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Die Fliege.
Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht. Manchmal rast sie buchstäblich an uns vorbei: sie macht keine Pausen, nimmt keinen Halt und keine Rücksicht; nur immer weiter voran, den im Himmel treibenden Wolken gleich. Dennoch hinterlässt sie Spuren, die wir als Erinnerungen bezeichnen und die uns als Belege der Vergangenheit dienen. Und einer solcher Belege erinnert mich heute an einen für mich ganz besonderen, längst vergangenen Tag. Dabei kommt es mir vor, als ob es erst gestern war und ich wieder der kleine, schüchterne Junge bin wie damals. Wobei zwischen dem nassen, kühlen Septembermontag und dem heutigen heiteren Maisonntag satte dreiundvierzig Jahre liegen...
Der Wecker klingelte und riss mich aus meinen kindlichen, süßen Träumen. Schon damals hasste ich dieses unverschämte Ding: kein Mitleid, kein Anstand nur Krach machte es. Hecktisch tastete ich mit meiner Hand nach dem Ungeheuer und brachte es endlich zum Schweigen. Wieder kehrte die gemütliche Ruhe in mein kleines Zimmer. Mühsam öffnete ich meine verschlafenen Augen und blickte durch das mit kleinen Regentropfen übersäte Fenster – nur der graue Himmel und paar in Gelb geschmückte Birken blickten mir traurig entgegen. Das machte einen sehr ungemütlichen Eindruck auf mich. Weil ich so plötzlich aufgeweckt worden war, begriff ich gar nicht, warum der Wecker überhaupt klingelte. Ich drehte mich weg und versteckte mich wieder unter meiner warmen Bettdecke. Ich war kurz vom Einschlafen, als es mir dämmerte: „Schule! Heute! Jetzt!“ Rasch sprang ich aus dem Bett, dabei verfing sich mein rechter Fuß in der Bettdecke, ich verlor das Gleichgewicht und landete mit voller Wucht auf den Boden. Die Landung war hart und zu meinem Glück überstand ich sie unverletzt. Ich hob meinen Kopf und sah direkt vor meiner Nase einen Stuhl mit meiner neuen Schuluniform: eine dunkelblaue Hose, ein dunkelblaues Jackett, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Fliege. An meiner linken Schulter reibend, stand ich vorsichtig auf und inspizierte alle auf dem Stuhl hängenden Sachen genauer. Den Anzug fand ich auf Anhieb toll, auch das weiße Hemd schien gut zu sein, aber diese Fliege gefiel mir gar nicht. Keiner meiner Kumpels trug so ein Ding. Die Zimmertür ging auf und meine ältere Schwester Anna kam herein.
Sie musterte mich mit einem fürsorglichem Blick und fragte: „Na du, kleiner Mann, schmeißt du hier etwa mit den Steinen rum?“
„Nee... Bin nur hingefallen“, antwortete ich und zeigte grinsend auf die auf dem Boden zerknüllte Bettdecke.
Sie lächelte mich liebevoll an und sagte:“Nun ab ins Badezimmer und dann frühstücken und bisschen mit Beeilung. Wir wollen ja deinen ersten Schultag nich verpassen.“
Nach der morgendlichen Hygiene und einem anschließendem Frühstuck aus Spiegeleiern, Toastbrot und einem Glas Orangensaft schlüpfte ich mit Annas Unterstützung in meine neuen, gebügelten Klamotten. Unsere Eltern mussten ihren beruflichen, hochverantwortungsvollen Verpflichtungen nachgehen, deshalb kümmerte sich heute meine Schwester um mich. Und das machte sie anscheinend gerne, denn sie lächelte mich ständig an und zeigte viel Geduld. Als sie mir die Fliege um den Hals binden wollte, versuchte ich mich dagegen zu wehren, aber weil der Widerstand keinen Erfolg versprach, kapitulierte ich sehr schnell. Ich drehte mich zum Spiegel um und betrachtete mich darin.
„Findest du, ich sehe damit gut aus?“
„Natürlich siehst du gut aus. Ein richtig prachtvoller Junge bist du!“
„Aber diese komische Fliege... Sie macht nur alles kaputt... Mit der sehe ich wie ein Pudel aus.“
Anna nahm mich sanft an den Schultern und drehte mich zu sich.
„Diese Fliege ist überhaupt nicht komisch. Und außerdem steht sie dir sehr. Na los, schnapp dir jetzt deine Tasche und ab ins Auto.“
Allmählich hörte es auf zu nieseln und Anna parkte ihren roten VW Käfer auf dem Parkplatz der Schule. Die Schule selbst kam mir groß und kantig vor, wie das Schloss eines bösen Drachens, über welches mir Anna mal vorgelesen hatte. Auf dem Schulgelände herrschte ein Tumult. Es wirbelte nur so von Leuten: Kinder, Eltern, Tanten, Onkels und weiß Gott wer noch eilten durch den Hof. Sie kamen von allen Seiten und verschwanden hinter den Türen meiner neuen Schule.
„Hast du Angst?“, fragte Anna mit einem Lächeln.
