Dorfschulze ist noch wach, findet keine Ruhe. Gar zu gespenstisch flogen die Nebelfetzen vorbei und bescherten ihm böse Vorahnungen, als er durch das Moor ging. Etwas wird passieren heute Nacht. Er geht ans Fenster und lauscht hinaus. Durch die Stille schwebt getragen das Läuten der Turmuhr. Der zwölfte Schlag verhallt.
Da, plötzlich, hebt ein Wispern an und ein Stöhnen, bald wieder ist es ein Raunen, dann ein Ächzen. Der fahle Wintermond durchbricht die Finsternis. Auf dem Hof huschen bizarre Schatten umher, wenn eine Wolke über den Himmel zieht. Nun fängt der Hund an zu knurren, zerrt an der Kette, macht irre Sprünge auf etwas Unsichtbares zu; dann ein klägliches Jaulen, das in Winseln übergeht. Rückwärts kraucht der Hund in seine Hütte, Geifer tropft von seinen Lefzen.
Weiter horcht der Schulze, da dringt von draußen ein feiner Gesang an sein Ohr:
„In meinem Stübele, da weht der Wind, Wind, Wind.
In meinem Stübele, da weht der Wind.
Ich muss erfrieren mit meinem Kind, Kind, Kind.
Ich muss erfrieren mit meinem Kind.“ *)
Eine Erinnerung wird wach in des Schulzen Hirn, das vor Angst keinen klaren Gedanken fassen kann:
Es war im letzten Winter, wohl auf den Tag genau, als diese Frau durch das Dorf gezogen war, ein kleines Kind auf dem Arm. Sie hatte an viele Türen der wohlhabenden Dorfbewohner geklopft, doch niemand ließ sie ein, nicht Wegzehrung noch gute Worte gab man ihr. Schließlich beim Schulzen angekommen, hatte der sie des Dorfes verwiesen. Am nächsten Morgen fand man sie, auf dem Weg vom Dorf zum Moor, halb in einer Schneewehe steckend, erfroren sie und das Kind.
Nun, da gab es die 'Bestimmung zur Ansiedlung' im Dorf der Reichen, welche die Aufnahme der Fremden verbot; denn fremd war sie der Herkunft nach und vor allem vom Besitzstand, da sie in Armut kam. Das Dorf hatte ihre Lage nicht verschuldet und also nicht zu vertreten. Wäre es anders, so hätte man viele Hungerleider durchfüttern können, und der Wohlstand wäre gewichen.
Es gab auch die Bestattungsvorschriften, die eine Beisetzung auf dem Dorffriedhof unmöglich machten. So blieben sie und ihr Kind liegen den ganzen Tag über. Einsetzender Schneefall legte voller Erbarmen sein Leichentuch über sie, und bald darauf waren die Toten vergessen. Nach der Schneeschmelze waren sie nicht mehr da.
Der Schulze ist nass von Angstschweiß und weiß nicht, was er tun soll. Jetzt kratzt es an der Tür. Der Gesang ist verstummt. Suchend schweift der Blick des Schulzen durch den Raum, bleibt am Schürhaken hängen. Er nimmt ihn an sich und geht zur Tür, an der es immer noch kratzt. Doch bevor er die Klinke berührt, senkt sich diese und die Tür geht gespenstisch leise auf. Er sieht seinen Hof und sonst nichts. Das Kratzen hat aufgehört, als sich die Tür öffnete. Doch nun ist ein Schurren und Poltern hinter ihm.
Den Schürhaken in der erhobenen Hand, wendet er sich dem Geräusch zu. Dort sitzt sie, leibhaftig wie ihm scheint, so wie sie vor Jahr und Tag vor ihm stand, die fremde, hungernde, frierende Mutter. Nun allein, ohne das Kind. Sitzt, weiß gewandet, auf seinem Stuhl an seinem Tisch und schaut ihn ruhig an.
Er macht einen hastigen Schritt auf sie zu, stolpert in seiner Eile, und fühlt heißen Zorn in sich aufsteigen. „Was hast du hier zu suchen?“, schreit er sie an, „wer hat dich her gebeten?“.
„Ich bin gekommen dich einzuladen zu einem kleinen Fest“, antwortet sie leise. „Es wird dich nichts kosten, auch der Weg ist nicht weit“.
„Danke für die Einladung, doch ich bleibe hier“, sagt der Schulze, nun schon etwas gefasster, weil die Frau gar nichts Bedrohliches an sich hat. ’Entweder ist sie ein Geist, dann aber ein harmloser’, denkt er, ’oder sie ist gar am Leben geblieben durch irgendein Wunder; dann will ich schon mit ihr fertig werden’.
Die Frau erhebt sich und sieht ihn an mit einem Blick, der ihn frieren lässt. „Du wirst mit mir gehen“, sagt sie mit ruhiger, fester Stimme. Dann spricht sie weiter:
„Als Bittstellerin kam ich, hungrig und fremd.
Der Schnee hat gestiftet mein Totenhemd.
Verflucht hab’ ich dein Herz aus Stein.
Jetzt komm’ ich dich holen, nun bist du mein.“
Die Frau geht zur Tür hinaus, und gegen seinen Willen folgt ihr der Schulze, seine Beine gehorchen einem fremden Befehl. Er will schreien, doch es wird nicht einmal ein Röcheln; nur der geöffnete Mund lässt seinen Versuch erahnen. Weiter führt der Weg aus dem Dorf hinaus, vorbei an den Haselsträuchern, den Moorbirken. Kalt und fühllos glänzt das Wasser in den Waken. Zu spät packt den Schulzen von nackter Angst diktierte Reue. Noch ein Schritt, der Boden gibt nach, den Fuß zieht es hinab, Eiseskälte steigt im Körper des Schulzen auf, erreicht das Herz, noch bevor das Moor ihn ganz umfängt.
Seit dem rätselhaften Verschwinden des Dorfschulzen wurde der Geist der ruhelosen Mutter im Dorf nicht mehr gesehen, und so geriet die Sage allmählich in Vergessenheit.
*) Text nach einem alten Volkslied