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Die Frau in schwarzen Tüchern
Betrunken eilte ich um ein oder zwei Uhr morgens durch die finsteren Straßen einer Großstadt.
Gelegentlich zogen Leute an mir vorbei. Wenn sie mir nah waren, so sah ich nach unten, meine Hände verkrampften sich in meiner Jackentasche, und erst als ich an ihnen vorbeging, blickte ich wieder auf.
Schnee fiel mir auf Haare und Ohren. Ich war zwar erst dreißig, meine Frau Lisa sollte jedoch morgen beerdigt werden.
Ich hatte Lisa betrogen. Mit einer Prostituierten. Ich hatte mich in die Prostituierte verliebt und ich hatte vor, mit ihr durchzubrennen. Als Lisa davon erfuhr, verlor sie den Verstand. Sie sprang von einer Brücke und starb.
Über einer Brücke blieb ich stehen und beobachtete den Fluss unter mir.
Das war doch alles ein purer Schwachsinn.
Ich war kurz davor, zu schreien, zu wüten. Vor dem Rande der Brücke stehend wusste ich nicht mehr, was ich machen sollte.
Ein süßer Rosenduft bohrte sich regelrecht in meine Nasenflügel und zwang mich, mich umzudrehen.
Ich sah eine Frau in pechschwarzen Tüchern gehüllt an mir vorbeiziehen. Sie hatte irgendetwas Anziehendes, Einladendes an sich. Vielleicht lag es an ihrem Gang, vielleicht an ihrem Duft. Ich entschied mich, sie anzusprechen.
„Hey!“, dröhnte ich, betrunken zu ihr rennend. Ich hatte ganz vergessen, dass ich sturzbetrunken war. Ich begann, mich zu schämen. Ich wurde rot und versuchte mich in meiner Jacke zu verstecken. Hände in der Jackentasche und Kopf in Schal.
Der Duft von Blumen drang mir wieder in die Nase. Die Frau blieb stehen, sagte aber nichts.
„Danke! Ich-ich-ich-ich muss dir… danken.“, stotterte ich schüchtern weiter.
Die Frau nickte mich an. In dem Moment war ich enttäuscht. Sie hatte nicht einmal mit mir geredet- nicht einmal unterhalten. Ein kalter Wind traf meine Stirn. Ich fror.
Unhöfliche Frau, ärgerte ich mich und wollte schon Richtung meiner Wohnung gehen, da packte sie mich am Arm und zog mich mit sich Richtung U-Bahn. Glücklich darüber, dass sie mich jetzt beachte, ging ich ihr bereitwillig nach. Dann ließe ich mich eben auf ein Abenteuer ein. Was hätte ich denn zu verlieren, ich war sowieso nicht müde. Abgesehen davon wollte ich in dem Moment auch nicht einsam in meiner Wohnung sein auf meinem leeren Doppelbett liegend.
Die Laterne
Die Frau in Tüchern ließ mich durch die halbe Stadt gehen. Endlich blieb sie stehen. Ich setzte mich auf dem Boden und verschnaufte. Die Frau schien nicht erschöpft zu sein, jedenfalls merkte ich ihr nichts an. Sie stand aufrecht neben mir, ihr Körper von mir abgewendet. Was hatte sie nur vor? Ich musste mir eingestehen, irgendwie war das Ganze witzig. Komische Frau! Ich blickte zu ihr hinauf.
Sie schien, drei Bordsteinschwalben an einer entfernten Straßenecke unter einer Laterne zu beobachten. „Schwalbe“ ist im Übrigen eigentlich der falsche Begriff, um diese Frauen zu beschreiben. Sie erinnerten mich nämlich an wunderschöne andere Tierchen, deren Farben gestärkt durch das Licht der Laterne regelrecht eine Parallelwelt zu ihrer verschneiten und dunklen Umgebung schufen.
Die ganz Rechte war ungefähr so groß wie ich. Sie war dunkelhäutig und trug eine blattgrüne Baskenmütze.
Grün war auch ihre Hose, die jedoch leicht heller war.
