- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Die Frau vom Fluss
Das Wasser kam ruhig, fast gemächlich daher, wie ein alter Bekannter, den man unvermutet trifft und nach dem man sich verwundert umdreht, weil man nicht damit gerechnet hat, ihn an einem ungewohnten Ort zu sehen. Es kam auf die Ortschaft zu und hielt sich nicht an Abgrenzungen, an Straßenmarkierungen, an Wegweiser. Auf breiter Front kroch es der Siedlung entgegen, füllte Keller, flutete Hausgänge, hob mit sanfter Gewalt Heizölkessel in die Höhe, dass die Rohrleitungen abrissen und sich der giftige Inhalt in die schlammige Flut mischte. Unter verschlossenen Türen hindurch suchte es sich in leisen Wirbeln seinen Weg, um dann unnachgiebig Zimmer für Zimmer zu überschwemmen und Böden, Teppiche, Schränke, Klaviere und Bücher zu durchtränken. Nach drei Tagen zog es sich wie ein erschöpftes, weidwund geschossenes Tier, das mit seiner Kralle durch die Landschaft gefahren war, in das Flussbett zurück und gab den Blick frei auf ein heilloses Chaos aus Gerümpel, das auf den Straßen und Wiesen, die das Dorf umgaben, verteilt lag. In schlierigen Pfützen spiegelte sich die Sonne in schillernden Regenbogenfarben, und mit den sommerlichen Temperaturen stieg allmählich ein stinkender Dampf aus Öl und Fäulnis zwischen den Häusern auf. Hinter der letzten Hofstelle der Ansiedlung, die an die Dammwiesen und Auwälder grenzte, fand man die Leiche einer Frau mit dem Gesicht im Schlamm liegend, die Hände in den Boden gekrallt, als hätte sie sich eingraben wollen. Die Mannschaft der Spurensicherung war vor Ort und untersuchte die aufgeweichte Erde. Der Kriminalbeamte warf einen routinierten Blick auf den umgedrehten Leichnam und meinte trocken: “Ich denke, dass wir Fremdeinwirkung ausschließen können. Das scheint eine klare Sache zu sein.“
Gerne hätte sie den Geburtstag unter den Obstbäumen hinter dem Haus gefeiert, den Blick auf den nahen Damm, die Wiesen und das ferne Gebirge. Aber es hatte zwei Wochen ununterbrochen geregnet. Kleine Bäche und Rinnsale, die in den Fluss mündeten, schwollen zu beträchtlichen Strömen an und ließen den Pegel bedrohlich bis an die Kante des Damms steigen. „Schön, dass wenigstens der Herr Bürgermeister kommt, in diesen gefährlichen Zeiten“, begrüßte sie einen der wenigen Gäste, obwohl sie im Grunde froh war, nicht mehr Leute aus dem Dorf bewirten zu müssen.
„Gefährlich könnte es werden“, antwortete er, reckte dabei den Zeigefinger in die Höhe und folgte ihr durch den Hausgang in die Küche, wo ihre Tochter Angela den Kaffeetisch gedeckt hatte. „Die Deiche sind aufgeweicht, das weißt du, die Wache geht jetzt Tag und Nacht. Wenn irgendwo ein Riss, nur ein ganz kleiner entdeckt wird, ist sofort Evakuierung. Sofort Alarm. Danke dir, Angela. Schön, dass du wenigstens da bist.“ Er hielt ihr die Kaffeetasse auf dem Unterteller entgegen, der in seiner zittrigen Hand klapperte.
„Wenn Mama siebzig wird, wie kann ich da nicht da sein?“, antwortete sie. Mit kurzen Schlucken schlürfte er an der Tasse und sagte: „Natürlich, entschuldige. Ich bin eben besorgt, besorgt, um das Dorf, den Ort, deine Mutter.“
„Um mich mach dir mal keine Gedanken, Bürgermeister“, warf sie jetzt ein. „Es wird nichts sein. Ich kenne doch den Fluss, es wird nichts geschehen“. Sie strich die Tischdecke glatt und richtete den Blick aus dem Fenster auf den Damm. „Wir sitzen hier unter dem Wasserspiegel, und das Grundwasser steht schon zwischen den Obstbäumen. Aber es wird gut, du wirst sehen.“
„Ja, du und dein Fluss“, winkte er ab. Ja, sie und ihr Fluss. Jeder wusste doch, dachte er, dass die Zeichen am Ufer von ihr stammten: Zweige, die in Kreisen gelegt waren, Steinpyramiden, Muscheln, in den Sand zu geheimnisvollen Mustern gesteckt. Und jeder wusste, dass sie oft vor Sonnenaufgang barfuß durch das taunasse Gras am Wasser entlangging, manchmal nur in ein Nachthemd gekleidet, und die morgendlichen Fischer aus dem Dorf mit ihrer geisterhaften Erscheinung erschreckte. ‚Frau vom Fluss‘ nannte man sie mit einer Mischung aus Respekt und Misstrauen.
