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Die Frau in der U-Bahn

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25.06.2008
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Die Frau in der U-Bahn

Er fuhr in der U-Bahn, nur so, ohne ein konkretes Ziel. Den ganzen Tag war er umhergelaufen, hatte Museen und Ausstellungen besucht, bekannte Straßen und angesagte Kneipen abgeklappert, das übliche Besucherprogramm in der Hauptstadt. Jetzt schmerzten seine Füße, der Rücken tat weh, er hatte Hunger und keine Ahnung, was er mit sich und dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Er saß auf dem grauen, gemusterten Polster und schaute aus dem gegenüberliegenden Fenster auf die dahinhuschenden Tunnelwände, auf die Bahnsteige, die in ein unwirkliches gelbes Licht getaucht waren, lauschte dem Rattern der Räder, den Stationsansagen, fühlte das Abbremsen und Anfahren des Zugs, hörte das Öffnen und Schließen der Türen und vernahm nach jedem Halt die Aufforderung „zurücktreten“. Er langweilte sich.

Die Frau in Schwarz fiel ihm sofort auf, als sie einstieg. Weil sie sich auf die Fensterbank ihm direkt gegenüber gesetzt hatte, konnte er sie gut beobachten, erst verstohlen, scheinbar uninteressiert, schließlich jedoch ganz unverholen. Sie war nicht mehr ganz jung, etwas untersetzte und ganz in Schwarz gekleidet. Eine knappe, halbgeöffnete Lederjacke, ein kurzer Rock, Strümpfe mit großen Mustern, hohe Stiefel. Alles in Schwarz, so wie auch ihre Haut ein tiefes Schwarz war. Das Gesicht breit, die Haare schulterlang mit Ponys bis knapp über die großen, ausdruckstarken Augen, die Nase eher klein und auch breit, die Lippen sehr groß und sinnlich und durch einen dunkelroten Lippenstift besonders betont. An den Ohrläppchen schwere Silberringe, in den Ohrmuscheln gepiercte Perlen. Die schmalen Hände mit auffallend hellen Innenflächen hielten eine große Handtasche auf ihrem Schoß, auch diese schwarz mit Silberbeschlägen. Ihr Aussehen allein wäre Grund genug, Aufmerksamkeit zu erregen, doch es kam noch etwas in ihrer Haltung und in ihrem Gesichtsausdruck hinzu. Sie hatte den Oberkörper vorgebeugten, die Beine leicht gespreizten und wippte auf den Fersen. Es sah aus, als wäre sie auf dem Sprung, als wollte sie sich auf eine Beute stürzen. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entspannt, aber ihre Augen wanderten ruhelos von Objekt zu Objekt, von Person zu Person und immer, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit erregte, blitzte in diesen Augen eine wilde Entschlossenheit, ein mühsam beherrschter Wille auf. Dieser Widerspruch zwischen scheinbarer Gelassenheit, ja demonstrativer Gleichgültigkeit und explosiver, kaum zu bremsender Triebkraft machte sie für ihn interessant und attraktiv, verdammt attraktiv. Er war sich sicher, dass man ihr Pferde stehlen und wilde Liebesnächte verbringen konnte und das wollte er jetzt, hier und heute.

„Zurücktreten“. Die Türen gingen zu, die gelben Lichter zogen vorbei, der Zug gewann an Fahrt und wurde von dem dunklen Tunnel verschluckt. Die Frau hatte die Erkundung ihrer Umgebung beendet und schaute nun mit ihren weit geöffneten Augen in eine ungewisse Ferne. Sie beachtete ihn in keiner Weise, obwohl er voll in ihrem Sichtkreis saß. Er dagegen fuhr fort, sie anzustarren und sich in seiner Phantasie auszumalen, wie es weitergehen könnte. Erst würde er sie zum Essen einladen, in ein chices, exklusives Restaurant. Dann würden sie in eine Kneipe mit Live-Musik gehen, würden Whisky trinken, rauchen, reden, lachen. Dort kämen sie sich näher. Erst ihre Hände, die sich wie zufällig berühren, sich sacht und zärtlich streicheln und drücken würden. Dann würde er tief in ihre schwarze Seele, in ihre faszinierenden Augen sehen, lächelnd aufstehen, seinen Stuhl neben den ihren stellen und ganz nahe an sie heranrücken. Ihre Beine pressten sich aneinander, seine Hand läge auf ihrer Taille und ihre Hand auf seinem Oberschenkel. Ihre Köpfe wären ganz dicht beisammen und ihre Münder würden sich schließlich finden. Sie würden sich, eng aneinandergepresst, gierig, wollüstig, atemlos küssen. Nachdem die erste Ekstase abgeklungen wäre, würden sie klären, wo sie den Rest der Nacht verbringen könnten. Bei ihr zu hause, in seinem Hotel, in einem Stundenhotel? Bei diesen Gedanken, hatte er sein Gegenüber fast aus dem Sinn verloren, so sehr hatte er sich in sein Wunschdenken hineingesteigert. Doch daraus erwachte er beim nächsten Halt abrupt. Die Frau saß immer noch da, aber alles andere war Fiktion, Einbildung. Die Realität war anders. Niemals würde er sie ansprechen, niemals den ersten Schritt unternehmen. Und selbst wenn er seine Hemmung überwinden könnte und selbst wenn sie seine Einladung annehmen würde, wäre doch der Rest seines Traums nur absurdes Theater. Realität war, dass sie an der nächsten oder übernächsten Station aussteigen und er sitzen bleiben und einer verpassten Gelegenheit, die es in Wirklichkeit gar nicht gegeben hatte, nachtrauern würde.