Haare gingen ihr bis zum mittleren Rücken. Sie waren kastanienbraun und glitzerten im Licht. Wunderschön hölzern braun war auch ihre wollige Jacke, die sie ein wenig wie eine hübsche Nachtigall aussehen ließ, die friedlich auf dem sommerlichen Ast eines Laubbaumes sang.
Die ganz Linke war die Kleinste und hatte schulterlanges, lockiges Haar in einer Farbe, die mich an die unendlich schwarze Nacht erinnern ließ. Sie trug ein mausgraues, knielanges Sommerkleid und darüber eine seeblaue Jacke. Die Art, mit der sie erst mit den anderen Frauen flüsterte, um dann lautstark aufzulachen, ließ mich an Gezwitscher denken. Sie wirkte wie eine Taube, die vor einem unendlichen Meer flog. Dieses Mädchen war wunderschön und, immer wenn ich sie ansah, pochte mein Herz ein wenig schneller. Ok, vielleicht war sie zu jung für mich. In ihr sah ich jedoch etwas, was ich beschützen musste- was ich einfach nur lieben musste.
Die mittlere Frau verfügte über einen Wasserfall honiggoldenen Haares, der ihr bis zum Gesäßbereich floss. Diese Goldkrone lenkte so stark vom Rest der Dame ab, dass man glatt übersah, dass ihr Gesicht sehr wohl Falten trug. Sie war älter als die beiden anderen Mädchen. Auf dem dritten Blick bemerkte man erst, was sie überhaupt anhatte: eine elegante, schwarze Jacke, eine schwarze Handtasche und darunter ein zitronengelbes Röckchen, das bis zu den Knien reichte. Sie wirkte wie eine Biene- nein- wie eine Bienenkönigin. Ich fand, dass dieser Frau die Kleidung nicht gestanden hat. Mir gefiel schlicht dir Kombination aus schwarz und gelb nicht. Trotzdem fand ich die Biene sympathisch. Sie erinnerte mich an meine Mutter.
Ein Auto fuhr vorbei, die Kleinste stieg ein und schon war der Wagen weggefahren. Ein wenig später kam ein zweiter Wagen hergefahren. Die Dunkelhäutige stieg ein.
Einige Minuten verbrachte die Biene stillstehend, einsam im Lichtkegel. Dann regte sie sich, legte sich auf die Bank. Ihre Knie brachte sie in Höhe, während sie noch dalag. Nun griff die Dame nach ihrem Rock- sie zog an ihm und enthüllte ein Pärchen milchig weißer Unterschenkel, die von der Laterne beleuchtet wie Mondlicht durch die Nacht schienen. Wie wunderschön doch ihre Beine leuchteten!
Sie guckte mich dann kurz direkt an. Ich schien ihr endlich aufgefallen zu sein, aber beachten tat sie mich schnell nicht mehr. Die Biene öffnete in ihrer Handtasche. Schnell fand sie, wonach sie suchte: Sie fand ihren Stachel.
Ihre Haare glänzten in diesem Moment unglaublich wie pures Gold.
Sie stach sich selbst ans linke Bein. Sie verpasste sich einen Schuss.
Im Hintergrund ertönten Kirchenglocken.
Danach zuckte sie schnell heftig und blieb dann starr.
Ich hatte Mitleid mit der Dame und war kurz davor, mich ihr anzunähern und ihr Geld einzustecken, da sah ich auf einmal zwei Autos zu ihr fahren.
Die beiden anderen Mädchen kamen zu ihr. Zunächst gackerte das Täubchen laut los. Das Nachtigallein näherte sich ihr und schüttelte sie sanft. Es vergingen nur wenige Augenblicke; Jetzt stand die Taube mit Handy am Ohr. Tränen im Gesicht. Sie zwitscherte schwächlich mit einem Krankenhaus. Panisch. Ich verstand nichts.
Die Nachtigall kniete neben der Biene. Sie schrie auf sie ein. Sie rief ihren Namen „Larissa“. Nun schlug die Nachtigall sie. Sie schlug ihr auf den Schädel. Sie tat alles, nur damit Larissa nicht stürbe.
