Die Flüsternische
Simone atmete tief durch, nachdem die Eingangstür sich hinter ihr geschlossen hatte. Endlich! Ungestört würde sie den Tempel erkunden können, ohne durch die auswendig gelernten Litaneien der Fremdenführerin gestört zu werden, ohne die Geräusche von Schritten und raschelnder Kleidung, welche die absolute Stille der Grabkammer durchbrochen hätten.
Grabkammer? Niemand wusste sicher, welchem Zweck das Hypogäum einst gedient hatte, wahrscheinlich war es für eine Vielzahl an Ritualen und Zeremonien genutzt worden. Aber das geheimnisvolle Volk, welches die Tempel auf Malta errichtet hatte, war ausgestorben, und keine Inschriften konnten die Fragen beantworten.
Simone hatte sich den April ausgesucht, um Malta kennen zu lernen; so vermied sie die afrikanische Hitze mit Temperaturen von vierzig Grad und mehr, lag die Insel doch südlicher als Tunis. Ihre Leidenschaft galt der Geschichte, und Malta hatte mehr als eine historische Stätte zu bieten – prächtige Paläste der Johanniter, beeindruckende Festungsanlagen rund um den Hafen der Hauptstadt und prunkvolle Kirchen. Aber es gab auch ältere, geheimnisvollere und in Simones Augen faszinierendere Zeugen der Vergangenheit: Die neusteinzeitlichen Tempel.
Staunend war sie durch Hagar Qim gewandert, eine gewaltige Tempelanlage, aber auch diese hatte es nicht aufnehmen können mit dem Hypogäum, dem unterirdischen Bauwerk.
Sie hatte an einer Führung teilgenommen, sich durch dieses Labyrinth leiten lassen, in Spiralform immer tiefer hinunter. Ganz bewusst hatte sie vorher nichts darüber gelesen, wollte erst einen Eindruck gewinnen, unbeeinflusst von Daten und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie hatte der Führerin zugehört, ohne den Blick lösen zu können von den Malereien, welche Ranken und Spiralen darstellten, von den Gängen, Toren und Hallen, den Kammern und Nischen.
Dabei war ihr der Gedanke gekommen, wie es wäre, alleine hier drinnen zu sein. Caroline, ihre maltesische Freundin, hatte sich an den Kopf getippt, als Simone ihr diese Idee während der Führung zuflüsterte, aber sie ließ nicht locker. Caroline kannte doch den Kurator, ob sie nicht ein Wort für sie einlegen könnte?
Zwei Tage später hatte Caroline ihr gesagt, dass sie hinein dürfte, alleine, abends, nach der letzten Führung. Simones Herz hatte einen Sprung vor Freude gemacht.
„Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?“, hatte Caroline am Eingang noch einmal gefragt.
„Nein. Ich möchte ganz allein hinein!“
Und jetzt stand sie hier, tief unter der Erde. Kein von außen hereinfallendes Licht störte die dämmerige Beleuchtung, welche die Hauptgänge und -hallen nur trübe erhellte, um die Malereien zu schützen; viele der Kammern und Nischen lagen im Dunkeln, und Simone konnte mehr ahnen, wie sie innen aussahen, als dass sie wirklich etwas hätte erkennen können.
Mehr als siebentausend Skelette waren hier gefunden worden, und Teile von weiteren zwanzigtausend Leichen.
Für einen Moment schauderte es sie. Wenn es eine Begräbnisstätte gewesen war, warum dann nur Teile dieser Zwanzigtausend? Was war damals hier geschehen?
Ihr Blick fiel auf die Treppe, welche an einem tiefen Schacht endete. War sie für ungebetene Besucher gedacht gewesen?
In der Haupthalle drehte sie sich einmal um sich selbst. Hier gab es keine Ecken oder Kanten, der Raum war oval, alles war abgerundet. Hatte auch dies eine Bedeutung gehabt? Es entstand eine seltsame Optik, wie durch ein Weitwinkelobjektiv, und alles schien in kontinuierlicher Bewegung zu sein.
