Die Flucht
Eines stand fest. Hartmut Samuel Ockelbeck, genannt Mutz, war heute nicht bereit, zu sterben. Es blieb ihm keine andere Wahl, als sich schnellstens zu beruhigen. Aber wo war Foster?
In eine solche Lage hatte er sich in seinen ganzen vierzehn Lebensjahren noch nie begeben. Doch er musste hier weg. Er würde es kein weiteres Mal aushalten. Gehetzt flog sein Blick über das Gelände. Sein Herz raste und er nestelte hektisch am Verschluss seiner Hosentasche herum. Mit der freien Hand ließ er behutsam die eiserne Hintertür des Gutshauses ins Türschloss klicken. Trotz des geschäftigen Treibens auf dem Bauernhof empfand er für den Bruchteil einer Sekunde ein Gefühl von erholsamer Stille.
Matschig sammelte der zähe Lehmboden den Regenguss der vergangenen Nacht in großen Pfützen. Aber der weite, blaue Frühlingshimmel kündigte für heute warmes und trockenes Wetter an. Einige Feldarbeiter krempelten schon die Hemdsärmel hoch. Mutz liebte den Geruch der feuchten Erde. Der lehmige Untergrund war nicht leicht zu bewirtschaften, doch in dem matschigen Zustand weitaus besser als im Hochsommer. Hatte die Sonne erst einmal die Feuchtigkeit aus dem schwammigen Boden herausgesogen, bildeten sich Risse und die Erde wurde hart wie Stein.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte er den Gemüsegarten ab. Hier hinter dem Haus konnte ihn niemand entdecken. Glück gehabt, dachte er. Er war allein.
Nur Foster fehlte.
Sein Atem pfiff und der Brustkorb hob und senkte sich hektisch und unrhythmisch - gleich würde der Anfall ausbrechen. Das beklemmende Gefühl schnürte ihn bereits ein, kroch die Brust hoch und würgte seinen Hals.
Atme – beruhige dich – atme, beschwor er sich.
Tastend schob er seine Hand in die andere Tasche der Latzhose. Seine ungeduldigen Finger erfühlten das alte Kaugummi, das er gestern, am letzten Schultag vor den Ferien, hastig vor Unterrichtsbeginn aus dem Mund genommen hatte. Es klebte sekundenlang am Daumen, bevor er es am Innenstoff der Hosentasche abstreifte. Ein flüchtiges Grinsen huschte über sein Gesicht. Nur knapp war er damit einem erneuten Klassenbucheintrag entkommen. Herr Zirwulf, sein Klassenlehrer, hatte es auf ihn abgesehen, seit er im vergangenen Herbst während des Unterrichts schmatzend in sein Käse-Brot gebissen hatte. Er liebte Käse-Brote. Oftmals blieb keine Zeit für ein ausgiebiges Frühstück, wenn er schon vor Sonnenaufgang aufstehen musste, um auf dem Feld oder im Stall mitzuhelfen.
Tiefer in der Tasche erfühlte er das alte Baumwoll Taschentuch seines Großvaters. Er berührte sanft das abgewetzte Stück Stoff mit dem blauschwarz verschnörkeltem «S». Dass er mit Zweitnamen den Namen seines Opas trug, störte ihn kein bisschen. Jetzt waren schon acht Monate vergangen, seit man Mutz in den kratzigen abgetragenen Anzug seines Cousins Hans gesteckt hatte und er an das offene Grab getreten war.
Er zog das Taschentuch heraus und rümpfte die Nase. Es müffelte nach Käse-Brot und Kuhspucke. Er erinnerte sich, seine Hände daran abgerieben zu haben. Vor Schulbeginn war er zu den Milchkühen gelaufen, um nach dem Gebiss der alten Hetta zu sehen. Einer ihrer Zähne faulte. Zäher gelber Speichel sabberte aus ihrem Maul. Um die entzündete Stelle zu kühlen, hatte er taufrisches Gras von der Weide auf das eiternde Zahnfleisch gelegt. Hetta dankte es ihm mit einem erleichterten Muhen und rieb den riesigen Kuhkopf an seiner Schulter. Augenblicke wie diese bestätigten ihn in seiner Entscheidung, auch einmal Landwirt zu werden.