„Was soll das? Warum- warum?“, sprach ich schockiert zu der Frau in Tücher, „Warum zeigst du mir das?“
Ich stand auf. Ich wollte den Mädchen helfen. Ich verstand gar nicht, was passierte. Die Biene hatte sich den goldenen Schuss verpasst. Die Tränen der armen beiden Frauen ließen einen Sturzbach in meinem Herzen fallen. Ich musste zu ihnen hinrennen; sagen, dass alles wieder gut wird; die Taube an meinem Arm halten…
Plötzlich merkte ich, dass mich die Frau in Tücher am Arm hielt. Ihr Griff war derartig fest, dass ich ihr einfach nicht entkommen konnte. Ich blickte sie an.
Eine unerwartet frische, jugendliche Stimme drang mir in die Ohren:
„Beruhige dich. Die Eine hat doch schon einen Krankenwagen gerufen. Was willst du denn überhaupt noch machen?“
Ich war in dem Moment sprachlos. dreimal setzte ich an, ihr etwas entgegenzuwerfen, mir fiel aber nichts ein.
„Ich muss dir noch mehr zeigen.“, sagte sie nur und zog mich dann von den drei Frauen im Lichtkegel weg.
„Nein! Ich kann doch jetzt nicht weg!“, schrie ich in Verzweiflung.
Ich rief den Frauen zu. Ich rief sie um Hilfe. Aber sie beachteten mich nicht. Sie weinten und schrien immer noch auf eine verdammte Leiche ein.
Die Mauer
Wie ein Hund wurde ich von dieser Frau am Arm durch Straßen und Gassen geführt. Sie rannte und zog an mir. Ich wollte nicht mehr. Ich war erschöpft und wollte endlich nach Hause und in meinem Bett schlafen. Abgesehen davon tat ihr fester Griff langsam weh. Aber sie ließ nicht nach. Ich konnte mich nicht aus ihrem Griff befreien. Diese Frau war stark wie ein Mammut. Mir konnte nicht einmal jemand zu Hilfe kommen. Niemand war schlicht und einfach auf den Straßen.
Schlussendlich, als ich mit der Zeit nüchterner wurde, versuchte ich, sie zum loslassen zu überreden.
„Bitte lass mich doch los, du tust mir weh!“, sagte ich.
„Das funktioniert nicht bei mir, versuch es erst gar nicht!“, antwortete sie.
„Wo liegt überhaupt der Sinn hinter dem Ganzen?“, fragte ich, „Es ist kalt und ich will schlafen“
„Das siehst du schon bald. Bleibe bitte geduldig und denke über das erlebte nach “, meinte sie freundlich.
Kurzes Schweigen.
„Sie ist tot, oder?“
„Ja“
Sie brachte mich an ein Gemäuer unter einer morschen, blattlosen Weide „Hey, hinter der Mauer ist doch der Friedhof!“, fiel mir auf.
Es roch nach verbrannten Zigaretten.
Die Frau drückte meinen Rücken gegen die Mauer.
Mein Kopf schlug hart gegen diese. Jetzt dröhnte auch noch mein Schädel und ich stöhnte auf.
Die Frau legte mir ihre Hand auf den Mund, um mir zu signalisieren, ich soll still sein. Ich schwieg.
Um ehrlich zu sein hatte ich langsam Angst vor dieser Frau in Tüchern. Sie hatte unmenschliche Kraft und ihr schien der Tot einer älteren Dame … egal zu sein.
Kurz darauf bemerkte ich leise Stimmen aus der anderen Seite der Mauer, also vom Friedhof:
„Du bist wirklich zu mir gekommen, Elisa?“
Ich spürte Schritte.
„Ja Thomas. Ich bin zu dir gekommen.“, antwortete jemand.
Ich hörte einen Kuss.
„Und du bist sicher, dass du es machen willst?“
Der Mann seufzte.
„Ja! Ja, um alles auf der Welt.“
Ein Klicken war vernehmbar, der mich an ein Gürtel denken ließ, der
aufgemacht wird.
Ich guckte die Frau in Tüchern flehentlich an. Ich ekelte mich. Ich wollte diesen beiden Leuten nicht dabei zuhören, was auch immer sie vorhatten. Doch die Frau drückte mich rücksichtslos gegen die Mauer. Ich schloss meine Augen.
