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Die Flucht
Bei allem Ärger, den John am Hals hatte - ein wenig Freude kam schon auf. Das Knistern der Ladespulen setzte bei ihm eine Extraportion Endorphine frei. Das Display der Kontrolleinheit zeigte den Fortschritt des Ladevorgangs, der binnen Sekunden abgeschlossen sein würde. Die Seymour war bereits in Reichweite und für das hochintelligente Zielerfassungssystem seines Electrolyzers leichte Beute.
Kommt schon, ihr Arschgeigen. Zeigt mir Eure Schokoladenseite!
Langsam führte die Automatik den Geschützturm entsprechend der Flugbahn des Bombers mit. Das System wartete nur auf Johns Befehl, den er mit dem etwas altertümlich anmutenden Abzugshebel geben müsste. Danach würde sich die Seymour in einer Staubwolke des Wohlgefallens auflösen und seine Probleme wären Geschichte. Er wartete noch kurz bis das Schiff auf voller Breitseite in der Zielerfassung zu sehen war und drückte entschlossen den Abzug. Sein Mundwinkel verzog sich zu einem angedeuteten Grinsen. Die Kanone entlud ein mächtiges Gewitter aus tiefblauen Funken und Blitzen, sodass für einen kurzen Moment nichts auf dem Display zu erkennen war. Das Bild normalisierte sich und die Seymour war weg.
Fahrt zur Hölle ihr…
Etwas riss ihn zur Seite. Er spürte nur die brachiale Beschleunigung, dann hörte er einen brechenden Donner und es wurde dunkel und still.
„Mr. Smith. John?“ Es hörte sich an, als versuchte jemand mit Watte im Mund zu sprechen. „Können Sie mich hören?“ Er öffnete langsam seine schmerzenden Augen. Einen kurzen Moment dachte er, er wäre bereits im Jenseits. Zumindest entsprach die Situation in etwa der vagen Vorstellung, die er davon hatte. Das Tageslicht blendete ihn stark und er nahm nur verschwommene Umrisse war. Doch dann klärte sich sein Blick und er erkannte den Mann der gerade im Begriff war, ihm in den Oberarm zu kneifen.
„Oh, Mr. Smith! Die Seymour ist unversehrt davongekommen. Irgendwie haben die Ihren Beschuss überstanden und sofort mit einer Gegenoffensive geantwortet.“
Es wahr Johannson, der Plasmatechniker, den sie vor zwei Wochen zum Dienst auf der Station eingeteilt hatten. Soweit John wusste, machte der Mann seine Arbeit gut. Jedenfalls hatte das Versorgungssystem endlich einwandfrei funktioniert, seit der dürre Nerd die Verantwortung dafür trug.
„Mindestens vier Katalytbomben haben sie abgeworfen. Die Basis ist nahezu vollständig zerstört.“
Diese Arschlöcher!
Langsam richtete John sich auf. In seinem Schädel pochte es. Sein Gehör schien sich nur langsam zu erholen. Neben der dumpfen Geräuschkulisse und Johannsons Wattestimme nahm er ein schrilles, aber leises Pfeifen wahr. Er kannte das nur zu gut, schon oft hatte er in Gefechten beinahe seinen Hörsinn eingebüßt. Auf jeden Fall hörte er bei weitem nicht mehr so gut als noch zu seinen Glanzzeiten - wann immer das war. Bei jeder Bewegung spürte er seine Knochen. Es hatte ihn ganz schön erwischt.
„Sie können von Glück sagen, dass Sie das überlebt haben.“ Johannson kniff die Augen mitleidvoll zusammen. „Die erste Druckwelle hat sie wohl hier runter geschleudert“, schlussfolgerte er in einem winzigen Anflug von Begeisterung.
Jetzt erst begriff John wo sie sich befanden: der Lichtgraben für die Besprechungsräume im Untergschoss des Hauptgebäudes. Die Detonation hatte ihn also mindestens fünfundzwanzig Meter weit katapultiert.
Tja, Alter. Du hältst halt doch noch einiges aus.
„Aber das war ihr Glück. Die nächsten Explosionen haben die Basis dem Boden gleichgemacht.“ Er riss die Augen auf, als hätte er die Zerstörung gerade noch einmal erlebt.
„Gibt es weitere Überlebende?“, fragte John routiniert.
„Sie sind der erste, den ich gefunden habe“, antwortete der Ingenieur resigniert.
John kroch aus dem Graben und half dem Techniker, nachzukommen. Von der Basis war nur noch ein Trümmerhaufen übrig. Er vermutete, dass die Untergeschosse noch halbwegs intakt waren, aber allzu große Hoffnungen machte er sich nicht. Klar, mehrere kaltsprengende Katalytbomben, dafür war die Station nicht gerüstet. Die Verteidigungssysteme beschränkten sich auf den Electrolyzer und ein paar tragbare Waffen in einem abgeschlossenen Schrank. Gegen Bomben waren sie machtlos.
John hätte nie gedacht, die Station einmal gegen seine eigenen Leute verteidigen zu müssen. Und noch weniger, dass er versagen würde. Wie hat es die Seymour eigentlich geschafft, der Electrolyzer-Ladung zu entkommen? Das Zielsystem hatte den Bomber doch erfasst?
