Die Flying Suizid Brothers On Tour
11. 12. 96
Am Abend.
Gregor war vorhin hier und erzählte mir die Abenteuer des letzten Wochenendes in dürren Worten. Ich fülle das Skelett hiermit aus.
Er rief mich letzten Dienstag an und fragte, ob ich nicht am Samstag mit nach Borkum kommen wolle. Der EuroFrank führe dann dahin und Sven, der Trunkene, sowie er hätten erwägt, mitzufahren und in gemütlicher Männerrunde einen drauf zu machen.
"Sorry," sagte ich, "leider habe ich am Samstag eine Verabredung mit einem jungen Mann, die ich nicht absagen kann, ich hab´s seiner Mutter versprochen, und außerdem bin ich ein wenig klamm, das wird sich also nicht ausgehen."
Gregor bedauerte das sehr, meinte dann, er wisse auch nicht so genau, ob überhaupt, mal sehen. Aber irgendwann würden wir schon mal zusammen...
Die nächsten fünf Tage: Funkstille.
Dann: Ein Anruf. Der Euro!
Ja, es ginge ihm jetzt wieder besser, demnächst würde er mich auch mal wieder besuchen kommen.
"Ja, bist du den krank und warst du denn gar nicht auf Borkum?", fragte ich verdutzt.
"Nee, auf Borkum war ich nicht, meine ganze Familie hat Darmgrippe, die lagen alle, muss so eine Art Virus sein."
"Ja, dat wird jetzt ganz gerne gesehen," sagte ich, "aber wenn’s dir nur jetzt wieder besser geht! Und die anderen Chaoten? Die sind ja dann wohl auch nicht gefahren!"
"Doch," meinte er lapidar, "die sind! Gestern Abend riefen sie mich an und fragten, wo sie denn wohl schlafen könnten. Als gäbe es auf Borkum keine Pensionen! Aber Sven klang auch schon ziemlich angeschlagen, um nicht zu sagen hackenzu. Also habe ich ihnen, wenn auch widerstrebend, Sunnas Adresse gegeben, ich hoffe, da ist nichts schiefgegangen. Gehört habe ich nichts, aber das macht mich auch wieder unruhig."
"Oh je, die Flying Suizid Brothers," sagte ich, "aber wir werden schon sehen."
"Fürcht´ ich auch!", war sein Kommentar. Dann verabredeten wir uns für spätestens Sylvester auf Borkum.
Heute dann tauchte Gregor (nicht selbstentleibt) bei mir auf. Sven ist eindeutig Alkoholiker, kokettiert damit und seine Masche gegenüber den Damen und überhaupt ist es, den kleinen Jungen zu spielen, der doch nichts dafür kann.
Gregor ist eher manisch- depressiv, und seine Masche gegenüber den Damen und überhaupt ist es, den kleinen Jungen zu spielen, der doch nichts dafür kann.
Das also sind die FLYING SUIZID BROTHERS, wie ich sie nenne, denn, sobald sie zusammenstecken und Zuhörer (hauptsächlich -innen) haben, hecken sie lautstark immer neue und selten originelle Selbstmordpläne ob ihrer schrecklich- schaurigen Situation aus. Und die zwei waren nun zusammen auf Tour gewesen. Oh je, das ließ das schlimmste fürchten!!!
Man hatte beschlossen, am Samstag aus Kostengründen mit dem 35- Mark- Ticket zu fahren. Um 7.13 ab Hbf. Nicht dumm. Etwas weniger nicht dumm war es allerdings, am Freitagabend noch auszugehen. Wohin das führen würde, war allen, die die Beiden kannten, schon klar.
Und es führte.
Trotz alle dem kam man am Morgen rechtzeitig zum Zug. Eine halbe Stunde, dann mussten die beiden in Münster umsteigen, zum Glück zum letzten Mal. Kaum saßen sie im Zug, zischte die erste Bierdose, und ab ging Lützows wilde, verwegene Jagd.
Nun ist es ja so eine Sache mit dem 35- Mark- Ticket am Wochenende und dem Vorankommen. Nicht nur, daß man für die 35 DM auch meist 35 mal umsteigen darf, meist sind die Nahverkehrszüge auch so voll, daß man allenfalls im Gepäcknetz noch einen Platz ergattern kann, nur um zu erkennen, daß dasselbe von Vandalen zerstört worden ist. Nicht so aber wohl auf der Strecke nach Emden. Unsere beiden göttergleichen Gestalten hatten Platz und Ellenbogenfreiheit, nach Herzenslust Bierdosen zu öffnen, leerzutrinken und den Inhalt auch wieder ausscheiden zu können.
