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Die Freiheit beginnt jenseits der Mauer
Abdullahi hebt den Kopf; die blonde Frau schaut ihm direkt in die Augen. Der Blick ist hart und die Augen sind so blau wie das Meer in seiner Erinnerung. Zu Hause gibt es solche Blicke nicht; dort verstecken sich die Augen, spielen mit dem Gegenüber und verlieren sich in Andeutungen. „Wo haben sie den Montagabend verbracht, Herr Abdullahi?“
Er hat die Frage schon gehört, bevor die Worte über die Lippen gekommen sind. Er hat sie aus den Augen gelesen. Es ist nicht gut, das Gegenüber direkt anzusehen, denkt Abdullahi, man gibt zuviel von sich preis und verliert dabei einen Vorteil. Trotz des Vorsprungs weiss er nicht, wie antworten. Soll er sagen, dass er den Toten gesehen hat, dass er schon so viele Tote gesehen hat, und dass ihr Blut immer im selben Rot glänzt? Soll er sagen, dass der Kontrast des Rots weniger schockiert, wenn das Blut auf dunkle Haut fliesst als auf helle?
Er hat keine Angst, keine Angst vor der blonden Frau und ihren Fragen, auf die er keine Antworten weiss. Abdullahi hat Zeit. Er war schon gestern hier in dem engen Raum mit den weissen Wänden und dem grauen Teppich. Es riecht ein wenig nach Farbe. Es riecht nach Kunststoff und die Luft vibriert leise wegen des Computers. Schon gestern konnte er sich nicht zu einer Antwort entschliessen. Er reibt sich die Schläfen und versucht, einen Blick auf den Baum vor dem Fenster zu erhaschen.
Die blonde Frau stellt sich vor das Fenster. „Es ist in Ihrem Interesse mit uns zusammenzuarbeiten, Herr Abdullahi, sollten Sie weiter schweigen, kann das unangenehme Folgen für Sie haben. Ich denke da zum Beispiel an Ihre Aufenthaltsbewilligung.“ Und wieder heften sich diese durchdringend blauen Augen auf ihn.
Er senkt den Blick. Ich will auch gar nicht hierbleiben, denkt er, schliesst die Augen und beschwört das Bild aus seiner Kindheit herauf, als er mit Ahmed an der Strandpromenade spazieren ging: die weissen Häuser, das blaue Meer. Damals war er glücklich. Drei Wochen später ging Ahmed nach Saudi-Arabien. Sie haben sich seither nicht wiedergesehen. Am Telefon versichert der Bruder immer, es gehe ihm gut und er schickt auch jeden Monat Geld. Als Abdullahi ihn fragte, ob er bei ihm unterkommen könne, wich er aus. Du gehst besser woandershin. Such dein Glück in Europa!
Europa! Und jetzt sitzt er in diesem engen Zimmer und die blauen Augen sind auf ihn gerichtet wie die Mündung einer Pistole.
Die Tür geht auf, ein Mann tritt in das Zimmer, zieht einen Stuhl heran und setzt sich gegenüber von Abdullahi. „Herr Omar Abdullahi, ich kann mir vorstellen, dass diese Situation schwierig ist für Sie. Ich bin der amtliche Übersetzer. Obwohl man mir gesagt hat, Sie sprächen gut Deutsch, wurde ich gebeten, für diese Anhörung zu übersetzen.“ Der Mann ist ein Somali.
„Wer bist du?“, fragt Abdullahi. Es ist gut zu wissen, wo man den anderen einordnen muss, welcher Sippe er angehört. Wer schon zu Beginn erfährt, welche Stellung sein Gegenüber innerhalb der Gesellschaft hat und weiss, was man von ihm erwarten kann, ist im Vorteil. Hier, in diesem Land, verdecken die Menschen ihre Macht. Sie sind niemandem Rechenschaft schuldig. Der Mann in der Küche war auch so. Und jetzt ist er tot.
„Warum fragst du das?“, der Übersetzer pocht mit dem Finger auf den Tisch, „Bist du nicht lange genug hier, um zu wissen, dass die Sippe hier nicht zählt? Mein Name und meine Person tun nichts zur Sache. Ich bin hier, um zu übersetzen. Wenn du meinen Rat willst, sprich, sprich mit ihnen, wenn es das ist, was sie wollen“.
