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Die Flüße fließen zurück in die Vergangenheit

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31.07.2003
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Die Flüße fließen zurück in die Vergangenheit

"Die Flüße fließen zurück in die Vergangenheit" - ihre Stimme klang ruhig und melancholisch. Ich folgte ihrem Blick hinaus in das weite Grau der Großstadt. In einiger Entfernung sah ich den Fernsehturm am Alexanderplatz blinken, doch auch er gab keine Antwort auf das Rätsel, das seltsam schwer in der Luft lag. Ich beobachtete sie lange, wie sie am Fenster stand und mit ihrer zittrigen, knochigen Hand wieder und wieder über das Fensterbrett strich, dessen Lackierung an mehreren Stellen abgeplatz war. Grau waren ihre Haare und zersaust, doch das interessierte sie nicht.

"Die Flüße fließen zurück in die Vergangenheit" wiederholte sie und in ihrer Stimme lag eine tief-traurige Bestimmtheit. Eine Bestimmtheit, die ich gerne mit ihr geteilt hätte. Ich wusste nicht wovon sie sprach - ich saß auf einem Küchentisch und sie stand nur wenige Meter entfernt am Fenster, doch trotzdem trennte uns viel. "Wovon sprichst du", wollte ich wissen, doch ihre Lippen blieben verschlossen. Sie drehte sich auch nicht um, sie verharrte in scheinbarer Reglosigkeit. Nur das Zittern, das sich von ihren Fingerspitzen über ihren ganzen Körper auszubreiten schien, verriet, dass sie einen Kampf führte. Eine Schlacht, die tief in ihrem Innersten tobte. Wortfetzen drangen aus ihr heraus. Es war nicht ihre Stimme, die dort sprach. Sie sprach diese Worte nicht, sie drangen aus ihr heraus und sie schienen sie zu quälen, wie sie sich ihren Weg nach draußen suchten.

Dann beruhigte sie sich wieder, das Zittern zog sich zurück. Einzig ihre Hand zitterte noch, mit der sie wieder über das Fensterbrett strich. Ich schaute weg, konnte es nicht mehr mit ansehen. Diese Monotonie in ihrer Bewegung, dieses geistige Verdumpfen jenseits von jeder Kraft, von jedem Willen zu leben. Verloren in tief-düsteren Gedanken begann ich abwesend in einer Zeitung zu blättern. Das Knistern des Papiers schien sie zu stören. Sie drehte sich um - "Sei still, hörst du nicht das Rauschen der Strömung, spürst du nicht die Gewalt des Flußes" hauchte sie mir zu. Aus ihrem zerfallenen, furchigen Gesicht blickten mir ihre trüben Augen entgegen, in denen einst Freude und Heiterkeit spielten und sich jetzt Trauer und Versagen spiegelten.

Ihre Augen kamen näher und sie ergriff meine Hand. Ich konnte ihrem Blick nicht entgehen, der mich langsam zu zerfressen drohte. Dann öffneten sich wieder ihre faltigen Lippen:


"Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,
Und die beringten Hände auf der Flut
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.

Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt,
Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein.
Warum sie starb? Warum sie so allein
Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt?

Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht
Wie eine Hand die Fledermäuse auf.
Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht
Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf,

Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal
Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint
Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint
Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.

Korn. Saaten. Und des Mittags roter Schweiß.
Der Felder gelbe Winde schlafen still.
Sie kommt, ein Vogel, der entschlafen will.
Der Schwäne Fittich überdacht sie weiß.

Die blauen Lider schatten sanft herab.
Und bei der Sensen blanken Melodien
Träumt sie von eines Kusses Karmoisin
Den ewigen Traum in ihrem ewigen Grab.

Vorbei, vorbei. Wo an das Ufer dröhnt
Der Schall der Städte. Wo durch Dämme zwingt
Der weiße Strom. Der Widerhall erklingt
Mit weitem Echo. Wo herunter tönt

Hall voller Straßen. Glocken und Geläut.
Maschinenkreischen. Kampf. Wo westlich droht
In blinden Scheiben dumpfes Abendrot,
In dem ein Kran mit Riesenarmen dräut,

Mit schwarzer Stirn, ein mächtiger Tyrann,
Ein Moloch, drum die schwarzen Knechte knieen.
Last schwerer Brücken, die darüber ziehn
Wie Ketten auf dem Strom, und harter Bann.

Unsichtbar schwimmt sie in der Flut Geleit,
Doch wo sie treibt, jagt weit den Menschenschwarm
Mit großem Fittich auf ein dunkler Harm,
Der schattet über beide Ufer breit.

Vorbei, vorbei. Da sich dem Dunkel weiht
Der westlich hohe Tag des Sommers spät.
Wo in dem Dunkelgrün der Wiesen steht
Des fernen Abends zarte Müdigkeit.

Der Strom trägt weit sie fort, die untertaucht,
Durch manchen Winters trauervollen Port.
Die Zeit hinab. Durch Ewigkeiten fort,
Davon der Horizont wie Feuer raucht."

Dann lief sie in das Zimmer meiner Stiefschwester, die man vor einigen Wochen - vollgepumpt mit Drogen - aus der Spree gezogen hatte. Ich hörte, wie sie sich laut schluchzend auf das frischbezogene Bett warf und fühlte mich schuldig.

 

FrozenFire schrieb unter seine Geschichte:

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Ich hoffe, dass die Kurzgeschichte trotz des Ophelia-Gedichts von Georg Heym nicht allzu esoterisch geraten ist.
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