Aber nicht solch einer, wie sein Vater!
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als seine Finger das flauschige Pelzknäuel streiften. Er hatte es im Hühnerstall entdeckt. Als er feststellte, dass es kein zusammengekrümmtes Küken war, war seine Besorgnis dem Drang gewichen, das Fellknäuel zu behalten. Er trug es seitdem immer bei sich und hatte es Gloohkie getauft. Gloohkie konnte er alles erzählen – er war ein prima Zuhörer, ohne blöde Kommentare von sich zu geben. Wenn etwas einen Namen bekam, hatte es eine Seele. Davon war er überzeugt. Sein Vater gab noch nicht einmal den Tieren einen Namen.
Da, endlich, fanden seine Finger die kleine Spraydose mit dem pinkfarbenen Plastikmundstück. Er hatte die folgenden Schritte in den letzten zwei Jahren schon viele Male wiederholt. Schutzkappe vom Mundstück entfernen, langsam und tief ausatmen, Mundstück mit den Lippen umschließen und Sprühstoß auslösen. Es dauerte nur wenige Sekunden und sein Atem beruhigte sich spürbar. Die Muskulatur in den Bronchien entkrampfte sich. Auf sein Asthmaspray war Verlass.
Er steckte Foster zurück in seine Hosentasche und blickte sich um. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Er musste sich aus dem Staub machen, bevor sein Vater ihn fand. Das war die einzige Chance, der Viehauktion in Neudorf zu entkommen.
Mutz stieß einen Seufzer aus. Jeden ersten Freitag im Monat hielt man die Tierversteigerungen im benachbarten Neudorf ab. Dann bevölkerten Zugpferde, Milchkühe, Zuchtschweine, Legehennen und Wildgänse den alten Marktplatz. Sogar ein Teil der Flussuferpromenade wurde mit frischem Heu ausgelegt, Pfosten aufgestellt und Taue dazwischen gespannt, so dass kleine Parzellen entstanden. Hier trieben Gesellen das Mastvieh zusammen und jeder Viehhändler pries mit lauter Stimme seine Vierbeiner als die prächtigsten Tiere im Umkreis von ganz Neudorf an. Mutz hatte früh gelernt, dass man es bei einer Auktion besser bleiben ließ, sich gedankenverloren über den roten Bürstenschnitt zu wuscheln, wie er es immer gerne in unangenehmen Situationen tat.
Damals war alles sehr schnell gegangen. Der Hammer des Auktionators sauste mit kräftigem Schlag auf das hölzerne Stehpult, man zeigte auf ihn, Männer klatschten und für wenige Stunden war Mutz Besitzer eines stattlichen Zuchtbullen. Der Widerruf war schwer durchzusetzen und erforderte eine Menge Bürokratie - und wie so oft Ärger mit seinem Vater.
Sein Vater besuchte die Ausstellungen regelmäßig und verlangte, dass Mutz ihn begleitete. Aber anstatt über paarungswillige und makellose Zuchtbullen zu fachsimpeln, wie man von ihm erwartete, verkrampfte sich jedes Mal sein Magen. Er hatte nur Augen für die gestressten Tiere, die eine lange Anfahrt in beengten Transportern zurückgelegt hatten und ihn panisch aus blutrot unterlaufenen Pupillen anstarrten.
Diese Tage endeten immer gleich. Sein Vater bezweifelte, dass aus Mutz jemals ein tüchtiger Viehbauer werden würde, da er scheinbar zu verweichlicht war. Er war enttäuscht von sich, da er wieder einmal kein einziges Tier retten konnte und Vater und Sohn waren geschafft von dem ermüdenden Tagesverlauf, der genauso endete, wie es beide erwartet hatten.