In Gedanken griff der Bürgermeister nach der halbvollen Tasse und stieß sie um. Die Tischdecke färbte sich dunkelbraun und ein Rinnsal von Kaffee tropfte auf seine Hose. „Herrgott“, rief er, „wenn das mal kein Omen ist!“ Angela kam gleich herbei, tupfte ihn mit dem Geschirrtuch ab und ihre Mutter klopfte ihm beruhigend auf den Arm: „Nur nicht nervös werden, Bürgermeister. Kaffee ist Kaffee und Wasser ist Wasser.“
„Wie du meinst. Ich muss jetzt sowieso weiter“, sagte er hastig, stand auf und ging zur Tür. „Vielen Dank für den Kaffee und hoffen wir das Beste“, rief er ihr noch zu, hielt dabei die geballten Fäuste hoch und drückte die Daumen zusammen. „Und noch schöne Grüße von der Leni soll ich sagen.“
„Von der Leni“, rief sie lächelnd zurück, aber das hörte er schon nicht mehr. Versonnen blieb sie in der Haustür stehen.
So lange war das her. Ein Kind war die Leni damals noch. Und sie selbst war dreißig Jahre alt, eine Geächtete im Dorf, bei der die Bewohner die Straßenseite wechselten und den Kopf wegdrehten, wenn sie ihr begegneten. Vor der sie gerade nicht ausspuckten. Vor ihr, bei der alle Männer abblitzten, und die sich dann ein italienisches Bankert anhängen ließ. Beim Tanzen zeigte sie doch den Burschen vom Dorf die kalte Schulter und dann fällt sie auf den Itaker herein, der jedem Mädchen schöne Augen machte, dass man im ganzen Dorf wusste, worauf er aus war, auf ein schnelles Abenteuer und dann schnell aus dem Staub. Das kennt man doch. Das weiß man doch. Das riecht man doch gegen den Wind, was so einer will. Und von dem, ja, von dem lässt sie sich ein Kind machen. Recht geschieht es ihr, sagten die Leute damals, als hätten wir im Dorf nicht anständige Burschen. Zu schön ist sie sich, zu besonders. Und jetzt sitzt sie da mit ihrem Bankert, dem italienischen.
Und dann kam der Sommertag, an dem sie mit der kleinen Angela am Strand spazieren ging und einen Schrei aus der Flussmitte hörte. Und da lässt sie die Angela einfach stehen und springt, ohne zu überlegen in den Fluss und schwimmt auf das Mädchen zu, auf die Leni, die in einem Strudel zu ertrinken droht. Sie packt die Leni und schreit sie an: „Halt dich an mir fest. Und wenn ich sag: Luft anhalten, dann hältst du sie an.“ Und die Leni schlägt um sich und plärrt. Und sie flüstert ihr ganz ruhig ins Ohr: „Halt still, wehr dich nicht. Wir lassen uns jetzt runterziehen auf den Grund. Und jetzt halt die Luft an.“
Und dann verschwinden beide aus Angelas Augen, die vom Ufer aus zusieht, gemeinsam mit den Leuten, die herbeigerannt kommen. Vier, fünfmal drehen sie sich kopfüber im Strudel, werden durcheinandergewirbelt wie in einem Tornado, einem Tornado aus Wasser und dann spürt sie den Grund und fasst in den Sand. Der Wasserkreisel ist jetzt ganz klein und sie kann mit den Füßen festen Halt finden und stößt sich mit aller Macht seitlich vom Strudel weg. Sie taucht mit der Leni im Arm aus dem Wasser auf, ringt nach Atem, schreit und lässt sich hinuntertreiben zu der Sandbank, wo das Wasser ganz flach ist, und trägt die bewusstlose Leni auf beiden Händen durch die Leute hindurch, die zur Sandbank gelaufen sind und eine schweigende Gasse bilden, weil sie gar nicht fassen können, was da gerade passiert. „Ja, helft ihr doch!“, schreit die Bruckbäuerin in die Stille hinein. Als wären sie aus der Winterstarre aufgetaut, stürzen jetzt alle auf die beiden zu und wärmen sie.
