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Die Frau im goldenen Käfig
Die Frau im goldenen Käfig
Chiara lebte mit ihrem Mann in einer großen, prachtvollen Villa am Stadtrand von Venedig.
Sie war eine Frau mit wunderschönen, langen blonden Haare, blauen Augen, so Mitte 30 und hatte eine süße kleine 4-jährige Tochter, die auf den schönen Namen Marcella hörte. Chiara machte nach außen hin den Eindruck einer glücklichen Mutter und Ehefrau. Ihr Ehemann, Alberto, der etwa 10 Jahre älter war als sie, verdiente sein Geld als Teilhaber eines großen, national bekannten Chemiekonzerns. Er war so wie man sich allgemein einen einflussreichen Industriemagnaten vorstellt; sehr ehrgeizig, aber auch hart zu sich selbst und zu allen Menschen, mit denen er beruflich und auch privat zu tun hatte. In Verhandlungen mit Geschäftspartnern war er sehr bestimmend und zuweilen gnadenlos und eiskalt. Auch zu Hause gab er den Ton an, der zumeist sehr ernst war. Lachen hatte er nie gelernt, denn bereits seine Eltern und Großeltern waren Vorstandsmitglieder in eben jenem Konzern, in dem Alberto jetzt sein Tagwerk vollbrachte. In seiner Jugend passte ausgelassene Fröhlichkeit einfach nicht ins Bild, das man vor der Öffentlichkeit darzustellen versuchte. Spaß und Spiel waren stets Fremdkörper in seinem Leben gewesen.
Nach außen schien es eine gut funktionierende Beziehung zu sein. Bei Empfängen und Parties war Chiara immer an der Seite ihres Mannes. Sie lachte und scherzte mit den Gästen, nur was wirklich in ihrem Inneren vorging, ahnte niemand. Denn kaum waren die Feierlichkeiten zu Ende, war sie wieder mit sich und der kleinen Tochter in der großen kalten Villa allein, in der es alles gab, was sich das Herz nur wünschen konnte. Es gab Computer, Fernseher, Stereoanlagen, einfach alles technische Equipment, was man sich nur vorstellen konnte. Nur eines gab es in ihrem Leben nicht – Liebe.
Abends schaute sie gern Liebesfilme, wenn sie Marcella ins Bett gebracht hatte. Sie träumte dann davon, wie schön es wäre, wenn sie einen Mann hätte, der sie von Herzen liebt, mit dem sie lachen kann, der sie in den Arm nimmt, wenn es ihr einmal nicht so gut geht und der einfach immer für sich da ist.
Auch heute war wieder so ein Tag, an dem ein Liebesfilm über die Mattscheibe flimmerte und sie träumend davor saß. Später lag sie dann allein in ihrem Bett, ihr Mann hatte sein eigenes Schlafzimmer, und stellte sich vor, wie es wäre, einfach aus dem goldenen Käfig auszubrechen und nicht ihrem Gatten stets zu Diensten zu sein. Es musste doch da draußen noch mehr geben als das langweilige Leben in diesem Eispalast. Gleich am nächsten Tag wollte sie hinaus gehen und die freie Natur genießen.
Zum ersten mal seit langer Zeit freute sich Marcella auf den kommenden Tag. Sie wusste, dass sie dann endlich wieder leben und sich von ihren schweren Ketten der mentalen Gefangenschaft befreien wollte.
Dann war es soweit. Der neue Morgen war da. Die Sonne lachte durch ihr Schlafzimmerfenster und wärmte mit den ersten Sonnenstrahlen ihr noch verschlafenes, aber dennoch außerordentlich hübsches Gesicht. Sie erhob sich aus ihrem Bett und stellte sich vor den großen, mit Diamanten verzierten Spiegel wobei sie sich sagte: „Heute ist erste Tag meines neuen Lebens. Ich werde ihn genießen und das Beste daraus machen.“
Nach dem Frühstück gegen zehn zog Chiara sich ihre dünne Sommerjacke über, nahm ihre Tochter an die Hand und machte sich auf den Weg nach draußen. Vor der Tür stand wie immer der teure Ferrari mit Chauffeur. Doch dieses Mal ging sie vorbei, wobei der Fahrer sich schon irgendwie erstaunt umsah, dass sie seine Dienste nicht in Anspruch nehmen wollte.