„Welchen Wert hat ein Rat von einer Person, die nichts zur Sache tut?“ Kalt kriecht die Verzweiflung der Einsamkeit in Abdullahi hoch. „Ich habe Kopfschmerzen, sag ihr, dass ich eine Pause brauche.“ Seine Schläfen pochen. Ihm wird heiss, und dann fühlt es sich an, als wellte sich der Boden unter seinen Füssen, genau wie das Meer. Er taucht ein in das klare Blau des Wassers. Die blonde Frau verschwimmt vor seinen Augen und Abdullahi knallt bewusstlos auf den Boden.
Es ist still. Er spürt, dass er allein ist. Ohne die Augen zu öffnen, riecht er den durchdringenden Geruch nach Desinfektionsmittel. Sein Kopf schmerzt.
Er hört wieder Jean-Paul, der schreit, und spürt den harten Griff, mit dem er am Arm gepackt wird. „Warum begreifst du nicht, dass du die Milch in den Kühlschrank stellen musst – immer?“ Jean-Paul stösst ihn, und die offene Kühlschranktür bohrt sich schmerzhaft in seine Seite.
Er sagt nichts. Ganz am Anfang hat er noch versucht, zu erklären, sich zu rechtfertigen, aber er hat schnell gemerkt, dass es Jean-Paul jeweils nicht um den Kühlschrank, die Milch oder saubere Teller ging. Er genoss die Macht. Der Küchenchef spielte sich als Herrscher auf, beleidigte, begünstigte oder verachtete seine Mitarbeiter. Und Abdullahi hatte er nie gemocht. Das war klar, seit er Jean-Paul im Keller mit Lili erwischt hatte. Lili hatte nie ein Wort darüber verloren aber alle drei wussten, dass Lili nicht davongekommen wäre, wäre Abdullahi nicht in die Garderobe geplatzt.
„Herr Abdullahi, hallo? Wachen sie auf!“ Die Krankenschwester tätschelt seine Wangen und zwingt ihn, die Augen zu öffnen. Können Sie schon aufstehen? “ Die Frau spricht schnell. Abdullahi hat Mühe, ihre Worte zu verstehen; es ist, als käme sie aus einer andern Welt. „Trinken Sie ein Glas Wasser und dann bringe ich Sie zurück in den Vernehmungsraum. Man erwartet Sie dort. Mühsam steht er auf, trinkt das Wasser, schluckt die Schmerztablette und folgt der Krankenschwester durch die Gänge.
Im Zimmer sitzt die blonde Frau hinter dem Computer. „Setzen Sie sich bitte.“ Sie steht auf und will den amtlichen Übersetzer rufen.
„Nein, bitte rufen Sie ihn nicht. Ich werde mit Ihnen sprechen, aber ich möchte nicht, dass er dabei ist“, Abdullahi schaut direkt in die blauen Augen. „Ich traue ihm nicht.“
„So, so, Sie trauen ihm nicht!“ Die Frau verzieht den Mund zu einem harten Lächeln. „Und warum sollten wir Ihnen trauen? Sie haben die letzten zwei Tage wertvolle Zeit verschwendet. Mit Ihrem Schweigen behindern Sie unsere Ermittlungen. Falls es Ihnen noch nicht klar ist, es geht um einen Mordfall! Jetzt stellen Sie Ansprüche! Ich sage Ihnen etwas, Herr Abdullahi: Ich bestimme hier, wie die Sachen laufen, und wenn Sie nicht kooperieren, schlafen Sie heute in der Zelle. Als Verdächtiger sind Sie eine Gefahr für die Allgemeinheit“. Sie dreht sich um und verlässt das Zimmer, um den Übersetzer zu holen.
Da ist sie wieder, die Macht.
„Seit wann arbeitest du in diesem Restaurant?“ Dick und rund sitzt ihm der Übersetzter gegenüber und blickt ihn ausdruckslos an. Die blonde Frau schaut auf den Bildschirm.
„Ich habe letzten September dort angefangen“, Abdullahi blickt zur Decke und rechnet. „Nein, warte, es war Mitte August. Ein Freund sagte mir, dass sie dort eine Aushilfe suchten. Jean-Paul hat mich sofort eingestellt.“
„Wie war Ihr Verhältnis zu Jean-Paul?“
„Gut.“ Abdullahi antwortet, bevor der Übersetzer Luft holen kann.