Seitdem war nie mehr von einem Bankert die Rede, niemand traute sich jemals mehr, sie schief anzusehen. Und bis auf ihre alten Tage nickte sie, wenn sie die Bruckbäuerin in der Kirche oder im Laden sah, anerkennend mit dem Kopf, weil sie ihren Ruf nie vergaß, ihr ‚Ja, helft ihr doch‘, das die Kluft zwischen ihr und den Dorfleuten verringert hatte. Verringert, aber keineswegs getilgt. Ihre Nähe suchte sie von da an nicht, aber mit Lenis Rettung war auch ihre Angst verschwunden. Sie fürchtete sich vor nichts mehr und schon gar nicht vor dem Wasser, vor dem Fluss, den sie ohnehin schon immer als ihren Verbündeten empfand.
So stand sie also in der Haustür, dachte an die Leni und schaute dem Bürgermeister nach, wie er hastig in seinen Wagen stieg und mit durchdrehenden Reifen aus dem geschotterten Hof hinausfuhr, dass die Steine flogen. Sie schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging langsam in die Küche, wo Angela mit dem Geschirr beschäftigt war und Ordnung machte. „Mama, ich bin dann fertig hier. Ich glaub, ich fahr jetzt dann allmählich. Meine Sachen hab ich schon gepackt.“ Sie zeigte auf die Reisetasche, die im Flur stand.
„Ja, ich dank dir recht schön für Deine Hilfe. Es war ja zum Glück nicht viel Aufwand.“ Sie strich ihr über die Wange und Angela legte die Hand auf die ihrige und sagte: „Hat dir aber eh gepasst, oder? Bist ja doch nie eine von denen geworden.“ Mit dem Kopf zeigte sie in Richtung Dorf und fügte dann noch hinzu: „Hättest vielleicht doch mit mir in die Stadt ziehen sollen. Aber ich weiß schon, was dich hier gehalten hat.“
„Ja, das weißt du doch“, entgegnete sie, nahm die Hand ihrer Tochter zwischen ihre Hände und sagte: „Ist doch noch alles gut geworden, alles gut. Und sag deinem Mann einen schönen Gruß. Ist er schon ein Guter?“
„Der Beste, den man sich denken kann, Mama. Pass auf dich auf.“
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und ging durch die noch offen stehende Tür, die ebenerdig auf den Hof hinausführte, zu ihrem Wagen. Im selben Moment läutete das Telefon in der Küche. Sie sah ihre Mutter noch kurz winken und dann schnell im Haus verschwinden, startete den Motor und fuhr davon.
Sie nahm den Hörer ab. Es war der Bürgermeister.
„Jetzt ist es so weit. Ein Riss im Damm, oberhalb der Ortschaft. Alles wird evakuiert, in einer Stunde muss das Dorf leer sein.“
„Ein Riss muss nichts heißen, Bürgermeister. Es hat aufgehört zu regnen und der Pegel fällt bald. Da wird der Druck auf den Damm weniger.“
„Da hilft dir jetzt deine Flussweisheit gar nichts mehr. Ein Riss, der Damm bricht wahrscheinlich, da ist jetzt Gefahr im Verzug, verstehst du. Du bist die letzte, die ich anrufe. Pack das Wichtigste zusammen. In einer Stunde kontrolliert die Polizei, ob alle weg sind.“
Grußlos beendete er seinen Anruf.