Ich nickte.
„Das brauchst du nicht, ich bin bei dir. Nun komm, ich bringe dich in deine Klasse.“
Ich schnappte meine Tasche und wir stiegen aus. Anna ging ums Auto und reichte mir einen Blumenstrauß aus roten und weißen Rosen, den ich während der Fahrt garnicht bemerkt hatte.
„Der hier ist für Frau Köhler, deine Klassenlehrerin. Sie ist sehr nett. Du wirst sie bestimmt mögen. Vergiss sie also nicht sie höflich zu begrüßen und gib ihr die Blumen“,sagte Anna.
Bestürzt schaute ich mir den riesigen Strauss an. Na toll, zuerst diese dämliche Fliege und nun dieser Blumenbesen, dachte ich mir. Ein Pudel mit Blumen! Peinlicher geht’s wohl kaum...
Anna nahm mich bei der Hand und wir marschierten auf den Schuleingang zu.
Und da standen wir nun, vor meinem Klassenzimmer.
Anna schaute mich liebevoll an und sagte: “Es ist alles in Ordnung. Ich werde auf dich hier draußen warten. Geh rein und sei nett!“
Ich atmete einmal tief durch und schritt vorsichtig über die Türschwelle ins Klassenzimmer hinein und blieb wie angewurzelt stehen. Es war ein großer in weiß gestrichener Raum mit drei riesigen Fenstern, vielen bunten Bildern an den Wänden, mehreren Tischen und Stühlen links von mir und einer schwarzen Tafel rechts von mir. Mir gegenüber, neben einem der drei Fenstern, stand der Lehrertisch mit einem Stuhl. Es sah so aus, als sei ich der Letzte und alle anderen saßen bereits an ihren Plätzen. Oh je, jetzt beobachten sie mich bestimmt alle, dachte ich. Ich senkte meinen Blick zu Boden und lief rot an.
Da hörte ich plötzlich eine angenehme, ruhige Stimme: „Und du bist bestimmt Benjamin?“
Ich hob meine Augen und sah direkt vor mir eine braunhaarige Frau mit einer Brille. Sie lächelte mich sanftmütig an.
„Komm näher, Benjamin, hab keine Angst. Ich bin deine Klassenlehrerin Frau Köhler“, sagte sie.
Schüchtern schritt ich auf sie zu. Sie war eine mittelgroße Dame mit grünen Augen und angenehmen Gesichtszügen. Frau Köhler hatte eine grüne Bluse mit einem schwarzen knielangen Rock an. Im Großen und Ganzen wirkte sie nett und doch bisschen streng.
„Guten Morgen, Frau Köhler!“,sagte ich und hielt ihr die Blumen entgegen.
„Guten Morgen, Benjamin. Das ist aber sehr lieb von dir. Danke!“, sagte sie und stellte den Strauß zu den anderen Blumen auf ihrem Tisch.
„Nun begrüße deine Mitschüler und stell dich allen vor“, sagte sie.
Ich drehte mich zu der Klasse und erstarrte: mehrere Kinder taxierten mich mit ihren Blicken. Am liebsten wäre ich damals aus dem Fenster gesprungen und weggerannt. Vor Aufregung schwitzten meine Hände und meine Knie wurden ganz weich.
„Komm, das schaffst du schon. Es ist ja ganz einfach“, sagte Frau köhler.
„Hallo... Ich bin sechs Jahre alt... und ich heiße Benjamin.“
„Hallo! Hi! Hallo!“,begrüßten mich die anderen.
„Gut gemacht, Benjamin!“, sagte Frau Köhler. „Nun nimm da vorne Platz! Du wirst mit Melissa zusammen sitzen“, sagte sie und zeigte auf eine Schulbank direkt vor ihrem Tisch an welcher bereits ein zierliches, rothaariges Mädchen saß.
Ich schlenderte zu meinem Platz und setzte mich nieder. Das Mädchen grinste über ihr ganzes mit Sommersprossen bedecktes Gesicht und starrte mich mit ihren blauen Augen an.
„Schöne Fliege hast du da an! Sie gefällt mir sehr!“,sagte sie.
„Danke“,sagte ich.
Dann verdrehte ich meine Augen und fügte hinzu: „Ich bin froh, wenn ich sie endlich wegmachen darf.“
„Benjamin!“
Meine Frau holt mich aus meinen Erinnerungen zurück.
„Wir sind heute zu einem festlichen Diner eingeladen worden. Auf neunzehn Uhr. Bei Familie Rosenheimer. Ich hoffe du hast noch nichts vor“ ,sagt sie.
„Nein, wir können gerne hingehen“, sage ich.
„Gut. Ich sage bescheid, dass wir die Einladung annehmen... Und, Benjamin, zieh bitte deine Fliege an. Du weißt ja, wie schön ich das finde“, sagt sie.
„Natürlich, Melissa. Nur dir zu Liebe“, sage ich und lächele.
Sie schmunzelt und geht aus dem Zimmer. Worauf ich kurz meine Augen verdrehe und genüsslich an meinem Martini nippe.