„Sie haben schwarz gearbeitet. Wissen Sie, dass das strafbar ist?“ Die Frau richtet die Frage direkt an Abdullahi.
Der Übersetzer räuspert sich.
„Ich hatte keine Wahl. Jean-Paul gab mir Arbeit, er bestimmte die Regeln. Ich konnte keine Bedingungen stellen. Ich hatte keine fixen Arbeitszeiten, sondern hielt mich einfach zur Verfügung für den Fall, dass ich gebraucht würde. Gab es viel zu tun, konnte ich im Kellerraum neben der Garderobe schlafen. Es hat dort ein Bett. Ich wusste nicht, dass es verboten ist, zu arbeiten.“ Abdullahi zuckt mit den Schultern.
„Wann haben Sie erfahren, dass Jean-Paul tot ist?“ Die blauen Augen bohren sich in seine. Abdullahi muss den Blick senken.
„ Am Dienstagmorgen, als ich zur Arbeit kam. Das Restaurant war geschlossen und überall war die Polizei. Ich bin dann gleich wieder umgekehrt. Ich hatte Angst.“
Die Frau nickt, zögert, steht auf und sieht zum Fenster hinaus.
Er wünscht sich weit weg. Alle diese Fragen wegen einem einzigen Toten. In der Wüste, auf dem Weg nach Libyen, kamen viele um. Sie brachen aus Hunger oder Durst zusammen, wurden ausgeraubt oder erstochen. Dort stellte keiner Fragen. Jean-Paul hatte sich aufgeführt wie ein König auf einer Insel, der ein gnadenloses Regime führt. Solche Leute leben gefährlich. Er hat das oft gesehen. Dort, wo er herkommt, leben die Unauffälligen am längsten. Wer sich aufspielt, fällt früher oder später bei einem Stärkeren in Ungnade, und dann ist es aus.
„Wir haben von den anderen Angestellten vernommen, dass Jean-Paul kein beliebter Chef war. Er habe Sie mehrmals vor aller Augen blossgestellt.“ Sie hat sich umgedreht und spricht jetzt wieder durch den Übersetzer. Dieser mustert die Maserung der grauen Tischplatte vor sich und arbeitet, ohne den Kopf zu heben.
„Ja, das stimmt. “ Abdullahi wiegt nachdenklich den Kopf. Zu Hause hätte er einer Frau nie solche Fragen beantworten müssen. Hier ist er machtlos. Selbst wenn er sprechen wollte, wüsste er gar nicht, wie anfangen.
„Erzählen Sie von Jean-Paul, wie war er?“ Die Stimme klingt scharf, nervös trommeln ihre Finger auf die Tischplatte.
„Er war ein schwerer Mann, Jean-Paul. Und er hatte eine laute Stimme, vor allem wenn er schrie. Er hat viel gearbeitet…“
„Kommen Sie zum Punkt!“, unterbricht ihn die Frau.
„Jean-Paul war ungeduldig, wirklich sehr ungeduldig. Einmal hat er Milena die Treppe hinunter gestossen, weil sie die heissen Teller hat fallen lassen. Sie bückte sich, um den Besen zu greifen, da hat Jean-Paul sie von hinten gestossen. Milena hat sich den Knöchel verstaucht; sie konnte eine Woche nicht arbeiten. Sie konnte sich auch nicht wehren, weil sie keine Arbeitsbewilligung hat.“ Abdullahi hört zu, wie der Übersetzer fertig spricht. Er hätte das auch in Deutsch erzählen können, aber das wollten sie nicht. Genauso wenig hatte Milena gewollt, dass er ihr aufhalf unten an der Treppe. Er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern, hatte sie gesagt und ihn weggestossen. Milena ist schön. Sie hat langes blondes Haar und blaue Augen. Ihre Haut ist so zart, dass er die Adern am Hals erkennen kann. Er hätte gerne mit ihr Tee getrunken, ihr erzählt, dass ihn blaue Augen immer an das Meer in der Bucht vor Mogadischu erinnerten. Milena spricht selten mit ihm. Sie spricht eigentlich mit niemandem, wenn es sich vermeiden lässt.
„Wie haben die anderen auf diese Ausbrüche reagiert?“ Der Übersetzer mustert immer noch die Tischplatte.