Sie stand kurz da, schaute aus dem Fenster und ging langsam aus dem Haus. Holte Bretter aus der Scheune, stellte sie gegen die Terrassentür, die von der Küche aus zum Obstgarten hinausging. Schichtete sie übereinander, riss Plastikplanen entzwei und stopfte sie in die Lücken. In Gummistiefeln watete sie zwischen den Apfelbäumen herum, die durch das heraufdrängende Grundwasser in großen Pfützen standen. Mit der Schaufel in der Hand. Stach hier und dort in den Boden, als könnte sie mit einem notdürftigen Graben einen Ablauf schaffen. Aber der Boden war viel zu schwer und dicke Schlammklumpen blieben an der Schaufel hängen. Schließlich mit der Harke. Schlug in den weichen Boden, schwer keuchend, weil sie die Spitze bis zum Schaft im Matsch versenkte und nur mit größter Anstrengung herausziehen konnte. Versuchte mit dem Fuß die Harke auszuhebeln aus dem Erdreich. Da zerbrach der Stiel.
„Ach, das ist doch alles ein Schmarrn“, sagte sie, warf das abgebrochene Holz in eine Pfütze und ging zurück zum Haus. Sie zog die Stiefel aus, an denen zentimeterdick das Erdreich klebte, betrat den Flur und setzte sich an den Küchentisch. „Bürgermeister, jetzt hast du mich ganz schön erschreckt“, sagte sie und lachte. Ihre Gesichtszüge lösten sich von der Anstrengung und es war für sie jetzt völlig klar, dass sie im Haus bleiben würde. Keine Evakuierung. Nicht mit ihr.
In der Zwischenzeit, während sie ganz ruhig in der Küche saß und durch die offene Haustür in das Dorf, das friedlich im Dämmerlicht dalag, hinausschaute, klingelten die Beamten des Bundesgrenzschutz an jedem Haus, um die Bewohner zum Verlassen des Ortes aufzufordern. Mit ernsten Gesichtern erklärten sie die Lage und auf besorgte Fragen antworteten sie ruhig und besonnen. Die Leute packten das Nötigste zusammen und zogen wie Flüchtlinge mit Bündeln unter dem Arm vorläufig zu Verwandten in der Umgebung, oder in die Notunterkünfte, die kurzfristig bereitgestellt worden waren.
Schon von weitem sah sie das Blaulicht der Polizisten leuchten und wartete ab, bis sie der Straße, die auf ihr Anwesen einbog, nahe kamen. Licht und Bewegungsmelder hatte sie vorher abgeschaltet und war hinausgegangen. Dort kauerte sie sich an das Mauereck und spähte in den dunklen Phasen, die das blinkende Blaulicht bot, in den Hof. Die Polizisten näherten sich und läuteten an der Haustür, klopften, riefen ihren Namen. Gingen zurück, sahen die Fenster hoch und klingelten erneut. Sie aber blieb versteckt, schnell atmend, den Kopf an die Mauer gepresst, den Griff der Schaufel mit ihren schwieligen Händen krampfhaft umklammert. Nein, sie würde nicht gehen.
Die Nacht war hereingebrochen und das Dorf menschenleer. Sie stand auf dem Balkon, der vom Dorf abgewandt war und von dem aus sie die Dammwiesen im Blick hatte und den hochstehenden Fluss, der silbrig im Licht des Halbmonds dahinströmte. Zwischen den Bäumen des Auwaldes blitzten die Lichter der Dammwächter auf, die jetzt dort oben ihr Leben riskierten und mit Taschenlampen das Erdreich untersuchten.
Wie Irrlichter kamen sie ihr vor, wie Geisterlichter der Frauen, die in das Wasser gegangen waren. Die sich vor Zeiten in den Fluss gelegt hatten samt ihrer Ungeborenen. Ihre Seelen, so sagte man früher, leuchteten in der Nacht auf dem Damm. Und als solche wäre sie selbst auch fast geendet. Ja, auch sie war so dagestanden, mit den Knöcheln schon im Wasser mit ihrem unübersehbaren Bauch. Wollte sich einreihen in die Prozession der Verzweifelten, die man aufgedunsen aus den Gittern des stromabwärts liegenden Stauwerks fischte. Stand da an dem Platz, an dem sie ihm so nahe war, dem Angelo, wie sie niemals jemand mehr nahe war. Wo sie ihre Hände in den feinen Strandkies grub vor Glückseligkeit, einer Glückseligkeit, die sie weder vorher, noch nachher je mehr gespürt hatte.