Ihr Weg führte sie in den Park mit dem kleinen See, den sie schon so lange nicht mehr betreten hatte, weil ihr Mann es ihr verbot, dort spazieren zu gehen. Angeblich würde es nicht zum Prestige der Familie passen, wenn sie dort allein auf einer Parkbank am See sitzen würde und außerdem hatte er Bedenken, dass sie dort vielleicht neue Kontakte knüpfen könnte, mit Menschen, die nicht in seiner Gehaltsklasse wären.
Chiara und Marcella genossen die frische Luft, den Duft der bunten Blumen und das fröhliche Zwitschern der Vögel. Ausgelassen tobte das kleine Mädchen über die blühende Sommerwiese und versuchte Schmetterlinge zu fangen. Chiara setzte sich währenddessen auf eine Parkbank und beobachtete ihre Tochter beim Spielen. Dabei träumte sie sich auf eine Wolke und machte darauf eine abenteuerliche Reise.
Plötzlich würde sie aus ihrer Fantasie gerissen als ein junger Mann, vielleicht Ende 30, sie ansprach und fragte “Entschuldigen Sie junge Frau, darf ich mich einen kleinen Moment zu Ihnen auf die Bank setzen?“ Chiara hatte nichts dagegen und schon nahm er neben ihr Platz. „Mein Name ist Mario Rossi“, stellte sich der junge Mann wie ein Kavalier alter Schule vor. „Ich bin Chiara und das dort auf der Wiese ist meine Tochter Marcella“, erwiderte sie höflich. Lächelnd nahm er neben ihr Platz.
Beide verstanden sich auf Anhieb sehr gut. Sie sprachen zunächst über viele zum Teil belanglose Dinge, wie das Wetter oder ob man öfters hier im Park ist. Schnell verrann die Zeit und schneller als gedacht, war eine Stunde vorbei. „Ich muss leider wieder weiter. Meine Arbeit wartet auf mich. Ich bin Pizzafahrer und da muss ich pünktlich sein, denn meine Stammkunden schätzen an mir besonders meine Zuverlässigkeit.“ sprach Mario. „Ich würde unsere Unterhaltung gerne bei Gelegenheit fortsetzen“, sagte er noch, in der Hoffnung eine positive Reaktion darauf zu bekommen. „Auch ich hatte großen Spaß, mich mit Ihnen zu unterhalten und würde mich ebenfalls freuen, Sie wiederzusehen. Ich bin morgen um diese Zeit wieder hier im Park und wenn Sie mögen , kommen sie doch auch her“ antwortete Chiara mit einem Lächeln im Gesicht.
Als sie dann auch wieder zu Hause war, dachte sie noch eine ganze Weile an die schöne Begegnung im Park. Irgendwie ging ihr der junge Mann nicht mehr aus dem Sinn. „Was ist los mit mir? Ich empfinde etwas, was ich schon lange nicht mehr gefühlt habe. Aber ich darf diese Gefühle nicht haben. Und auf gar keinen Fall darf ich Alberto etwas von diesem Erlebnis berichten“, dachte sich Chiara, als sie auf das alte Landschaftsgemälde im Speisesalon schaute. Und dennoch freute sie sich auf das Wiedersehen mit Mario so wie sich ein Kind auf den Weihnachtsmann am Heiligabend freut.
Am Abend saß sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter am gedeckten Abendbrottisch und versuchte wie schon so oft, mit ihrem Gatten ein paar Worte zu wechseln. Er sprach wenig über seine Arbeit, weil er glaubte, dass Frauen sowieso keine Ahnung von Firmenpolitik und den Finanzmärkten haben. Aber auch über persönliche Dinge sprach er so gut wie nie mit ihr. Gefühle waren in seiner Welt gleichzusetzen mit gefährlichen Viren, die unter allen Umständen bekämpft und ausgemerzt werden mussten. Besonders positive Gefühle waren ihm zuwider. Glück, Freude oder Lust waren regelrecht Fremdworte für ihn. Damit konnte er nun weiß Gott nichts anfangen.