Ich vernahm Geschmatzte und ein sich stetig steigerndes Crescendo von einem Stöhnen. Der arme Mann bemühte sich darum, seine Laute möglichst leise zu halten. Man konnte Scham aus seiner Stimme durchhören- und Aufregung. Aber er konnte sich nicht beherrschen - wie sollte er auch? – und er stöhnte laut auf.
Er war dazu bestimmt, dazu verpflichtet, in ihr aufzubrennen wie eine blutrote Schwertlilie in einem Inferno. Ist nicht gerade das wahre Liebe? Sich aufzugeben, sich zu verlieren in der Schönheit einer Besseren, Vollkommeneren? Und dieser Mann war ein verliebter Idiot. er konnte nichts anderes tun, als sie zu lieben. Selbst beim Geschlechtsverkehr bemühte er sich, leise und ehrfürchtig ihre Präsenz zu genießen, so als wäre sie ein verletzlicher, edelroter Safranfaden –und nicht eine verschlingende Flamme.
Eine angenehme Wärme durchströmte mich unter meiner Haut und ließ mich die Kälte vergessen. So muss wahre Liebe sein.
Mit geschlossenen Augen vergaß ich, dass ich mich eigentlich mitten auf der Straße neben einem Friedhof befand. Ich kam mir fast wie kuschelig in meinem Bettchen mitten in meiner schön aufgewärmten Wohnung vor. Ich dachte auch an Lisa. Ich stellte mir vor, wie Lisa mich verschlungen hatte in unserer Hochzeitsnacht. Schlussendlich fiel ich in bittersüßen Schlummer, bis mich plötzlich die Frau in Tüchern mich wach ohrfeigte.
„Aua!“, flüsterte ich ihr verdutzt zu.
Sie sagte nichts.
Ich lauschte wieder den Stimmen hinter mir.
Elisa sagte: „Was ist denn mit dir los Tobi? Du bist irgendwie…“
„Lass uns durchbrennen!“
„Was!“, rief Elisa schockiert.
„Elisabet bitte! Ich-ich will dich nicht mehr geheim halten. Ich möchte öffentlich mit dir Händchen halten. In einem Park…“
„Im Winter?“
„Also-naja-also wenn es wieder Frühling ist.“
Darauf herrschte kurz schweigen.
Elisa sprach weiter: „Tobias, du willst deine Kinder und deine Frau ohne Nachricht – einfach so- alleine lassen? Wegen mir?“ Ihre Stimme klang eigentlich sanftmütig, man konnte aber ein leichtes Zittern an ihrem Ton ausmachen.
„Elisa, ich ging in meinem Leben immer den falschen Weg. Immer-immer!- wollte ich anderen nur gefallen. Ich wollte geliebt werden. Doch du hast mich zum Lieben gezwungen!“, steigerte sich Tobias hinein „ Ohne dich ist mein ganzes Leben nur eine billige Lüge! Bitte Elisa!“
„Es reicht!“, brach Elisa den Redefluss ab. Stille.
Sie fuhr sanfter fort: „Tobias, ich bin kein Engel. Du wirst nicht immer mit mir glücklich sein und das weißt du. Bald würde ich dir langweilig werden und dann würdest du dich in ein Mädchen verlieben, dass jünger ist als ich.“Sie sagte es nicht wie einen Vorwurf, sondern eher wie eine neutrale Feststellung.
„Ich würde doch so etwas niemals tun“
„Aber du hast es schon einmal getan. Tobias, ich glaube, du könntest ganz ehrlich … auch ohne Liebe leben. Also, es ist nicht so als müsstest gerade du lieben. Also ähm verstehe mich nicht falsch, Liebe ist etwas Schönes, es ist aber nicht der Grund, weshalb du lebst. Ich denke das jedenfalls. “
„Was meinst du denn damit?“, sagte der Mann mit leicht aggressivem Unterton.
„Vielleicht liegt es daran, dass wir im Friedhof sind. Wir haben am Ort der Toten das Leben gefeiert, aber wir wissen nicht einmal was Leben überhaupt sein soll, oder?“
„Elisa, ich glaube wir sollten uns nicht mehr treffen“
„Was meinst du damit““
„Ich will jetzt nach Hause. Auf Wiedersehen, Elisa.“
Die Stimme des Mannes war völlig kalt.