Entsprechend heiteren Gemüts waren sie denn auch, als der Zug kurz nach elf in Emden einlief. Die Planung sah vor, gleich mit dem Katamaran, dem ungleich schnelleren Transportmittel, nach Borkum überzusetzen. Sah die Planung vor.
Jedoch- der Katamaran lag im Hafen und fuhr nicht, erfuhren die Beiden und hatten gleich wieder Suizidgedanken. "Schlechtes Wetter," sagte man. "Motorschaden," flüsterte man. Der Transport mit der normalen Fähre würde erst nach 16.oo losgehen, es war also noch viel Zeit und die FLYING SUIZID BROTHERS sahen sich suchend um, einen Ort zu finden, wo man sich bis dahin die Zeit vertreiben könne.
Einen solchen Ort, auch Gaststätte oder Kneipe genannt, zu finden ist in der Nähe eines Hauptbahnhofs meist kein Problem, so auch in Emden. Gregor und Sven, unsere beiden Späher spähten und erspähten zweierlei: Zum einem die gewünschte gastliche Stätte, zum anderen ein spätes Mädchen in der Endphase der Rolle "Jugendliche Naive". Die hatte auch gespäht und gefunden und sah im Übrigen genauso ratlos aus wie unsere beiden Helden. "Ansonsten aber nicht schlecht," wie die FLYING SUIZID BROTHERS grinsend konstatierten.
Alle betraten die Gaststätte, ließen sich an der Theke nieder, bestellten ein Bier und man kam miteinander ins Gespräch. Es stellte sich heraus, daß die junge Dame, die sich im Übrigen als Brigitte vorstellte, aus Dortmund kam, also nicht allzu weit entfernt von der Heimstatt unserer FLYING SUIZID BROTHERS.
"Ja, ich will zwei Tage auf Borkum verbringen, mal kurz raus aus dem Ganzen Alltagstrott," meinte sie, "und dann jetzt das mit dem Katamaran, auf nichts mehr ist Verlass!"
"Oooch, doch schon noch," erklärten die inzwischen nur noch fliegenden Brüder unisono, "wenigstens darauf, daß auf nichts mehr Verlass ist. Aber die Zeit wird uns schon nicht lang werden!"
Wurde sie auch nicht. Im Gegenteil, sie verging wie im Fluge bis zur Abfahrt des Schiffes. Das Mädel hielt prächtig an der Theke mit, wie es sich für eine rechte Dortmunderin gehört, fand mehr und mehr Gefallen an den beiden im Allgemeinen und an Gregor im Besonderen, dem schmeichelte das natürlich ungemein, was er durch aufgesetzte coolness nicht ganz überzeugend zu überspielen suchte. Das gezielte Vernichten des Bieres unterbrach er hin und wieder, um ein paar seiner gefürchteten Psychopillen einzuwerfen, was von Brigitte mit Erstaunen aber unkommentiert zur Kenntnis genommen wurde.
Dann wurde es Zeit, das Trio Infernale begab sich bereits leicht schwankend zur Mole und krabbelte an Bord der Fähre. Man ließ sich im Bauch derselben nieder, das Schiff legte ab, über Lautsprecher wurde verkündet, daß der Kiosk nun geöffnet habe ("Kiosk", welch heimatliches Wort), und Sven machte sich auf die Suche nach demselben. Nach einiger Zeit tauchte er wieder auf mit einem Armvoll Flaschen.
"Hier, Wegzehrung," meinte er lakonisch, "damit es nicht langweilig wird und wir im Training bleiben."
So nahm die Überfahrt ihren Lauf, es war gemütlich im Schiffsbauch, bei Außentemperaturen um die null Grad, die See war zwar ruhig, die Luft aber nebelig und so lud das Sonnendeck nicht gerade zum Verweilen ein. Emden lag achteraus, nach zwei Stunden Borkum querab, und nach einer weiteren halben Stunde lag man im Hafen. Mit der Inselbahn ging es in den Ort, am Bahnhof trennten sich fürs erste die Wege.
Brigitte wollte ihr Quartier beziehen, die FLYING SUIZID BROTHERS die nächste Kneipe. Was sonst. Unterkunft? Ach Quatsch, wird sich schon finden, erst mal nen Bier, gell! Und, Brigitte, später dann um neun im Inselkeller, bis dann!