„Niemand hat reagiert. Es war auch nicht aussergewöhnlich, dass Jean-Paul das gemacht hat. Er war immer so.“
„Wo waren sie am Montagabend zwischen 20 Uhr und 22 Uhr?“
„Ich habe eine Mansarde gemietet etwas ausserhalb der Stadt. Dort war ich. Ich habe geschlafen“, Abdullahi stützt den Kopf in die Hände. Er ist müde. Sie wird ihm nicht glauben, die blonde Frau, das weiss er schon, bevor sie antwortet. Schliesslich ist er ein Somali. Seine Haut ist zu schwarz und seine Kultur zu fremd, als dass man ihm so ohne Weiteres vertraute. Ihn kümmert das nicht. Anfangs hatte er immer diese Bitterkeit verspürt, wenn er ignoriert oder verachtet wurde. Jetzt nicht mehr. Das bittere Gefühl hat sich verfestigt, ist zu seinem Vertrauten geworden, zu einer Mauer, die ihn schützt. Er schweigt und wartet.
„Aha, kann jemand bezeugen, dass Sie den Abend in Ihrer Mansarde verbracht haben? Die Vermieter vielleicht?“
„Der Vermieter wohnt nicht im selben Haus. Ich kenne die anderen Mieter nicht. Es ist ein grosses Haus mit vierzehn Stockwerken. Da sieht man die Nachbarn selten.“
Sie nickt und wendet sich wieder an den Übersetzer: „Jean-Paul Suter wurde mit einem Fleischmesser erstochen: insgesamt sechs Stiche, zwei in den Rücken, drei in den Oberkörper und einen in den Bauch. Wem trauen Sie eine solche Tat zu?“
Abdullahi beginnt zu schwitzen. Hätte er diese Stelle bloss nie angetreten, dann wäre er jetzt nicht in Teufelsküche! Warum musste Jean-Paul immer die Nerven verlieren? Er versteht das nicht. Ihm passiert das nicht, jedenfalls nicht in Europa. Manchmal denkt er, seine Gefühle sind zurückgeblieben auf dem Weg in dieses Land. Einmal, als er am frühen Morgen durch die kleine, ordentliche Stadt zur Arbeit ging, ist ihm aufgefallen, dass ihm Glück und Trauer nichts mehr bedeuten. Es sind nur noch Worte, die nicht anders tönen als Brot oder Milch. Die Gleichgültigkeit, die er anfangs vorgeschützt hat, um sich zu schützen, ist ein Teil von ihm geworden. Er kann sie nicht mehr ablegen. In Somalia war er stolz gewesen auf sein Ehrgefühl, den Respekt, den andere ihm entgegenbrachten, weil sein Vater und sein Grossvater zu den Stammesältesten gehört hatten. Man respektierte sie wegen ihrer besonnenen Art und der Umsicht, mit der sie bei Familienfragen zwischen den Parteien vermittelten. Und dann wurden sie alle immer ärmer und verzweifelter und wütender. Das Schlichten wurde zu einer gefährlichen Angelegenheit. Trotzdem hatte er seine grosse Reise mit dem Vorsatz angetreten, den Menschen, denen er begegnete, Respekt und Würde angedeihen zu lassen. Und dann fielen die guten Vorsätze, genau wie der Stolz, unterwegs aus seinem Herzen.
Wenn er träumt, begegnet er dem Mädchen aus Eritrea, dem er in der Wüste half, indem er sie als seine Frau ausgab, und die ihn dann um sein letztes Geld erleichterte. Sie lacht ihm ins Gesicht, bevor die vermummten Männer sie wegzerren. Er sieht die Polizisten in Libyen grundlos Schwarzafrikaner schlagen, sie demütigen, ihnen ins Wasser spucken, und er fühlt keinen Zorn mehr. Er hat seine Lektion gelernt; er kann schweigen und wegsehen. Die Gerechtigkeit lässt sich – wie so vieles – relativieren. Ist es gerecht, wenn sein Mitgefühl ihn um den eigenen Vorteil bringt? Blut und Tränen fliessen sowieso. Die tödlichste Waffe des Nordens ist die Gleichgültigkeit. Es hat eine Weile gedauert, bis er das erkannte. Hier sterben die Menschen leise, meist ohne Blut zu vergiessen. Sie sterben an Einsamkeit. So gesehen passt der Tod von Jean-Paul nicht hierher.
„Ich weiss nicht, wer es hätte tun können.“ Abdullahi zuckt mit den Schultern. „Eigentlich alle, oder?“
„Ist Ihnen am Montag irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragt sie.
