Die Frau
Die Tage waren düster, die Nächte waren finster. Es wehte unaufhörlich ein eisiger Wind. Nur ein leichtes Pfeifen war zu hören, sonst war es still. Keine Menschen, die sich unterhielten, keine Hunde, die bellten. Die Bäume trugen keine Blätter, keine Nadeln. Die Wiesen waren karg. Statt saftigem Grün gab es nur grauen, gefrorenen Schlamm. Alles Leben war ausgelöscht. Alles war tot. Die einzige Schotterstraße, die es gab, trug frische, tiefe Fußstapfen. Ein Mensch war hier gewesen. Die Spur führte tief in den nackten Wald hinein. Ringsum war alles dunkel. Nur ein kleines Licht schien in der Ferne. Es leuchtete weiß, sah aus wie ein Stern. Es kam aus einer kleinen Holzhütte mitten im Wald. Ein Mann lebte dort. Er war allein. Er hatte trockene Zweige in seiner Hütte angezündet. In der unendlichen Finsternis schien das kleine Feuer so hell wie der Nordstern. Der Mann kauerte beim Feuer in der Ecke seiner Hütte und kaute an Rinde. Es gab nichts anderes zu essen. Kein wildgewachsenes Kraut, keine Tiere. Nur trockenes Holz. Der Mann war mager. Seine Knochen kamen zum Vorschein. Er spuckte die Rinde aus, löschte das Feuer und legte sich auf den kalten und harten Holzboden. Er versuchte, zu schlafen, schaffte es aber nicht. Zu hungrig war er.
Die Stunden vergingen, der Morgen rückte heran. Es war nur ein wenig heller geworden. Der Mann richtete sich auf und ging ins Freie. Er urinierte gegen einen umgeknickten Baum. Sein Urin war dunkelgelb, fast orange. Es kamen nur wenige Tropfen heraus. Wasser gab es kaum. Hin und wieder regnete es. Dann stand der Mann im Wald und fing mit weit aufgerissenem Mund Regentropfen auf. Bei Regen legte er seinen Wollumhang auf die Straße. Den Umhang drückte er in seiner Hütte aus. Das Wasser sammelte er in einem rostigen Kübel. Es reichte für höchstens zwei Tage. Heute regnete es nicht. Der Mann warf seinen Umhang über, zog seine zerfetzten Stiefel an und ging die Straße entlang. Jeden Tag ging er denselben Weg. Jeden Tag hielt er nach Essbarem Ausschau. Jeden Tag kehrte er mit leeren Händen in seine Hütte zurück. Hin und wieder hörte er ein leises Knacken im Wald. Dann blieb er stehen und sah sich leise nach Rehen oder Hasen um. Er entdeckte aber nie etwas. Wie er die Tiere erlegen sollte, wusste der Mann ohnehin nicht. Er hatte weder ein Gewehr noch ein Messer.
Heute vernahm er wieder ein Knacken. Er blieb stehen und sah sich um. Das Knacken wiederholte sich und schien immer lauter zu werden. Der Mann sah aber nichts. Nur karge Landschaft. Sein Blick wandte sich einem dicken Baumstumpf zu. Das Knacken kommt ganz sicher von dort, dachte er sich. Das Pfeifen des Windes erschwerte es ihm, genau hinzuhören. Doch er war sich sicher, da war etwas. Vielleicht ein verletzter Hirsch? Der Mann zog seine Schuhe aus und ließ sie am Straßenrand liegen. Mit kleinen Schritten näherte er sich dem Baumstumpf, von dem er nur die Umrisse sah. Zu dunkel war es. Je weiter er sich dem Stumpf näherte, umso lauter wurden die Geräusche. Er war sich sicher, dort liegt ein verletztes Tier. Er musste es nur fangen und ihm das Genick brechen. Dann würde es ein Festmahl geben. Er näherte sich weiter dem Baumstumpf. Doch die Geräusche verstummten plötzlich. Er bemühte sich, keinen Mucks zu machen. Beim Baumstumpf angekommen, lehnte er sich vorsichtig dagegen. Vielleicht ist es am besten, los zu laufen und das Tier zu überraschen, dachte er sich. Er zählte bis drei und rannte los. Er umkreiste den Baumstumpf und warf sich auf das Tier und packte es. Es fühlte sich seltsam an. Es hatte kein Fell. Es war glatt und hatte nur zwei Beine. Ein Mensch? Das konnte nicht sein. Seit Ewigkeiten hatte er keinen Artgenossen mehr gesehen. Bist du ein Mensch, fragte er. Eine Antwort bekam er nicht. Das Geschöpf regte sich nicht. Der Mann tastete es ab. Er spürte einen Kopf mit langem Haar. Er fuhr mit seinen Fingern über die Augen, die Nase und den Mund. Seine Hände glitten den Körper weiter hinab. Er fühlte Brüste. Definitiv ein Mensch, eine Frau, dachte er sich. Sie regte sich nicht, doch der Körper war noch warm. Der Mann legte seine Handfläche auf die Brust der Frau. Das Herz pochte. Er packte die Frau und warf sie über seine Schultern. Dann ging er zu seiner Hütte zurück.