„Was ist heute los mit dir Chiara? Warum grinst du die ganze Zeit so vor dich hin. Ich wüsste nicht, was es hier zum Amüsieren gibt“, fuhr sie Alberto mir arrogantem Ton an. Oder siehst du etwa, dass ich mich so gehen lasse wie du jetzt“, setzte er noch einen drauf. „Nein, du hast dich völlig im Griff, wie immer.“, sagte Chiara mit ironischem Unterton, den Alberto erstaunlicherweise auch wahrgenommen hatte. Daraufhin, nahm er sein Besteck, warf es wütend auf den Boden und verließ zornig und vor sich her fluchend das Speisezimmer. Dabei traf er beinahe noch die unschuldig am Herd stehende Haushälterin. „Ich denke, ich sollte mich mal mit ihm unterhalten.“ sprach Chiara zu ihrer Haushälterin. „Ich glaube auch, dass dies eine gute Idee ist“, erwiderte diese leise.
Chiara ging also ihrem Mann hinterher ins Arbeitszimmer, wo dieser bereits wieder seinen Kopf hinter einem ordentlichen Stapel von Aktenordnern vergraben hatte.
„Alberto, ich möchte gern mit dir sprechen. Hast du einen Augenblick Zeit für mich?“ fragte sie zögerlich. „Worum geht es. Du siehst ich habe alle Hände voll zu tun. Ich hoffe nur, dass es wichtig genug ist, um mich bei der Arbeit zu unterbrechen.“, wollte Alberto wissen. „Für dich mag es unwichtig sein, aber für mich ist die Frage, die ich dir stellen werde sehr wichtig, übrigens genau wie deine Antwort darauf.“ antwortete Chiara entschlossen. „Na dann stell mir deine ach so wichtige Frage. Aber beeil dich, ich habe nicht ewig Zeit dafür“. „Ich brauche auch nur wenig Zeit. Die Frage lautet: Liebst du mich?“ entgegnete sie, während sie Alberto ins Gesicht sah.
Mit einer solchen Frage hatte er im Leben nicht gerechnet. Es war ihm anzumerken, dass ihm diese Frage äußerst unangenehm war, denn er spielte nervös mit seinem Kugelschreiber.
Alberto wusste nicht wie er reagieren sollte, schließlich konnte und wollte er nicht über Gefühle sprechen. Aber anscheinend musste er jetzt Farbe bekennen.
„Hmm...ob ich dich liebe willst du von mir wissen. Was ist schon Liebe? Es ist nur ein Gefühl, welches in den Kreisen, in denen wir uns bewegen keinen Platz hat. Liebe... das ist nur romantischer Unsinn. Davon kann man nicht leben. Solcherlei Gefühle sind für mich völlig abwegig. Du bist mit mir, einem der reichsten und einflussreichsten Männer Venedigs verheiratet, hast alles was dein Herz begehrt, kannst dir jedes goldene Geschmeide leisten, was dir gefällt. Du müsstest rundherum glücklich und zufrieden sein. Für sentimentale Gefühlsduselei sollte auch in deiner Welt kein Platz sein. Du hast wichtigere Aufgaben, beispielsweise zu repräsentieren. Und außerdem hast du dein Hobby, das Designen und Nähen von Kleidern. Ich denke, damit solltest du zufrieden sein. Und nun lass mich bitte wieder arbeiten.“ sprach Alberto von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugt.
Chiara war von dieser Antwort nicht wirklich überrascht, schließlich kannte sie Alberto ja bereits mehr als zehn lange Jahre. Als sie ihn damals kennenlernte, arbeitete sie als junge Journalistin bei einer regionalen Tageszeitung. Sie hatte damals die Aufgabe, eben diesen Alberto Prozzio zu interviewen und war sehr beeindruckt von seiner weltmännischen Art und Weise. Irgendwie und irgendwann verliebte sie sich wohl in den äußeren Schein dieses Mannes, der von ihr auch in gewisser Weise angetan war. Etwa ein Jahr später war sie mit ihm verheiratet. Damals ahnte sie noch nicht, dass hinter der äußeren Fassade ein gefühlskalter Mensch wohnte.