Langsam, um die vollkommene Stille nicht zu stören durch eine hastige Bewegung oder ein unbedachtes Geräusch, ging sie zur Orakelkammer. Leise in eine dortige Wandnische hineingesprochen, sollte die Stimme durch die gesamte Spirale als Echo widerhallen. Die Akustik sei jetzt anders, als sie es früher gewesen sei, hatte man ihr erklärt, da alle Räume jetzt leer seien.
Natürlich, die Berge von Knochen mussten sich ausgewirkt haben.
Vor der Nische zögerte sie einen Moment. Gab es einen bestimmten Winkel, den sie einhalten musste? Welche Lautstärke sollte sie wählen?
Sie ging in die Hocke, um auf gleicher Höhe mit der Nische zu sein. „Ich bin Simone!“, flüsterte sie, ohne ihre Stimmbänder auch nur einen Hauch schwingen zu lassen, und hielt sofort den Atem an. Leise setzte das Flüstern sich fort, immer weiter, es schien von oben zu kommen, dann wieder von unten, aus einer Seitenkammer und aus dem tiefen Schacht. Es war großartig, wie ein ausgebildeter Chor, der jeden Laut von ihr mit absoluter Präzision wiederholte.
„Ich bin Simone“, sagte sie erneut, um eine winzige Nuance lauter, die Beteiligung ihrer Stimme mehr eine Ahnung, als dass sie wirklich zu hören gewesen wäre. Aber um wieviel deutlicher war die Reaktion des Tempels darauf! Ihr war, als würde dieses Bauwerk, welches für Tausende von Jahren vergessen gewesen war, ihre Stimme freudig aufnehmen und verstärken, bis in die letzten Winkel schicken, um jeden Zoll der Wände, jeden Stein, selbst das kleinste Sandkorn an seine einstige Bedeutung zu erinnern, und an den Zweck, dem sie einst gedient hatten.
Simone wartete, bis auch der leiseste Nachhall verklungen war. Es wurde wieder ganz still, kein Luftzug wehte durch diese vergrabenen Gänge und Hallen, kein Laut störte den Frieden der okkulten Kammern, der sakralen Altäre.
„Ich bin hier!“, sagte Simone etwas lauter, wobei sie das „i“ des „hier“ in die Länge zog, wie es Kinder tun, die sich über weite Entfernungen rufen.
Bereitwillig, geradezu freudig wurde besonders dieser Ton von den raffinierten Spiralwindungen aufgenommen und nach mehrmaligem Durcheilen des Labyrinths deutlich verstärkt an Simone zurückgeschickt.
Sie hätte sich niemals vorgestellt, dass dieser Effekt so deutlich sein könnte. Jetzt verstand sie, welche Wirkung er während einer Zeremonie gehabt haben musste, als hier noch Rituale abgehalten wurden.
Lange konnte Simone ihre Freundin nicht mehr warten lassen, die außen vor dem Eingang stand, aber einen letzten Versuch würde Caroline sicher nicht übel nehmen.
Sie ging noch näher an die Flüsternische heran, denn sie wollte einen starken Effekt hervorrufen. Laut im Vergleich zu ihren ersten Versuchen, mit normaler Sprechstimme, sagte sie: „Ich bin Simone, und ich bin hier!“
Die Wirkung war überwältigend. Als ob immer mehr Stimmen einfallen würden, wurde das Echo lauter und lauter, es nahm so stark zu, dass nichts anderes mehr sich hätte Gehör verschaffen können.
Auch Simones Schreie nicht.
Vielleicht, wenn sie in die Nische hineingeschrien hätte – vielleicht wäre dann vor dem Eingang etwas zu hören gewesen.
Vielleicht.
Nach zwei Stunden geduldigen Wartens wurde Caroline unruhig, aber als sie das Hypogäum betrat, hörte sie nichts – nur ein leichtes Rauschen, wie das Echo eines lange verhallten Klanges.
Sie fand Simone nicht.
Auch die Suchmannschaft der Polizei konnte trotz starker Scheinwerfer nichts finden. Zwar stellte die Spurensicherung einzelne Fasern und zwei Haare sicher, die Simone gehört hatten, aber das Rätsel um ihr Verschwinden blieb ungelöst.
Bis Wochen später einzelne Knochen von ihr auftauchten – im Schacht, und einige in der Flüsternische.