Wenige Minuten später hörte ich den Motor eines Wagens in der Nähe laufen.
Die Frau in Tücher ließ mich endlich locker. Ich stürzte mich auf den Boden. Der Duft von Erde und Verwesung drang mir in die Nase.
Lisas Stimme war an dem Tag auch vollkommen kalt. An dem Tag, wo ich ihr alles beichtete. Ich kann der armen Lisa nicht vorwerfen, dass sie mir das Herz brach. Sie hatte eben einen Fehler begangen und dieser Fehler war ich. Lisa hatte es nicht verdient, mit der Wahrheit und konfrontiert zu werden. Ich hatte einen Fehler begangen. Ich hatte es gefälligst verdient, zu leiden, nicht sie. Trotzdem war sie es, die sich von einer Brücke gestürzt hatte und nicht ich.
Ich blickte nach oben zu der Frau in Tüchern. Wieder atmete ich ihren Rosenduft ein.
„Willst du mir noch etwas zeigen? Komm schon! Tu dir keinen Zwang an.“, sprach ich schlicht aus. Ich hatte aufgegeben, mich diesem … etwas zu widersetzen. Naja was sollte den noch schlimmeres passieren.
Sie entgegnete: „Ehe es zu spät ist können wir noch zur Altstadt gehen, wo all die Reichen leben. Die Szene dort musst du dir noch antun.“
Zusammen gingen wir dann in Richtung Reichenviertel.
Die Brücke
Es fing langsam an, zu dämmern. Die Altstadt mit ihren vielen Luxushotels und –markenläden stach vom Städtebild her signifikant vom Rest der proletarischen Metropole heraus. Dies wurde hauptsächlich durch die historische Reichhaltigkeit dieses Viertels am bekanntesten Fluss des Landes gewährleistet. Was doch die Altstadt alles erlebt hat! Hieratische Austerität und mephitische Pest und maliziöse Häresien und konformistisch apathischer Phlegmatismus und dekadent hedonistische Apotheose. War das alles? Natürlich nicht!
Regelrecht somnelent lief ich der Frau gehüllt in Tücher hinterher. Was doch diese Altstadt alles hat in unserer Gegenwart! Durch den zerstörerischen Schneefall und die alles durschlingende Nacht konnte ich das Funkeln von Symbolen und Wörtern erkennen- ach wie Kronjuwelen!
Kleidung aus den edelsten Stoffen der Hochkulturen Kaschmirs und Chinas. Parfüms aus den erotischsten Aromen Arabiens und Indiens. Die Namen Donatella und Lagerfeld, Lois Vuitton und Gianni Versace schienen breit wie die Mythologien und Heldensagen einer unsterblichen und ewigwährenden Kultur. Diese hesperische Hochburg desavouierte den mickrigen Rest dieser Stadt- nein, den Rest der Welt. Als Student bin ich immer hier spazieren gegangen. Ich hatte immer geträumt, dass eines Tages ich ein Teil dieser Ortschaft und ihrer Historie werde. Ja, ich wollte wohlhabend werden und das aus ganzen Herzen.
Von dieser Schönheit, dieser wunderbaren Illusion abgelenkt viel mir erst viel später auf, dass ich mich tatsächlich- mitten in der Nacht- nicht weit entfernt von einer größeren Menschenmenge befand. Ich vernahm Unruhige Gespräche und wunderte mich: Was verleitet Menschen in eine derartige Unrast?
Da erblickte ich sie. Eine Dame in weißem Schlafanzug - weit von mir entfernt- stand auf dem Geländer mitten auf einer beleuchteten Brücke, eine offene Flasche Cabernet Souvignier in ihrer Hand.
Auf der einen Seite der Brücke standen zwei Polizisten, auf der anderen ein Mann mit schockiertem Gesichtsausdruck.
Die Dame blickte zu den Polizisten.