Und auf ging´s ins Unglück.
Wie sich der weitere Abend gestaltete, das lässt sich nur erahnen, und das auch nur dann, wenn man die Beiden kennt. Es kursieren Gerüchte, in denen Worte vorkommen wie "Strandschlucht", "Sturmeck", "Nelson" und "Inselkeller". Ob das alles so der Wahrheit entspricht, dafür kann und will ich nicht bürgen. Wohl weiß ich, daß irgendwo in diesem Kneipen- und Gaststättengewirr der Gedanke auftauchte, man müsse doch auch einen Platz zum Schlafen finden, ja, sogar etwas angeleiert wurde und ein Termin um 22.oo Uhr von Gregor festgemacht ward; jedoch, oder soll ich sagen -natürlich- , nicht einzuhalten war. Schließlich waren die FLYING SUIZID BROTHERS wieder auf Brigitte gestoßen und man hatte Besseres zu tun; nämlich sich die Kante zu geben, und das nicht moderat sondern brutal. Unser aller Brigitte, die erstaunlicherweise immer noch Spaß an den Beiden und besonders an Gregor fand, beschloss dann doch schlauerweise für sich, den Zug um die Borkumschen Häuser zu beenden und schlafen zu gehen. Was die FLYING SUIZID BROTHERS nicht davon abhielt, gnadenlos weiter zu machen.
In diese Zeit fällt das Erlebnis fällt das Erlebnis mit dem rundgesoffenen Deckel, der von Gregor bei Schichtwechsel des Personals elegant wie eine Diskusscheibe in eine andere Ecke des Lokals entsorgt wurde. Der Wirt fand sie da später unter einem Tisch und beschwerte sich bitterlich bei unseren Helden über die Arschlöcher, die abhauen ohne zu bezahlen. Er fand vollstes Verständnis bei den FLYING SUIZID BROTHERS.
In diese Zeit fallen auch die Versuche, Unterkunft zu finden. Man donnerte an die Türen diverser Pensionen und begehrte Einlass. Vergeblich, nichts rührte sich; nur einmal, da bewegte sich vorsichtig die Gardine, um nach dezenten Linsen schnell wieder zugemacht zu werden. Und in diese Zeit fällt auch der Anruf nach Hamm zum Euro, um die Sunnasche Adresse zu erfahren. Die aber alsbald wieder vergessen wurde, oder soll ich besser sagen, die in der stürmischen Alkoholsee auf der Stelle wieder ertrank.
Wie dem auch sei, so gegen 3.oo morgens hatten die letzten Gäste den Inselkeller verlassen, der Wirt war dabei, das Licht zu löschen, als zwei klägliche Stimmen aus dem Hintergrund erklangen:
"Halt! Wir müssen noch raus!"
Oh, hätten sie doch den Mund gehalten und sich unter einem Tisch zusammengerollt!
So aber standen sie in eisiger Borkumer Nacht und wussten nicht weiter.
Zwar hatte man warme Jacken an und der Mut, oder soll ich sagen der Alkohol und die Pillen hatten noch die Oberhand (ja, auch Sven hatte derweil von den hundsgemeinen Leckerli genascht), doch tief drunten begann die Verzweiflung ihr hässliches Haupt zu heben und streckte sich wohlig- genüsslich.
Eine Biertelstunde (sieben Minuten) später sah man die FLYING SUIZID BROTHERS am Bahnhof stehen und den mannhaften Entschluss fassen die Nacht auf den Bänken am Bahnhof zu verbringen. Gesagt, getan. Das klappte auch fürs erste. Nach eineinhalb Stunden Dämmern, Dösen und ein Bisschen Schlafens aber kroch die Kälte unaufhaltsam durch die Kleider. Mit dem Schlafen war es vorbei.
Während sich Gregor und Sven auf den bevorstehenden Kältetod vorbereiteten, geschah ihnen eine Erscheinung. Noch saßen sie bibbernd auf der Bahnhofsbank, da leuchtete ihnen ein Licht am Himmel. Nein, nicht am Himmel, an der Hauswand auf der Straßenseite schräg recht gegenüber!
Und das Licht leuchtete und sprach zu ihnen:
"SPARKASSE. EC - AUTOMAT"
"Du," sagte Gregor zu Sven, "ich glaube, im Automatenraum ist es geheizt. Das ist unsere Rettung!"