Der Mann streifte seinen Wollmantel ab und legte ihn auf den Holzboden. Er packte die Frau und legte sie auf den Mantel. In der Hütte war es kalt. Er nahm ein paar Äste, die er im Wald gesammelt hatte und legte sie auf einen Haufen. Mit zwei dicken Holzstücken versuchte er, Feuer zu machen. Eines der Holzstücke war eingekerbt. Mit dem zweiten fuhr er die Kerbe mit raschen Bewegungen entlang. Es dauerte lang, bis das Holz anfing, zu rauchen. Die Hände des Mannes waren bereits wund. Vom rechten Daumen hingen Hautfetzen herab, an den Zeigefingern hatte er riesige und eitrige Blasen. Er rieb dennoch weiter. Der Schmerz machte ihm nichts aus, er hatte sich längst daran gewöhnt. Als das Holz endlich zu glühen begann, legte er trockenes Gestrüpp auf den Haufen Äste. Es diente als Zunder. Mit der Glut entfachte er den Zunder und wenig später brannten die Äste. Der Mann wandte sich der Frau zu und zog sie samt Wollmantel in die Nähe des Feuers. Sie braucht jetzt Wärme, dachte sich der Mann. Dank des Feuers konnte er die Frau besser sehen. Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Ihre Haare waren blond und verfilzt. Sie waren lang, reichten fast bis zum Bauchnabel hinab. Ihre Augen waren geschlossen. Er öffnete sie und sah ihre braunen Augen. Ihr Mund war leicht geöffnet. Immer wieder hielt der Mann seine Hand vor den Mund der Frau, um ihren Atem zu fühlen. Sie trug eine mit verkrustetem Schlamm übersäte Jacke. Die Jacke war löchrig und dünn. Auch ihre Hose war verdreckt. Der Mann beugte sich über die Frau. Was soll ich nur mit ihr machen, fragte er sich. Wenn er sie alleine ließe, würde sie erfrieren.
Solange sie schläft, kann sie nichts essen, dachte sich der Mann. Er musste sie irgendwie aufwecken. Er berührte ihre Schultern und fing an, sie sanft zu rütteln. Aufwachen! Er lehnte sich zu ihrem linken Ohr und sagte es immer wieder. Doch sie reagierte nicht. Der Mann blickte der Frau in die geschlossenen Augen. Er ergriff die Enden des Wollmantels, auf dem sie lag und deckte sie damit zu. Zumindest frieren sollte sie nicht. Das Feuer war mittlerweile zu einem mickrigen Gluthaufen verkommen. Der Mann richtete sich auf und trat vor die Tür. Er atmete tief ein und begann, ziellos durch die Finsternis zu gehen. Seine Gedanken waren bei ihr. Wer war sie? Woher kommt sie? Wird sie aufwachen? Vielleicht würden sie sich gemeinsam durchkämpfen. Vielleicht würden sie sich sogar verlieben. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich. Bis er plötzlich merkte, dass er sich weit von seiner Hütte entfernt hatte. Er blieb stehen und drehte sich um. Er sah seine Hütte nicht. Ich muss zurück, mich um die Frau kümmern, dachte er sich. Fast blind irrte er im Wald herum, auf der Suche nach seiner Hütte. Doch er verlief sich. Zu dunkel war es. Er musste warten, bis es Tag wurde und sich das Schwarz der Nacht in ein dunkles Grau verwandelte.