Mit der Gewissheit, nicht von Alberto geliebt zu werden und dem Wunsch ihr Leben neu zu gestalten, schlief Chiara am Abend ein und träumte dem neuen Tag entgegen.
Pünktlich um zehn ging sie wieder in den Park. Marcella war an diesem Tag zu Hause beim Kindermädchen geblieben. Sie setzte sich auf die Bank, auf der sie bereits am Vortag gesessen hatte
und es dauerte auch nicht lange und Mario erschien mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht und mit funkelnden braunen Augen. Nachdem sie sich begrüßt hatten, saßen sie nebeneinander und unterhielten sich über Gott und die Welt. Mario erzählte ihr von seinen Eltern, seinen Brüdern und Freunden und auch davon, dass er leider noch nicht die Frau fürs Leben gefunden hatte. Inzwischen hatten sich beide auch schon auf ein „du“ geeinigt, denn so war die Unterhaltung viel unbeschwerter.“ Sag mal Mario, was bedeutet für dich eigentlich Glück?“, wollte Chiara wissen.
Er überlegte einen kurzen Augenblick und sagte dann spontan:“ Glück ist für mich, am Morgen zu erwachen und zu fühlen, dass ich noch lebe und gesund bin. Glück ist auch die Sonne auf meiner Haut, das Singen der Vögel, die Blumen und alles Lebendige. Ich bin glücklich, wenn ich nach getaner Arbeit nach Hause komme und entspannt ein Bad genießen kann. Nur eines fehlt mir noch um rundherum glücklich zu sein. Das ist eine Frau, die mich liebt, auch wenn ich nur ein einfacher Pizzafahrer bin und nicht über unbegrenzt Geld und Luxus verfüge. Vielleicht werde ich dieses Wesen eines Tages noch finden und mein Glück vervollkommnen“. „Möglicherweise kennst du diese Frau bereits, nur du ahnst noch nichts davon. Auf jeden Fall hat mir deine Antwort sehr gefallen. Ich denke und fühle ähnlich wie du.“ antwortete Chiara während sie eine kleine Träne unterdrückte.
„Erzähle mir etwas mehr von dir. Wo lebst du, was machst du, gibt es einen Mann in deinem Leben“, wollte Mario wissen. Chiara holte einmal tief Luft und begann zu erzählen: „Ich lebe etwa eine Viertelstunde von hier in einem Haus in der Nähe der alten Windmühle. Ich bin verheiratet und habe eine kleine süße Tochter, die mein ganzes Glück ist.“ „Oh, du bist vergeben. Schön für dich.“, erwiderte Mario mit traurigem Ton.
Die Zeit war wieder schnell vergangen und Mario musste zur Arbeit. Zum Abschied gab sie ihm noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, den er zu diesem Zeitpunkt noch nicht richtig einzuordnen wusste. Nur eines wusste er. Er war verliebt und wollte diese Frau unbedingt wiedersehen.
Während des gesamten Heimweges dachte Chiara an Mario. Sie war glücklich. Endlich hatten ihre schönen großen blauen Kulleraugen den Glanz zurück bekommen, den sie vor vielen Jahren einmal hatten. Sie war verliebt und wusste genau, was sie zu tun hatte.
Zu Hause angekommen, packte sie alle für sich wichtigen Dinge in 2 große Koffer, nahm ihre kleine Tochter und schrieb ihrem Mann einen kleinen Brief mit dem Wortlaut: „ In einem Haus ohne Liebe und nur voller Kälte ist kein Platz mehr für uns. Bitte suche nicht nach uns. Ich gehe morgen zum Anwalt und reiche die Scheidung ein. Chiara.“
Am nächsten Morgen nahm Mario wie jeden Morgen seine Tageszeitung zur Hand und las auf der Titelseite unter einem Foto von Chiara und Alberto in großen Lettern die Worte: „Industriemagnat Alberto Prozzio von Ehefrau verlassen“. Jetzt wusste er, wen er dort im Park kennengelernt hatte und was sie mit den Worten „Vielleicht kennst du diese Frau bereits“ gemeint hatte.