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Die Flucht
Sie saß in der großen Halle.
Ein wenig Glück, in all dem ganzen Unglück, dem sie begegnet war.
Allah sei Dank war sie in dieser Halle, nicht in einem Zelt, in dem sie und ihre kleine Tochter vor Kälte schlottern würden.
Wehmütig dachte sie an ihre warme, zum Teil sehr heiße, Heimat zurück. Sofort katapultierte sie sich wieder in die große Halle zurück
Razal wollte nicht weinen, nicht schon wieder. Sie hatte in den letzten Wochen und Monaten schon zu viel geheult.
Zuerst auf dem kleinen, undichten, stetig schwankendem Boot. Sie hatte so viel Angst um das Leben ihrer kleinen, noch so jungen Tochter, dem letzten Schatz der ihr geblieben war.
Stetig kotzten irgendwelche Menschen, die mit in dem Boot saßen, schrien um Hilfe wenn Wellen über die Reling schlugen, oder sie von den Schleusern bedroht wurden, die ihre Waffen durchluden und die Mündung direkt an die Köpfe der Menschen hielten. Ihnen war es egal ob es Männer, Frauen Kinder oder Babys waren, die sie bedrohten, es war nur wichtig, dass der Bedrohte still war.
Razal legte sich zurück auf ihre Pritsche.
Fadia, ihre Tochter hatte zwar eine eigene, lag aber meist bei ihr und kuschelte sich eng an sie.
Die große Halle soll einmal eine Sporthalle gewesen sein. Sollten sie und alle anderen Flüchtlinge einmal nicht mehr hier sein so würde zumindest der Boden erneuert werden müssen.
Hunderte von weiteren Pritschen standen in diesem Raum. Da nicht alle Benutzer so leicht waren wie sie und ihre Tochter, hinterließen diese Schlaflager eindeutige Abdrücke in dem grauen weichen Kunststoffboden.
Das war allerdings kein Problem mit dem Razal sich beschäftigen würde.
Sie hatte ganz andere Ängste.
Als sie mit ihrer kleinen Fadia wieder festen Boden unter den Füßen hatte dachte sie, jetzt würde alles besser, es würde keine Probleme mehr geben, die ihr das Leben schwer machen würde. Aber schon Minuten später wurde sie eines besseren belehrt.
Razal erfuhr, dass sie nicht an diesem Ort bleiben durfte, sie musste weiter.
Ihre Reise sollte noch sechs weitere Monate andauern. Zu Fuß, mit Bussen, aber am schlimmsten war es noch einmal auf ein Boot zu steigen.
Fadia weinte fast ununterbrochen. Sie weinte sich in den Schlaf.
Dann endlich waren sie am Ziel, bei den ungläubigen Deutschen, aber wenigstens waren die nicht brutal wie die ISIS.
Eigentlich wollte sie es nicht aber durch die Gedanken an die ISIS war sie wieder in ihrer alten Heimat gefangen.
Ihre Tränen flossen ohne, dass sie es bemerkte oder gewollt hatte. Fast wie in einer Vision durchlitt sie erneut die Gründe ihrer Flucht.
Die Erinnerungen waren so schmerzhaft.
Razal war erst 15 als sie mit Hamed verheiratet wurde. Er war 10 Jahre älter. Sie hatte ihn nur ein oder zwei Mal gesehen. Meist auf irgendwelchen Familienfeiern.
Als sie erfuhr, dass sie ihn ehelichen sollte bekam sie unsagbare Angst.
Im Vergleich zu den später, bevorstehenden Ängsten war dieses aber nur ein leichtes Unwohlsein.
Erst als sie Damals, mit der Zeit bemerkte dass ihr unbekannter Gatte sehr liebenswert und nett war wurde sie ruhiger.
Nach einigen Monaten verliebte sie sich sogar in ihren Mann.
Die kommenden Jahre waren die schönsten in ihrem Leben.
Bittersüß erinnerte sie sich an ihren geliebten Hamed, der ihr Günaidin, ihren Sohn und ihre Tochter schenkte.
Natürlich gab es auch tränen, aber die waren schnell getroknet.
Fast acht Jahre lebten sie, sicher und zufrieden in dem kleinen Dorf in Syrien, aber dann kamen die Kämpfer der ISIS.
Zu Anfang dachten beide, sie und Hamed, es könne nicht so schlimm werden schließlich waren sie alle Muslime und glaubten an Mohamed, den letzten Propheten und die friedlichste Religion der Welt. Nur hatte die ISIS nichts Friedliches an sich.