Stunden vergingen, die Sicht wurde allmählich besser. Er brach zur Hütte auf. Was, wenn sie tot ist, fragte er sich. Als er zur Hütte zurückgefunden hatte, stieß er die Eingangstüre mit einem wuchtigen Fußtritt auf. Er blickte sich um und sah die Frau am Boden liegen, eingehüllt in seinen Wollmantel. Der Mann kniete sich neben sie hin. Er legte seinen Handrücken über ihren Mund. Er spürte warmen Atem. Sie lebte. Er seufzte. Dann legte er sich zu ihr. Er umarmte sie mit seinem linken Arm. Mit seiner rechten Hand strich er sanft über ihre Stirn. Es war, als würde er sie schon seit Ewigkeiten kennen. Sie war ihm vertraut. Er musste sie beschützen.
3
Der Mann überlegte, wie er die Frau aus dem Schlaf reißen konnte. Sie muss trinken, dachte er sich, sonst stirbt sie. Sie durfte nicht sterben. Er brauchte sie. Draußen fing es an, zu regnen. Der Mann packte die Frau und trug sie nach draußen. Er stellte sich auf die Schotterstraße und ließ Regen auf sie herab prasseln. Auch er hatte Durst. Doch er wollte ihr den Wollmantel nicht wegnehmen, den er immer in den Regen legte, damit er sich mit Wasser vollsaugte. Er öffnete seinen Mund und streckte ihn dem Himmel entgegen. Der Regen stillte vorerst seinen Durst. Der Mann hielt die Frau in seinen Armen. Ihre Haare hingen schlaff hinunter. Der Regen rann durch ihre Finger, tropfte in ihren Mund und die Kehle hinab. Der Mann brachte die Frau wieder in die Hütte zurück. Er zog ihr die durchnässte Kleidung aus und seine an. Sie wird aufwachen, dachte er sich. Sie musste aufwachen. Er brauchte sie.
Wir könnten gemeinsam nach Nahrung suchen. Wir könnten gemeinsam Feuer machen. Wir könnten gemeinsam durch den Wald gehen. Oder wir könnten uns einfach halten. Der Mann sprach mit der Frau, wenn er sich zu ihr legte. Er wollte nicht, dass sie alleine ist. Sie brauchte Gesellschaft, Unterhaltung. Sie verdiente es. Sie war seine Frau. Sie sollte sich wohl fühlen. Geliebt. Er fühlte alle fünf Minuten ihren Atmen und ihren Herzschlag. Die Frau wurde immer dünner. Sie muss essen. Doch wie kann sie essen, wenn sie schläft, fragte er sich. Wenn sie wach wäre, würde er gut für sie sorgen. Er würde für sie auf die Jagd gehen und bestimmt einen Rehbock finden und ihn erlegen. Sie hatte ein Festmahl verdient. Sie war seine Frau, er war bei ihr. Es war seine Pflicht, sich um sie zu kümmern.
Der Mann hatte Hunger. Er hatte Durst. Seit zwei Tagen hatte es nicht mehr geregnet. Seit zwei Tagen hatte er nicht mehr getrunken. Seine Kräfte schwanden. Er schaffte es nicht mehr, Rinde oder tote Insekten zu sammeln. Er schaffte es aber noch, sich um seine Frau zu kümmern. Den ganzen Tag lang saß er bei ihr, lag er bei ihr. Er sprach mit ihr, streichelte sie, umarmte sie und hielt ihre Hand. Das bisschen Wasser, das er gesammelt hatte, tröpfelte er vorsichtig seiner Frau in die Kehle. Die Haut des Mannes war blass geworden. Seine Haare wurden dünn, seine Augen immer schwerer. Beim Versuch, Feuer zu machen, spaltete sich das Holzstück. Es durchbohrte die rechte Hand des Mannes. Die Wunde blutete stark. Er konnte seine Hand kaum noch bewegen. Schmerzen spürte er keine mehr, zu erschöpft war er. Er musste sich aber um seine Frau kümmern, sonst würde sie sterben. Er legte sich wieder zu ihr. Mit der linken Hand hielt er ihre rechte. Er drückte fest zu. Er blickte nach oben und sagte zu ihr Wach auf! Du musst leben. Das Leben ist wertvoll. Wach auf! Dann schlief der Mann ein und wachte nie wieder auf. Seine Hand ließ von ihrer ab. Ihre aber nicht von seiner. Ihre Augen öffneten sich. Sie drehte ihren Kopf nach rechts und blickte dem Mann in die geschossenen Augen. Wach auf, sagte sie zu ihm. Ich bin jetzt wach.