Mit Hilfe der EC- Karte verschafften sich unsere nun nicht mehr göttergleichen sondern eher durchfroren- ernüchterten Helden Einlass ins gewärmte Paradies. "Wahnsinn!!! Wärme!!!" riefen sie entzückt aus, Sven rollte sich in der Ecke zusammen, Gregor direkt unter dem EC- Automaten. Dort fanden sie Ruhe und Geborgenheit bis...
Ja, bis um acht Uhr der erste Kunde den Raum betrat. Das muss ein verständnisvoller und toleranter Mensch gewesen sein, oder vielleicht hatte der auch nur Angst vor den finsteren Gestalten mit den rotunterlaufenen Augen und dem wirren Haar.
Gregor sah zu ihm auf und machte Anstalten.
"Nee, nee, bleiben sie ruhig liegen," sagte der Mensch und beugte sich vor, um seine EC- Card einzuschieben.
Wer jemals den Film "Blues Brothers" gesehen hat und sich an die Eingangs- Sequenz erinnert, in der John Belushi sich von der Linie aus vorbeugt, um nach Knastaufenthalt seine Sachen zurückzukriegen und zu unterschreiben, der kann sich vorstellen, wie das ausgesehen haben muss.
Der Mann verließ nach getätigtem Geschäft die Bank, doch mit der Ruhe war es vorbei. Die FLYING SUIZID BROTHERS rappelten sich auf und betraten erneut die Borkumer Szene, um frische Luft zu schnappen.
Man trieb sich in der Fußgängerzone (die beinahe die ganze Stadt umfasst) umher, schaute hier ein bisschen, dort ein bisschen, und dann, wie es der Teufel will, stieß man auf Brigitte, die auf dem Weg war, sich ein Frühstück zu besorgen. Die FLYING SUIZID BROTHERS schlossen sich willfährig an. Man fand eine geeignete Lokalität und ließ sich nieder. Brigitte bestellte sich ein Frühstück, Gregor und Sven auch.
Sven meinte, er müsse "was im Magen haben", nahm eine Hühnersuppe und ein Bier.
Gregor beließ es bei Bier und ein oder zwei seiner geliebten Psychopillen, was bei den anderen beiden doch zu hochgezogenen Augenbrauen führte. Man plauderte. Und dann geschah etwas Merkwürdiges.
Gregor, der seit längerer Zeit wohl Willens, aber aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage ist, zu arbeiten, stellte der sehr an ihm interessierten Brigitte die Frage, die er selbst seit einiger Zeit bei gesellschaftlicher Konversation zutiefst verabscheut und Panik bei ihm auslöst:
"Sag mal, was machst Du eigentlich so? Ich meine beruflich?"
"Tja," sagte die, "ich bin Diplompsychologin."
"Nein," schrie da unser Held, "nein, das darf ja wohl nicht wahr sein! Ich bin doch hier, um allen Schrumpfköpfen mal aus dem Weg zu gehen, und jetzt das! Wenn Du gesagt hättest: Floristin, oder meinethalben auch Försterin, das wäre Okay. Aber Diplompsychologin! Ausgerechnet!"
Es gab großes Gelächter am Tisch, und man verstand sich weiter prächtig. Adressen wurden ausgetauscht, das Trio Infernale machte noch einige Zeit die Insel unsicher, aber moderater als am Vortag, dann wurde es Zeit für die FLYING SUIZID BROTHERS, die Inselbahn zu besteigen und zum Hafen zu fahren. Nach einem schaudernden Blick auf die Bahnhofsbänke zockelte man zum Schiff.
Borkum verschwand achteraus im Nebel.
Sven erschien mit dem ersten sixpack Bier und ließ sich neben Gregor nieder. "Zisch," machte die ersten beiden Flaschen.
"Ein seltsames Wochenende," meinte Gregor, "irgendwie nicht der Bringer."
"Aber auch auf eine Art gut, wenn auch zum Schluss sehr kalt, und Du musst Dich gerade beklagen! Für Dich war das doch prima. Wenn ich an mich und Lorena denke! Du hast doch die besten Aussichten!"
Eine lange, sehr lange Pause entstand. Zwei weitere Flaschen wurden geöffnet. Die Augenlieder wurden schwer.
"Ich glaube," sagte Sven, "wenn ich im Zug sitze, dann schlafe ich erst mal ´ne Runde."
"Ich auch," sagte Gregor.
Und so geschah es.
Ps.: Brigitte meldete sich schon in der nächsten Woche bei Gregor.
(emdé)