Abdullahi wird schwindlig; er versucht, sich zu erinnern: Am Montag hatte es einen Streit gegeben in der Küche. Und diesmal war es anders. Jean-Paul hatte schon früh getrunken. Üblicherweise fing er erst um elf Uhr mit dem Weisswein an, aber am Montag stand die Flasche schon um neun Uhr auf der Theke. Er versuchte, seine Arbeit so unauffällig wie möglich zu verrichten. Als Jean-Paul um zehn Uhr fragte, wo denn die geschälten Kartoffeln seien, sagte keiner etwas. Omar, der neue Küchenjunge, antwortete schliesslich, dass sie sich im Kühler befänden, jedoch ungeschält seien. Er habe nicht gewusst, dass man Kartoffeln hier schälen müsse. Daraufhin explodierte Jean-Paul, warf das Weinglas an die Wand und schrie, warum er mit wilden Kaffern aus dem Busch zusammenarbeiten müsse. Ob Omar eigentlich noch bei Trost sei, und dass er etwas erleben könne, wenn er nicht sofort seinen Arsch zum Kühlschrank bewegte und sich an die Arbeit machte. Omar sagte nichts, ging zum Kühlschrank und wollte ihn gerade öffnen, als Jean-Paul hinter der Theke hervorkam und anfing, unkontrolliert auf Omar einzutreten. Währenddessen schimpfte er wie ein Rohrspatz. Omar fiel zu Boden. Abdullahi spürte einen Schmerz im rechten Daumen. Er hatte sich geschnitten. Omar schrie jetzt und begann, sich zu wehren. Die Kartoffeln kippten aus dem Schrank und verteilten sich auf den Boden. Schliesslich gelang es Roger, dem Lehrling, Jean-Paul wegzuzerren und zu beruhigen. Omar blutete, bückte sich und begann, die Kartoffeln einzusammeln. Später sagte er zu Abdullahi, er sei neu hier und habe zu Hause eine Familie, der wolle er Geld senden.
„Es gab Streit am Montag. Zum Glück ist Roger eingeschritten und hat Jean-Paul überwältigt. Er ist wieder einmal ausgeflippt. Wir anderen, wir haben einfach weitergearbeitet. Mit Jean-Paul sollte man sich nicht anlegen“, Abdullahi blickt in die blauen Augen. Zum ersten Mal leuchtet dort so etwas wie Verständnis auf. Er weiss nicht, wie er ihr erklären könnte, was wirklich geschehen ist. Er hat keine Worte, um zu erzählen, was er fühlte, als Omar am Boden aufschlug. Es war, als fiele die Mauer, die er so mühselig aufgebaut hatte, in sich zusammen. Omar, das hätte er sein können. Und ihm wurde heiss, er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt wütend gewesen war. Jean-Paul stand gross und mächtig über ihm. Unverrückbar, unbesiegbar. Langsam setzte sich seine Ohnmacht in Bewegung, die Wut wurde fassbar. Selbst als sich alle wieder beruhigt hatten, genügte es, dass er den Finger dort antippte, wo er sich geschnitten hatte, und die Ungerechtigkeit durchströmte ihn wieder. Es war ganz natürlich, dass er am Abend nicht mit den anderen Feierabend machte, dass er in der Küche blieb. Er wolle noch die Maschinen reinigen, sagte er zum Abschied. Dann wartete er, bis Jean-Paul hinunter kam, um abzuschliessen. Er stach zu und es war, als tötete er seine Vergangenheit. Einen Augenblick lang dachte er, er könne dem entkommen, was er erlebt hatte, seinen Alltag auslöschen und eintauschen. Danach reinigte er das Messer, schloss die Tür und ging nachhause.
„Die anderen sagen, Sie seien als Letzter geblieben am Montagabend. Sie hätten Jean-Paul töten können?“
Er will es erzählen. Der blonden Frau ins schöne Gesicht schreien, was ihn bewegt, aber es erscheint ihm sinnlos. Es berührt ihn nicht mehr. Die Mauer ist wieder da. Er schaut direkt in die blauen Augen und hört sich sagen: „Ich hätte ihn schon vorher töten können. Weshalb sollte ich Jean-Paul töten wegen eines Streits, der mich nicht betrifft? Das wäre ja so, als tötete ich mich selbst, meine Chancen und meine Freiheit in diesem Land.“