Wie ein Storch überstieg Mutz jetzt die ausladenden Blumenkohlpflanzen, die seine Mutter im Winter gezogen und vor wenigen Tagen eingepflanzt hatte. Im Sommer würde der Blumenkohl in sattem Weiß glänzen und die mit Wasser vollgesogenen dunkelgrünen Blätter den zarten Röschen einen geeigneten Schutz vor der Sonne bieten. Bis zum Gartentor war es nicht mehr weit. Gleich hatte er es geschafft. Dann musste er nur noch den Feldweg entlanglaufen und schon würde er zu dem alten Brauhaus gelangen. Bis zum Spätsommer hatte das leerstehende Gebäude eine ideale Rückzugsmöglichkeit geboten. Es war sein geheimer Ort, wenn er genug von Vater und den vielen Pflichten hatte. Er nahm sogar in Kauf, dass er in dem alten Gemäuer ab und an der vorlauten Gina aus seiner Klasse begegnete. Manchmal war ihm dort auch Benno Renneberg mit den Tetzlaff Brüdern über den Weg gelaufen. Im Spätsommer hatten Handwerker mit Renovierungsarbeiten im alten Brauhaus begonnen und im Winter zog ein Fremder aus der Stadt dort ein. Vor Kurzem hatte dieser seine Frau mit Tochter nachgeholt.
Mutz fand zum Glück schnell eine neue Zuflucht. Einen Bauwagen. Er gehörte zu den Bauarbeitern, die an der Sanierung des Brauhauses gearbeitet hatten. Bei seinen Beobachtungen stellte er fest, dass der Wagen nur dienstags, mittwochs und donnerstags genutzt wurde. Hineinzukommen, war ein Kinderspiel. In Hutswing verschloss nie jemand seine Scheune oder den Schuppen. In dem Hohlraum der Sitzbank des Bauwagens, warteten seine Aufzeichnungen über moderne Viehhaltung.
Er hob seine Füße und gab sich Mühe, dass die Gummistiefel keine Abdrücke im Gemüsegarten hinterließen. Die Schuhsohlen quatschten auf dem matschigen und unwegsamen Boden.
«Hartmut Samuel Ockelbeck- verdammt, wo steckst du, Junge? Komm her, wir wollen los.»
Polternd zerriss die wütende Stimme seines Vaters die konzentrierte Stille. Mutz schreckte aus seinen Gedanken auf. Er verlor das Gleichgewicht. Verzweifelt ruderte er mit den Armen, um wieder zum Stehen zu kommen. Sein rechtes Bein landete unsanft im Kräuterbeet neben den Blumenkohlsetzlingen. Der gerade mit ersten hellgrünen Stängeln erwachte Schnittlauch sank traurig zu Boden. Mit dem linken Bein federte er sein volles Gewicht auf dem Oreganobusch ab. Das Profil seines Gummistiefels war deutlich in dem lehmigen Beet zu erkennen.
«Mist» entfuhr es ihm, «Mist, Mist, Doppel-Mist!» Was für eine Katastrophe!
Den Kräuter-und Gemüsegarten hatte seine Mutter mit Hingabe angelegt. Malisa Ockelbeck zog die Pflanzen in den Wintermonaten unter umgestülpten Einmachgläsern heran. Die teils seltenen Heilpflanzen wie Ysop, Tausendgüldenkraut und Yacon waren Ableger der Mutterpflanzen vom Alten Woodie. Er war froh, dass er meistens in der Schule war, wenn dieser eigenbrötlerische Kauz seine Mutter besuchte, der in einem winzigen Haus am Waldrand wohnte, das noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte.
Mutz lauschte den Geräuschen des Gutshauses nach, aber zwischen dem Küchenlärm und dem Hacken von Holz im Hof war die Stimme seines Vaters kein zweites Mal heraus zu hören. Automatisch fuhr er sich mit der rechten Hand über den Bürstenhaarschnitt. Dann gab er sich einen Ruck und wischte aufsteigende Schuldgefühle beiseite. Die Spuren waren verräterisch. Er begrub die Hoffnung, dass seine Mutter ihn, wie schon oft, vor seinem Vater in Schutz nehmen würde. Die missglückte Flucht durch das Kräuterbeet nahm sie ihm so oder so übel und eine Strafe war nicht zu umgehen. Er riss sich zusammen und stieg behutsam über die restlichen Gemüsepflanzen, damit nicht noch mehr bei seinem Ausreißversuch schiefging.
Endlich hatte er das Gartentor erreicht und schlüpfte hinaus.
Geschafft!
Der angenehme Teil des Tages konnte beginnen.