Der Zug ratterte und schlingerte, bremste, hielt an, doch sie blieb sitzen. Zurücktreten. Die Fahrt ging weiter durch den schwarzen Tunnel. Sie registrierte die neuen Fahrgäste, doch weil nur ein älteres Ehepaar eingestiegen war, verlor sie rasch das Interesse. Doch bevor sich ihr Blick wieder im Ungewissen verlor, geschah endlich, was schon längst hätte geschehen müssen. Sie reagierte auf sein Anstarren. Ihre Blicke trafen sich und er war überrascht, dass sie sich nicht sofort wieder abwandte. Seltsamerweise war sie eher amüsiert statt irritiert oder indigniert. Sie hielt seinem Blick eine ganze Weile stand und lächelte ihn an und dann er war es, der zuerst wieder wegschaute. Er hatte sich gewünscht, dass sie ihn zur Kenntnis nähme, aber nun, da es geschehen war, überkam ihn die übliche Verlegenheit und Unsicherheit. Der Zug bremste. Sie packte ihre Handtasche fester, stand auf, ging zur Tür. Damit war wohl ihre Begegnung beendet, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Sollte er auch aufstehen, aussteigen, sie ansprechen, ihr nachgehen? Nein, so etwas machte er nicht und außerdem, was wollte er eigentlich von ihr, nichts. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, öffnete sie aber gleich wieder als der Zug stand, um einen letzten Blick auf diese aufregende Frau in Schwarz zu werfen, einen Abschiedsblick. Die Türen gingen auf, sie trat auf den Bahnsteig, schloss sich jedoch nicht sofort dem Strom der davoneilenden Menschen an. Nein, sie zögerte, schien etwas zu überlegen und dann, dann geschah das Unglaubliche, das Unfassbare. Sie stellte sich vor das Fenster, durch das er auf den Bahnsteig sah, schaute in das Abteil hinein, schaute ihn an und winkte ihm zu. Ja ganz deutlich, sie winkte, dass er kommen solle, schnell und heftig. Beeil dich, schien die Geste zu sagen, der Zug fährt doch gleich weiter. Zuerst reagierte er nicht, so perplex war er. Doch dann stand er eilends auf, es tönte schon das „zurückbleiben“, klemmte den Fuß in die sich schließende Tür, ein erneutes „zurückbleiben“, aber er hatte sich bereits durch die halboffenen Tür gezwängt und stand auf dem Bahnsteig, neben ihr, glücklich. Der Zug ratterte davon.