Zuerst war es Hamed, ihr geliebter Hamed, der von Flucht sprach. Natürlich verspürte auch Razal die Unsicherheit, aber sie hatte zwei kleine Kinder zu versorgen und wollte nicht sofort alles stehen und liegen lassen nur weil es einige Hunde gab, die friedliebenden Menschen das Leben schwer machten.
Genau diese Worte waren es, die sie zu Hamed gesagt hatte, als er zum ersten Mal vom Fortgehen sprach. Immer wieder sprachen sie darüber bis auch Razal die Notwendigkeit einsah.
Und wieder stiegen die grausamen Bilder der letzten Stunden, in ihrer Heimat in ihr auf, die sie in den letzten Tagen so häufig durch litten hatte. Mindestens fünf Mal musste sie das Blut, dass Leid und die Tränen durchleben, weil alle möglichen Menschen hören wollten, oder mussten, welches Schicksal sie durchleben musste. Schon wieder waberten ihr diese Bilder durchs Hirn, ohne dass sie es wollte.
Traurig, mit verheulten Augen schaute sie auf. Das kleine, schlafende Mädchen lag halb auf ihrem Bauch. Sie war das einzige was ihr von ihrer Familie geblieben war.
Sie hatten ihre Taschen schon gepackt. Alles war bereit. Am nächsten Morgen, bei Sonnenaufgang sollte es los gehen.
Aber in dieser Nacht zerbrach ihre Welt.
Überall, um ihr Haus herum schlugen plötzlich todbringende Granaten ein. Das gesamte Haus wackelte. Alles was nicht fest verdübelt war kippte um. Die Dinge, die verdübelt und fest waren brachen trotzdem aus den Verankerungen. Es gab nichts heiles und ganzes mehr in ihrem Haus. Selbst das Haus schien jeden Moment zusammen brechen zu wollen.
Hals über Kopf flüchteten sie, so wie sie waren aus ihrer Behausung, die sie über Jahre ihr Heim nennen durften.
Schreiend und kreischend rannten sie geradewegs in den nächsten Granatenhagel.
Razal spürte einen beißenden Schmerz an ihrem Fuß. Zuerst nur am großen Zeh. So als ob er gegen einen großen harten Stein gestoßen wäre. Dann aber spürte sie den Schmerz am ganzen Körper. Sie schlug der Länge nach in einen der frischen Granatentrichter.
Plötzlich war alles still und dunkel. Die Schmerzen waren fort. Sie hatte das Bewusstsein verloren.
Razal war nicht klar wie lange sie dort so gelegen hatte, aber sie wusste dass sie noch lebte, denn die unsäglichen Schmerzen waren wieder da. Sie hatte das Gefühl auseinander gerissen zu werden.
„Mama?“ Die Stimme riss sie aus ihren Qualen. Ächzend, mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte sie sich zu ihrer Tochter um. Der Anblick schnürte ihr regelrecht die Kehle zu. Ihr Kind war von oben bis unten mit blutigem Schlamm beschmiert.
Sie bemerkte nicht dass die Kämpfe um sie herum aufgehört hatten.
Hecktisch untersuchte sie ihre Tochter und stellte erleichtert fest, dass das Blut nicht von ihr war.
Erfreut riss sie ihre Tochter hoch und schloss sie ungeachtet ihrer Schmerzen, die sie nicht mehr spürte, in die Arme. Verzweifelt sucht sie ihre Tränen fort zu drücken. Da traf es sie umso schlimmer.
Über die Schultern ihres kleinen Mädchens hinweg erblickte sie die zerfetzten Überreste ihres Mannes. Seine offenen, leblosen Augen starrten sie aus einem körperlosen Schädel her an.
Ihr Geist schrie, tonlos seinen Namen. Ihr Körper verkrampfte und sie bekam keinen Laut heraus.
Sehnsüchtig sucht sie, mit ihren Augen nach Hameds sterblichen Überresten, als sie ein Bein bemerkte, welches nicht dort hingehörte.
„Günaidin?!?“ Das Wort kam wirklich aus ihrem Mund. Sie sah sich um. Hecktisch robbte sie zu dem blutigen Schlamm unter dem sie ihren Jungen vermutete. Mit bloßen Händen schaufelte sie in dem Aufgeworfenem Dreckhaufen nach ihrem Sohn.
Mit zittrigen Fingern legte sie das Gesicht des Jungen frei.
`Er Atmet´, schoss es ihr durch den Kopf.
Stöhnend kniete sie sich hin, bettet seinen Kopf in ihrem Schoß.
„Mama“ röchelte er kaum hörbar.
„Ich bin da, mein Sohn. Ich bin da.“
Sein Atem ging rasselnd. Nasse, rosige Bläschen kamen ihm aus Mund und Nase.