Sie schrie zu ihnen:
„Wagt es ja nicht, mich von hier wegzubringen! Haben sie mich verstanden!?“
Nachdem sie einen Schluck von ihrem Wein nahm, wandte sie sich zum Mann:
„Du denkst also, dass Alle dir zu verzeihen haben! Nicht mit mir! Du hast also Angst,
was Alle von dir denken! Du jämmerliches Arschloch!“
Ihre Stimme schien ihr zu versagen. Trotzdem schrie sie, so als ob ihre Stimmbänder darum bemüht wären, ihre eigene Schwäche zu verschleiern. Während sie auf den Mann fokussiert war, begann einer der Polizisten, sich zu ihr hin zu schleichen.
Sie guckte hinüber in die Menschenmenge.
„Du bist ein Hurenbock. Das bist du! Du verschüttest dein Sperma wie- wie
Rasierschaum!“
Die Dame begann zu weinen. In dem Moment ergriff der Polizist sie an ihrer Hüfte und zog sie vom Geländer weg.
„Was? Nein!“, rief sie überrascht aus. Daraufhin wollte sie zu dem Mann am Ende der Brücke hinrennen mit manischem Gesichtsausdruck. Der Polizist hielt sie davon ab, indem er sie fest am Bauch hielt und wegzog. Aber die Frau rebellierte. Sie warf ihre Weinflasche in Richtung des Mannes. Sie zerbrach auf der halben Strecke und befleckte die Brücke mit ihrer verschwendeten Flüssigkeit.
„Du bist jämmerlich. Hörst du? Jämmerlich!“, stieß sie aus, kurz bevor sie schlussendlich in Ohnmacht versank.
Die Polizei fuhr sie in ihrem Wagen weg. Der Mann entfernte sich zu Fuß von der Brücke, bis er nichtmehr auffindbar war. Seine Miene schien gefestigt-ja sie schien sogar genervt.
Nach und nach löste sich die Menschenmenge auf. Sie gingen wohl allesamt in ihre Schlafzimmer - es war immerhin noch Nacht, auch wenn es schon langsam dämmerte.
Schlussendlich stand ich ganz alleine da. Wiedermal war ich alleine wie schon so häufig.
Das Meer
Ich sackte auf den Boden und begann zu weinen. Genau so- genau so verließ ich Lisa. Ich war genervt von ihr. Sie drohte mir tagelang; hielt sich ein Messer am Arm. Schlussendlich glaubte ich ihr nicht und ging zur Arbeit mit gelangweiltem Gesicht.
Als ich dann Nachhause kam, erklärte mir die Polizei sehr freundlich, dass Lisa jetzt tot sei, weil sie sich von einer hohen Brücke hatte stürzen lassen und dass es doch nicht meine Schuld sei und dass ich jetzt bitte nichts unüberlegtes machen solle und dass sie doch schon seit Jahren an Depressionen litt und dann hatte mir ihr Bruder dann später gesagt, dass er mich hasse und dass ich der Mörder meiner Ehefrau sei und doch bitte in eine Psychiatrie gehen soll, aber dann hat seine und ihre Mama was ganz anderes gesagt. Oh mein Gott. Mein Leben ist ein Witz, dachte ich mir in dem Moment.
„Benötigen sie Hilfe, junger Mann?“
Alle meine Gedanken waren wie weggeblasen.
Ich sah hinauf und erkannte einen alten Mann in Fleecejacke und mit Brille. Er reichte mir seine Hand und half mir so, mich aufzurichten. Jetzt wo ich stand, merkte ich, dass der Mann ziemlich klein war. Ich fühlte mich gar nicht mehr traurig. Irgendwie schien mich die Anwesenheit dieses Mannes wieder mit Wärme zu füllen.
„Wollen sie mit mir einen kleinen Spaziergang machen, junger Mann“
„Natürlich“, antwortete ich.
Wir gingen gemeinsam durch menschenleere, dunkle Gassen spazieren.
Er begann eine Unterhaltung mit mir.
„Wissen sie, ich bin Professor für Literaturwissenschaften“
„Aha“, sprach ich. Ich wusste nicht richtig, was ich auf seine Aussage antworten sollte.