„Wie lange ist der Angriff her?“ Für persönliches Geplauder hatte John in dieser Situation keinen Nerv. Auch der schüchterne Techniker zeigte keine Lust auf Small-Talk. Er hatte vielmehr eine Scheiß-Angst.
„Zwanzig Minuten etwa.“
Wenn jetzt noch kein Bodenteam da ist, heißt das wir sind sicher. Vorerst. Mit etwas Glück funktioniert das EES noch und wir kommen von diesem verdammten Klumpen runter.
John versuchte sich zu orientieren. Sie mussten nur einen der Eingänge zum Emergency Evacuation System finden. Die Kapsel würde dann etwa hundert Kilometer durch den nahezu parallel zur Oberfläche angelegten Tunnel geschossen werden um sich anschließend selbstständig auf den Weg zur nächsten Basis zu machen. Das könnte zwar ebenfalls zu einem Problem werden, denn er wusste nicht, wie weit die Infiltration von Altech schon fortgeschritten war. Aber bleiben und abwarten kam ebensowenig in Frage.
Die Rettungsprozedur hatte er im Laufe der Jahre schon zweimal mitgemacht. Falls man kein Raumfahrer oder Testpilot war, blieb einem bei so einer Evakuation die Spucke weg. Wie es um Johannson stand, wusste er nicht. Er verzichtete darauf, es herauszufinden, hatte aber kurz ein Bild des bleichen Technikers im Kopf, dem bei der Beschleunigung der Atem stockte.
„Da drüben zwischen Hauptgebäude und Lager müsste eine EES-Luke sein“, teilte er trocken mit. Er wirkte, als hätte er diese Situation schon zigmal durchgespielt. Dabei war es gerade mal zwei Stunden her, seit er die Verschwörung bei Altech aufgedeckt hatte. Er wollte sich eigentlich zur Ruhe setzen. Doch die Abteilung für interdisziplinäre Raumforschung konnte ihn überzeugen, eine letzte Mission zu übernehmen. Es war auch zu verlockend, das Energieproblem der Menschheit wäre gelöst gewesen. Und er hätte seinen Beitrag als Beschützer des wichtigsten Außenpostens dazu geleistet. Er wäre dann mit einem großartigen Gefühl abgetreten. Doch jetzt spielte nur das Überleben eine Rolle. Um die Arschlöcher von Altech würde er sich später kümmern.
„Wir holen die Waffen aus dem Lager. Vorräte sind in den EES-Kapseln.“
Johannson nickte. Er schien froh zu sein, dass John wusste was zu tun war. Er lies seinen Blick über das Trümmerfeld wandern.
„Glauben Sie, dass das hier jemand überlebt hat?“
Zur Zeit des Angriffs waren wir insgesamt sieben Leute auf der Station. Johannson werkelte wohl in einem Engergieschacht rum. Marek und Jana waren im Labor. Soyan und dieser komische Alien - wie hieß er noch? - arbeiteten am Antennensystem. Bleibt nur noch Dr. Steward. Ihn konnte man eigentlich nur im Büro oder im Labor antreffen…
„Nein.“ Er lies sich seine Betroffenheit nicht anmerken. Trotzdem ballte er die Fäuste bis seine Knöchel weiß wurden. Seine Wut drohte, die Kontrolle zu übernehmen. Der alte Haudegen hatte kein Problem damit, einen Bösewicht umzulegen, aber er hasste es, wenn es Unschuldige erwischte. Er wusste, wie unnötig es war, all diese Leute zu opfern. Seine Auftraggeber wollten wohl gründlich sein und alle Spuren beseitigen.
Voll bepackt mit den Waffen aus dem Schrank gingen die beiden Männer den EES-Schacht entlang. Aus jedem Gebäude führten Schächte zu der Abschusskammer, was dem System den Spitznamen „Labyrinth“ einbrachte. Dafür gab es an den Schachträndern leuchtende Pfeile, die den kürzesten Weg zur Abschusskammer anzeigten. In der Kammer wirkte alles so friedlich. Die Vorstellung, dass die komplette Station zerstört und sie die einzigen beiden Überlebenden waren, wirkte abstrakt und bizarr. John wollte beinahe zurücklaufen, um sich davon zu überzeugen, dass es wirklich geschehen war. Die Luken der drei Kapseln standen offen. Neben jeder Türe prangte ein kleines Display, das den Systemstatus anzeigte - alles war in Ordnung. Smith bedeutete Johannson, die mittlere Kapsel zu besteigen, und kroch hinterher.
„Evakuierung von zwei Personen. Bitte nehmen Sie ihre Plätze ein und schnallen Sie sich an.“ Die Computerstimme gab sich wie eine Flugbegleiterin auf einem Urlaubsflug. Sobald beide ihre Gurte angelegt hatten, verriegelte das EES die Luke automatisch und schoss die beiden ins All.
Nachdem die schlimmste Phase der automatischen Evakuierung vorbei war, konkretisierte sich in Johns Geist ein beissender Gedanke. Etwas kam ihm schon die ganze Zeit merkwürdig vor.
Johannson arbeitete doch in einem Energieschacht. Jedenfalls war er zum Zeitpunkt des Angriffs nicht an der Oberfläche. Er konnte nicht wissen, dass es die Seymour war!