„Mama, ich hab Angst.“ Zuerst verstand sie ihn nicht. Dann aber reimte sie sich zusammen was er gesagt haben musste.
Verzweifelt rannte ihr Hirn nach einer Lösung um ihren Jungen zu retten. Aber alles was ihr in den Sinn kam war falsch. Es wäre nur in Friedenszeiten möglich gewesen.
„Ich bin da ganz allein wenn ich sterbe!“
Heiß und Kalt durchfuhr es sie.
Mit einem Mal wusste sie es. Sie wusste was zu tun war. So verzweifelt sie auch war, so kalt und klar war der Gedanke der ihr in dem Augenblick gekommen war.
Sanft strich sie ihm durch das schlammig, schmutzige Haar. Ganz dicht beugte sie sich an sein Ohr.
„Du bist nicht allein. Papa wartet schon auf dich. Er ist schon da.“
Ihre Stimme versagte fast bei den letzten Worten. Sie hörte Günaidin noch zwei Mal rasselnd Atmen, dann war es still.
Wie lange sie ihren toten Sohn noch hielt konnte sie nicht mehr sagen. Irgendwann spürte sie die wohlige, lebendige Wärme ihrer Tochter Fadia.
Nur langsam kam sie wieder in die brutale Realität zurück.
Es war nicht warm, wie in Syrien aber doch nicht so kalt wie auf dem Weg in dieses gelobte Land.
Razal war zu sehr Realist geworden um dem Märchen vom dem unendlichen Geld, den Autos und der guten bezahlten Arbeit, die jeder Flüchtling erhalten sollte, Glauben zu schenken.
Dennoch hatte sie es nur selten gewagt den Männern entgegenzutreten, die diese Lügen verbreiteten. Sie wollte nicht auch noch das Leben ihres letzten Schatzes aufs Spiel setzten, genauso wenig wie ihr eigenes.
Hier in diesem Flüchtlingslager hatte sie sich zum ersten Mal getraut. Sie hatte versucht Neuankömmlingen zu erklären, dass dieses hier nicht das Schlaraffenland ist und die falschen Islamisten würden auch hier in Deutschland ihren Terror verbreiten. Es sein nur noch eine Frage der Zeit.
Ein Mann der ihr Gespräch mit den anderen Flüchtlingen belauscht hatte, meinte sie sollte sich doch gefälligst keine Meinung über etwas bilden, von dem sie als Frau keine Ahnung habe. Die Leute von der ISIS sein schließlich die einzigen wahren Islamisten.
Auf die Rückfrage warum er dann hier sei und nicht bei der ISIS, erntete sie einen so dermaßen hasserfüllten Blick, dass sie umgehend zwei Schritte rückwärtsging. Razal glaubte der Fremde würde sie umgehend umbringen wollen.
So einen Hasserfüllten Blick hatte sie nur einmal in ihrem Leben gesehen.
Es war hier in der Sporthalle, an einem aufgestellten Fernseher. Es lief ein Bericht über Deutschland. Viele Leute waren zu sehen, die demonstrierten. Wofür oder wogegen wusste sie nicht. Sie sah viele Männer mit kahlen Schädeln oder kurzgeschorenen Haaren, mit Fahnen in der Hand, meist Rot mit weißem Kreis in der Mitte und irgendwelchen schwarzen Symbolen darin.
Hören konnte sie den dazugehörigen Bericht nicht, dafür war sie zu weit entfernt. Zu viele Menschen hatten sich in die vordersten Reihen gedrängt. Aber einer der Männer, in diesem Bericht, würde ihr nie wieder aus dem Gedächtnis gehen. Er hatte auch diesen tödlich, vernichtenden Blick, der das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte.
Noch bevor der Fremde seine Wut an ihr auslassen konnte stellte sich ein weiterer Mann schützend vor sie und schrie den Fremden an.
Der Fremde solle gehen und es nicht wagen eine Frau, die Mann und Sohn durch die radikalen Islamisten verloren habe so zu beleidigen. Der aggressive Fremde ging und murmelte dabei etwas von Frauen, die es nicht wert sein unter Allahs Sternen zu weilen.
Razal besah sich ihren Retter und erkannte in ihm einen der Übersetzter, der ihre traurige Geschichte schon einmal gehört, verstanden und ins Englische übersetzt hatte.
Sie wusste nicht ob sie ihn Ohrfeigen oder aus Dankbarkeit umarmen sollte. Er hatte zwar ihr Geheimnis verraten, sie aber auch in Schutz genommen. Daher war sie mehr dankbar als verärgert über den Verrat.