Diese eine Nacht, das wurde ihr klar, war es ja auch gewesen, die sie an diesem Ort hielt. „Ritorno“, flüsterte er ihr ins Ohr. Und so wartete sie auf sein ‚ritorno‘ und entschied sich für das Leben. Sie stieg heraus aus dem Fluss, formte die Hände zu einer hohlen Schüssel und schöpfte Wasser, mit dem sie ihren Kopf, die Füße und ihren Bauch übergoss wie die Pilger am Fluss Ganges. Dann ging sie zurück zum Haus, um die Irrlichter für immer hinter sich zu lassen.
Und war geblieben, so wie sie auch jetzt nicht wegkonnte, während alle Bewohner aus ihren Häusern geflüchtet waren. Als einsame Frau vom Fluss stand sie auf dem Balkon und schaute auf die hohen Strandweiden, von denen ihr gerade das Geschrei aufgeschreckter Krähen, die wie schwarze Schatten in den Mondhimmel flatterten, entgegenhallte.
Flussabwärts hatte der Regen den Damm bis in seinen Kern hinein aufgeweicht und weil sich der Fluss dort in einer Linkskurve in die Landschaft bog, lehnte er sich hier schon immer stärker an den steilen Hang, der dort besonders befestigt war. Wäre man auf der Dammkrone gestanden, hätte man spüren können, wie das Wasser hier wuchtiger gegen den Rand drückte, wie ein Rammbock, der unbarmherzig gegen eine Tür schlägt, die am Ende krachend zu Bruch geht. Aber hier hätte es nicht gekracht. Geschnalzt vielleicht. Feucht geschnalzt, als ein Teil des Damms sich wie ein herausgebrochenes Kuchenstück links und rechts ablöste und im Ganzen nach hinten geschoben wurde. Aber es war niemand da und so hörte niemand, wie es klang, und es sah niemand, wie das Wasser zwischen den klaffenden Lücken hindurchgriff, um danach das herausgetrennte Teil mit kräftigen Armen zu umschließen und es dann in einem riesigen Schwall, der sich auf das freie Feld ergoss, aufzulösen. Nach beiden Seiten verteilte sich sofort eine Brühe aus Flusswasser und Schlamm auf den Feldern und durch den erheblichen Druck kroch diese trübe Brühe entgegengesetzt zur Fließrichtung des Stroms landaufwärts wie ein Schwarm aus dunklem Ungeziefer, der langsam aber unaufhaltsam der Siedlung näherkam.
Vom Balkon aus hielt sie es zuerst für eine Spiegelung auf dem Feld, für eine Reflektion des Mondscheins in den großen Pfützen, die das Grundwasser in den Senken der Wiesen bildete. Aber die Spiegelfläche bewegte sich stetig voran, auf ihr Haus zu. Ihre Blicke wechselten zwischen dem Fluss, der entlang der Dammkante nach unten strömte und der sich nähernden Flutwelle. Sie stieß einen Schrei aus, dessen Echo aus dem Auenwald zurückschlug, und die Lichter der Taschenlampen kreuzten aufgeregt zwischen den Ästen hin und her, fuhren den Damm entlang, trafen schließlich auf die sich ausbreitende Wasserfläche, um dann in einem noch wilderen Tanz dem Dorf entgegen zu blinken. Wenig später durchdrang Sirenengeheul die Nacht. Sie stürzte die Treppe hinunter, aus der Haustüre hinaus, ergriff die Schaufel, die sie vorher an die Wand gelehnt hatte und stürmte dem Wasser entgegen, das jetzt im Begriff war, ihren Obstgarten zu fluten. Mit der Schaufel über dem Kopf rannte sie darauf zu und drosch mit aller Kraft mit der flachen Seite auf das Wasser ein, dass es ihr ins Gesicht spritzte. „Das ist nicht dein Platz“, brüllte sie ihm entgegen, „Das ist nicht dein Platz, geh zurück“, und stürzte sich in die Welle, die ihr bis zu den Knien reichte, warf die Schaufel in die schwarze Flut und hämmerte mit den Fäusten darauf ein, als könnte sie ihrem Fluss damit irgendetwas anhaben. Als könnte sie ihm heimzahlen, was er ihr mit seinem Verrat, ja, so empfand sie es, antat. Dass er sie so im Stich ließ.