Warum sie ihn aus dem Zug gewunken habe, wollte er fragen, aber er tat es nicht. Er war voll Euphorie, voller Selbstbewusstsein und lud sie, statt zu fragen, statt sich vorzustellen, statt sich langsam an sie heranzutasten zum Essen ein, ohne Scheu, ohne Hemmungen, ohne Vorreden. Sie nickte und lächelte als ob dies das Selbstverständlichste auf dieser Welt sei. Als sie die Rolltreppe zur Straße hochfuhren, stand er zwei Stufen tiefer hinter ihr. Er sah auf ihren gut proportionierten Hintern, der wohl doch eine Spur zu fett war, auf die ausladenden Hüften und die Taille, die kaum eine war. Dann wanderte sein Blick auf die Beine, die über dem Knie kompakt und gedrungen in den großmaschigen Strümpfen steckten und unter dem Knie in den Stiefeln, deren weiches Leder die beachtlichen Waden abformten. Überhaupt war sie deutlich kleiner als sie ihm im Zug vorgekommen war und vermutlich war sie auch älter als er sie eingeschätzt hatte. Diese leise Ernüchterung konnte jedoch seiner Freude über die Entwicklung der Dinge keinen Abbruch tun. Sie verließen die U-Bahnstation und gingen eine hell erleuchtete Straße entlang. Er hatte keine Ahnung, wo sie waren. Sie kannte sich in dieser Gegend auch nicht aus, wie sie auf seine Frage zu verstehen gab. Nach einigem Suchen fanden sie ein „gut bürgerliches“ Restaurant, wie es auf einer Tafel neben der Tür stand. Er musste kichern, als er das las, gut bürgerlich mit solch einer exotischen, aufregenden Frau. Sie setzten sich an einen Tisch in einer Nische. Als die Bedienung die Speisekarten brachte, sagte die Frau, er solle für sie auswählen. Konnte sie nicht lesen? War sie mit dem hiesigen Essen nicht vertraut? Aber sie sprach doch ganz gut Deutsch und war anscheinend schon länger im Land. Was sie denn möge, Suppe, Salat, Fisch, Fleisch? Es sei ihr egal, sie würde alles essen. Das Essen war gut, aber die Rechnung deutlich höher als er erwartet hatte. Auch ihre beiderseitige Sprachlosigkeit, sie redeten kaum, weder vor, noch während, noch nach dem Essen, trug nicht zur Ausschüttung weiterer Endorphine bei. Es gab nicht viel, eigentlich gar nichts, was sie sich zu sagen gehabt hätten. Sie fanden, nach einigen belanglosen Sätzen, einfach keinen Draht zueinander, die Chemie stimmte nicht, so war wohl eine mögliche Beschreibung ihres Zustands. Dann gingen sie wieder auf die nächtliche Straße hinaus. Er überlegte krampfhaft, was er denn nun machen solle, wo ein passendes Lokal sein könnte und bei dem Gedanken, wie es weitergehen sollte, begann er zu schwitzen. Die Vorstellungen und Wünsche, die er im Zug gehabt hatte, bereiteten ihm nun Angst. Die Ungezwungenheit und Spontaneität, die ihn noch auf dem Bahnsteig beflügelt hatte, war dahin. Er war unsicher, linkisch, schweigsam. Und auch die Frau war nicht mehr die femme fatale, die mit leicht gespreizten Beinen und wollüstigen Lippen sprungbereit da saß. Es war eine schüchterne Frau, die unerwartet ein Essen spendiert bekommen hatte und jetzt nur noch von dem einen Wunsch beseelt war, dem Spender so schnell wie möglich zu entkommen, allein zu sein. Sie löste die angespannte Unsicherheit und beantwortete die noch nicht gestellte Frage „Was wollen wir jetzt machen“, indem sie verkündete, dass sie nun zurück zur U-Bahn müsse und dass es ein sehr schöner Abend gewesen sei für den sie sich herzlich bedanke. Klar, sagte er, halb enttäuscht, halb erleichtert, für ihn gelte dasselbe. Am Ende der Rolltreppe, die beide wieder in den Schacht und somit auf ihre Ausgangsplattform zurückbeförderte, ging sie nach links und er nach rechts. Auf dem Bahnsteig, durch die Gleise getrennt, winkten sie sich noch einmal zu. Dabei fiel ihm ein, dass er weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer hatte, ja dass er gar nicht sicher war, ob er sich ihren Namen gemerkt hatte. Er rief ihr etwas zu, sie sah ihn fragend an, hob die Schultern und da unterbrach auch schon die einfahrende U-Bahn ihren letzten, hilflosen Kommunikationsversuch.

Er saß auf dem gemusterten Polstersitz, lehnte sich zurück und schloss die Augen, öffnete sie aber als der Zug stand, um einen letzten Blick auf diese aufregende Frau in Schwarz zu werfen, einen Abschiedsblick. Die Türen gingen auf, sie trat auf den Bahnsteig und schloss sich sofort dem Strom der davoneilenden Menschen an, ohne sich noch einmal umzudrehen. Es würde ein schönes, einsames, langweiliges Abendessen werden.

 

Mein lieber yupag, wenn man eine Kurzgeschichte schreibt, die nur aus sechs kurzen Abschnitten besteht, dann muss das in solch einer interessanten Sprachen und außergewöhnlichem Stil geschrieben sein, mit Figuren, die man gerne bei ihrem Treiben betrachtet, dass der Leser am Ende nicht denkt: Ja, und? Diese kurze Geschichte muss mit Gedanken, Beobachtungen und Details gespickt sein, die eine Atmosphäre schaffen und die Geschichte von allen anderen Geschichten abhebt, weil sie eine gewisse Stimmung erzeugt, die der Leser entweder kennt und in Nostalgie versinkt. Oder die Geschichte schafft es dem Leser einen neuen Blick auf so eine Alltäglichkeit wie U-Bahnfahren zu geben.
Das alles tut deine Geschichte nicht, sie besteht aus verpassten Chancen, so sollte vielleicht auch der Titel sein. Die Geschichte ist tatsächlich genauso langweilig wie der Titel. Im Grunde erzählt der Titel schon alles.
Die Großstadt bietet mehr als nur U-Bahnfahren. Mach was daraus.

JoBlack

 

Moin Yupag.
Stimmt schon, was JoBlack sagt, da wär viel mehr drin gewesen... vielleicht in der Art von "Lola rennt" das tatsächliche Geschehen (Nichts tun) versus seine Phantasieen, "was wäre wenn..."
Auch ich rate zu einer über-ARBEITUNG.

Lord

 

Danke für die Anmerkungen. Es soll ja nur eine Episode sein, in der Tat eine verpasste Gelegenheit und nicht die Beschreibung eines Abends in der Großstadt. Dass es für den Prot reine Illusion war, kommt wohl nicht so richtig rüber, das muss ich noch etwas besser ausdrücken.

Gruß yupagi

 

Dass es für den Prot reine Illusion war, kommt wohl nicht so richtig rüber, das muss ich noch etwas besser ausdrücken.
Doch, das ist schon rübergekommen, nur muss man auch eine Illusion entsprechend gestalten, dass sie nicht langweilig klingt. :P Gerade bei einer Illusion.

 

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