„Jaja. Ich habe gestern eine Arbeit veröffentlicht, wissen sie“
„Wirklich?“
„Jaja- wirklich. Ich glaube, es ist die schönste Arbeit, die ich je verfasst habe.“
„Ja?“
„Und ich glaube, ich werde nie wieder etwas in der Art schreiben können“
„Wirklich?“
„Jaja. Meine Augen werden langsam blind und ich werde langsam alt. Schade. Ich hätte gern auf ewig weiter gearbeitet.“
„Aha“
„Wirklich Schade“, murmelte er eher zu sich selbst, als zu mir. In dem Moment hatte ich Mitleid mit dem Mann. Er hatte viele Falten und atmete immer wieder tief ein und aus. Er schien wirklich alt zu sein.
Mein Herz sprang auf, als ich merkte, dass wir uns dem Meer näherten. Ich liebte das Meer. Ich erinnerte mich, wie ich damals, als ich und Lisa noch jung waren, fast jedes Wochenende mit unseren Schulfreunden an dieses Meer vor mir gegangen waren. An diesem Meer hatte ich Lisa das erste Mal weinen sehen. Sie war betrunken auf meiner Schulter gelegen und ich hatte sie in den Arm nehmen wollen. Ich hatte vor, ihr zu sagen, dass ich sie nicht enttäuschen würde wie ihre alkoholsüchtige Mutter; dass ich immer an ihrer Seite bleiben würde, komme was wolle.
„Wissen sie, was Alle so schön am Meer finden?“, riss mich der Professor aus der Trance.
„Wie bitte?“, entgegnete ich verwirrt.
„Die Ewigkeit“, Stieß er ehrfürchtig aus. „Das Meer ist unendlich und scheint ewig. Aber dieses Meer wird eines Tages auch vertrocknen, wie alles andere auch.“
Der Mann wandte sich mit ganzem Körper dynamisch zu mir hin.
Dramatisch rief er mir zu: „Ich bitte sie! Vergeuden sie ihr Leben nicht wie ich. Sie sind noch jung. Genießen sie! Genießen sie, solange sie noch können! Genießen sie so viel, dass es für die Ewigkeit ausreicht.“
Endlich verstand ich.
Mich umdrehend erblickte ich die Frau in Tüchern, aber ihre Tücher waren gar nicht pechschwarz.
Erst in der Dämmerung erkannte ich, dass sie wunderschön blau angezogen war.
Duft von Blumen drang mir wieder in die Nase.
Ich fiel vor der Frau auf die Knie.
Ich sagte: „Oh-oh! Mein ganzes Leben habe ich nach Allem gestrebt, wonach man nur streben kann. Aber das Leid! Und die Schuld! Sie sind meine Feinde und verstecken sich überall. Du kennst all diese Leid und Schuld im Glück. Du musst doch auch wissen, welches Glück ein pures Glück ist- frei von Allem und für die Ewigkeit. Oh bitte, zeige mir dieses Glück!“
Vergebung
Ich folgte der Frau in einen Park. Sie bückte sich und drang in eine etwa schulterhohe, sowie blattlose, dornige und lange Hecke ein. Ich tat es ihr gleich. Zunächst fiel mir auf, dass die Hecke überraschend in Tiefe ging. Sie wirkte fast schon wie ein langer Tunnel aus Stacheln. Erst später schmeckte ich Blut auf meinen Lippen.
Die Dornen schienen mich gestochen zu haben. Augenblicklich fühlte ich einen hämmernden Schmerz auf meiner Lippe- aber auch auf meinen baren Füßen. Ich bückte mich daraufhin stärker und ging weiter. Früher oder später merkte ich, wie meine Füße und mein Mund hart wurden.
Ich fühlte keinen Schmerz mehr, jedoch fiel mir auf, dass an dem Dornengestrüpp nun Federn hingen, nachdem ich an ihnen vorbeigegangen war. Wunderschöne Federn waren sie und in unterschiedlichen Graustufen.
Das Gestrüpp änderte sich ebenfalls:
Anfangs noch trist, grau und hart, so wurde es mit der Zeit immer grüner. Irgendwann richteten sich sogar Ranken auf, an denen ich Blumen und Früchte wachsen sah. Am Anfang noch wenig, so wurden sie mit der Zeit immer zahlreicher: reiche Weintrauben ließen ihren Wein wie Champagner sprudeln. Blutrote Rosen ließen sich weder ihre harten Dornen nehmen, noch ihre zarten Blüten. Kämpferische Schwertlilien ließen sich von jedem Feuer verschlingen und standen aufrecht diesen Begegnungen gegenüber. Unschuldiger Jasmin plante sein Debüt und königliche Tulpen thronten über diesem ganzen Spektakel.