Aber der Fluss gehorchte nur den Gesetzen von Kraft und Gegenkraft und eine davon hatte den Kampf verloren. Eine simple Rechnung, die einfach nachzuvollziehen war. Wasser gegen Damm und das Wasser hatte gesiegt. Dem Fluss war es egal, ob an den Ufern Kreuze errichtet wurden, ihre Zeichen, die sie mit Sorgfalt am Ufer hinterließ, waren ihm egal, es war ihm auch egal, dass der Pfarrer noch am Vortag den Damm mit Weihwasser gesegnet hatte und ihn damit mit noch ein paar Tropfen mehr tränkte, als er es vertrug. Es war ihm auch vollkommen gleichgültig, ob Liebende, Trauernde oder aus irgendwelchen Gründen Verzweifelte an seinem Ufer Trost fanden, die Vergänglichkeit des Lebens in seinen Wellen im Blick. Hätte er sprechen können, hätte er das egal vielleicht in die Welt posaunt, den Überdruss vielleicht, von den Menschen als besonderes Zeichen ihres Lebens gedeutet zu werden. Ich bin ein Fluss, Wasser, das in einem Bett fließt. Und ihr seid kümmerliche Kreaturen, die sich ewig fragen, wieso und warum. Vielleicht hätte er das auch nicht gesagt, weil ohnehin alles so geschieht, wie es geschieht, ohne einen erkennbaren Sinn, ohne Plan, ohne, dass auch nur ein Funke vorhersehbar wäre.
Sie schlug weiter auf ihn ein, bis ihre Arme schwer wurden, beschimpfte ihn, verfluchte ihn, bis am Ende nur noch Schreie herauskamen, die in die Nacht hinausgellten. Das Wasser stieg immer weiter, und darum watete sie zurück in das Haus, in dem das Erdgeschoss, aus dem ihr schwimmender Hausrat entgegenkam, schon überflutet war. Sie stürzte die Treppe hinauf, nahm alles, was sie greifen konnte und warf es vom Balkon aus in die dunkle Welle, die unter ihr dem Dorf entgegenfloss. Stühle, Kleider, Schachteln mit alten Fotografien, Ordner mit Steuerabrechnungen, Tischdecken, das Bettzeug, alles warf sie ins Wasser, wie in das unersättliche Maul eines gefräßigen Fisches, der alles verschlingt, was ihm in den Weg kommt, der sich nach dem gewaltigen Mahl zur Seite dreht und ihr mit seinem glasigen Fischauge einen verächtlichen Blick zuwirft, bevor er in die finsteren Tiefen hinabtaucht mit ihren Dingen im Bauch, die sie nicht mehr haben wollte, die er ruhig versenken sollte im untersten Grund, um dort zu verrecken an Plastik, Papier und Druckerschwärze.
Zuletzt riss sie aus der unteren Schublade der Kommode eine Schachtel, griff hinein und nahm im Finstern tastend einen Brief heraus mit einer italienischen Briefmarke und dem Absender: Angelo Menotti, Via Alessandro de Santis 5, Trapani, Sicilia, Italia. Lange hatte sie den Brief nicht mehr in Händen gehalten. Sie zog ihn langsam aus dem Umschlag und strich sanft über das vergilbte Papier, auf das Wasser aus ihren Haaren tropfte. „Ritorno“, sagte sie leise zu sich, noch keuchend, aber ihr Atem beruhigte sich allmählich. „Ritorno presto a te.“ Mit dem Brief, der im leichten Wind, der gerade aufkam, in ihrer Hand flatterte, ging sie auf den Balkon hinaus. Unter ihr strömte das Wasser langsam gegen das Haus. Außer einem leisen Glucksen der Strudel, die sich an den Gebäudekanten bildeten, hörte man nichts. Die Sirenen waren verstummt. „Du warst doch alles, was ich hatte“, sagte sie in die Dunkelheit hinein und, immer noch mit dem Brief in der Hand, fasste sie das Geländer, stieg darüber und schaute eine Weile auf den weiten See, den man im Mondlicht erahnen konnte, und in dem ihr Haus wie eine Arche zu schwimmen schien. „Jetzt nimm mich endlich, gehören tu ich dir doch schon längst“, flüstert sie noch, löst die Hände vom Geländer und ließ sich fallen.