Mit der Zeit konnte man auch eine Veränderung riechen: Am Anfang roch es nach nichts. Wenn überhaupt, dann nach Schnee. Jetzt roch es nach all diesen schönen Blumen. Am Anfang schwach, jetzt viel stärker. Es herrschte ein regelrechtes Geruchschaos. Es roch arabisch und indisch und europäisch und afrikanisch und mir wurde regelrecht schlecht.
Ich sehnte mich nach einem Ausgang, nach einem Ende dieses Durcheinanders. Da erblickte ich ein Licht im Tunnel. Anfangs noch ganz klein, später dann ganz groß. Ein Loch, aus dem pures Licht kam war direkt neben mir.
Ich traute mich, in diesen herauszufliegen – ein Flügel nach dem anderen, bis ich schlussendlich in purem Licht badete.
Das Erwachen
Die Kirchenglocken bombardierten meine Ohren mit ihrem Getöse. Die erwachende Sonne riss mich dann vollends von meinem Schlaf. Ich öffnete meine Augen und sah eine alte Nonne auf mich zugehen- verhüllt in Tücher. Sie kniete sich vor mir und legte mir eine Hand auf die Schulter.
Sie fragte mich: „Geht es Ihnen gut, mein Sohn?“
„Joah. Eigentlich schon“, entgegnete ich ihr.
Ich merkte pure Warmherzigkeit aus ihrer weichen Stimme heraus. Dem Anschein nach hatte sie Mitleid mit mir.
Was für ein süßes Gefühl doch diese Verwirrung kurz nach dem Aufwachen ist! Ich hatte das Gefühl, aus irgendeinem Grund ein schreckliches Gewissen haben zu müssen, war aber noch zu verwirrt, um zu verstehen, warum. Fünf Sekunden später fiel mir auf, dass ich mitten auf dem kalten, harten Boden einer dreckigen Großstadt lag – und dass in ein paar Stunden meine Frau beerdigt werden sollte.
Ich stand auf und begab mich zur U-Bahn. Dort fand ich einen freien Sitzplatz für mich allein. Das war schön. Eigentlich war der Zug bis zum Rande voll mit Leuten, die zur Arbeit gingen. Mein Schädel hämmerte. Meine Kleidung war nass vom Schneefall gestern. Ich fühlte in meine Tasche. Ja! Mein Handy hatte ich nicht verloren. Meine Kopfhörer auch nicht.
Ich fing an, Musik zu hören. Ziemlich laut. War Balsam für meinen Kopf.
Ich merkte, wie jemand meinen Rücken tippte. Als ich mich nach hinten umdrehte, vernahm ich den Geruch von Jasmin. Ich nahm meine Kopfhörer ab und erblickte eine hübsche Frau in meinem Alter mit Haar so schwarz wie die Nacht.
„Entschuldigen sie bitte! Nicht jeder will ihre Musik hören. Bitte machen sie leiser.“, zickte sie mich an.
Ich drehte die Musik leiser. Jetzt konnte nur ich sie mit hören. Hip-Hop war es. Viel mir erst jetzt auf. Unhöfliche Frau.
Nach dieser Beerdigung werde ich um Lisa trauern. Aber ich bin mir sicher, dass auch Lisa will, dass ich lebe und genieße. Nach einigen Monaten werde ich mir dann eine neue Frau suchen, auch wenn ich Lisa nicht vergessen werde.
Ach jetzt einmal ganz ehrlich! Ich bin erst dreißig. Nach Ewigkeit und nach trauerlosem Glück kann ich doch jetzt beim besten Willen später einmal mit sechzig oder so streben. Ich will Fehler machen! Ist mir doch egal, was mir diese Frau in Schwarz oder Blau oder was auch immer gezeigt hat.
Die Mittagssonne wärmte mich im Zug voller Menschen auf. Ich zog meine Jacke aus und trocknete sie am Fenstergelände.