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Die Filme in Larrys Körper
Vier Weltraum-Marines setzten sich neben uns in die Reihe. Einer davon war eine Frau, genau wie im Film. Sie aßen den trockenen Kuchen von der Theke im Eingangsbereich. Ihre Plastikgewehre klemmten sie zwischen die Beine. Jenny grinste, ohne sie anzusehen.
Die Marines sprachen über Larry, der sich gleich auf der Bühne dem Q&A stellen würde. Sie nannten ihn Cardinal. So hieß die Figur, die Larry im Film gespielt hatte. Kinostart war vor fast 30 Jahren gewesen. Der Geifer der Monster, aus deren Hartgummiklauen Cardinal das kleine blonde Mädchen gerettet hatte, war inzwischen getrocknet und zu Staub zerfallen.
Jenny fragte mich nach Larry. Ich erklärte ihr alles und sie lächelte, so wie sie immer lächelte, wenn ich über diese Dinge sprach. Ein Marine wollte nicht auf seine Uniform krümeln und beugte sich nach vorn. Die Käsekuchenpartikel fielen in seinen Gewehrlauf. Er fluchte.
Der Moderator vorne auf der Bühne steckte sein Handy wieder ein. Das aufgeregte Gemurmel wurde etwas leiser. Larry werde gleich kommen, sagte er. Sein Taxi sei gerade auf den Parkplatz gefahren. Einen Moment habe es gedauert, wegen der vielen Baustellen in der Stadt.
Aufgeregtes Gerede im Publikum. Wegen der Baustellen hatte jeder irgendwo gestanden. Jenny und ich hatten als Auswärtige fast eine Stunde lang auf einen Bus gewartet, von dem wir dann erfuhren, dass er gestrichen war. Wegen der Baustellen. Wir alle waren in diesem Moment ein bisschen wie Cardinal. Wir hatten durchgemacht, was er durchgemacht hatte. Das hob die Stimmung.
Es war das erste wirklich gut besuchte Q&A der Convention. Außer Larry hatten die Veranstalter niemanden von wahrer Bedeutung gewinnen können. Ein paar Zombies aus den Achtzigern, die in Romeros Living Dead-Filmen endgültige Tode von heute ikonografischer Bedeutung gestorben waren. Der, der in Dawn of the Dead die Machete in den Kopf bekommt, und der andere, dem die Rotorblätter des Hubschraubers die Schädeldecke wegreißen. Aber die beiden kamen eigentlich immer.
Der Flyer warb mit Leatherface aus dem Kettensägenmassaker. An dieser Stelle hatten die Veranstalter eine katastrophale Entscheidung getroffen, denn am Autogrammtisch in der Halle saß Andrew Bryniarski aus der Neuverfilmung und nicht Gunnar Hansen aus dem Original. Überall enttäuschte Fans, deren Daumen wütende Kommentare in die Smartphones hämmerten, um sie dann auf der Facebookseite der Convention einzustellen.
Ein Freddy Krueger behauptete, er hätte Larry schon am Freitag in der Halle gesehen, inkognito, mit Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen. Einige stimmten zu, ja, ja, den Typen hätte sie auch gesehen und gedacht: Das ist jetzt entweder Larry oder ein Doppelgänger, so wie in Die Körperfresser kommen. Lachen.
Larry war ein Märchenkönig inmitten einer Zusammenkunft des verarmten Adels. Der einzige Gaststar, der sich für seine Unterschrift auf Blu-rays und T-Shirts nicht bezahlen ließ. Nach der Sache mit Leatherface bot er für die Organisatoren eine Gelegenheit, verspielte Sympathien zurückzugewinnen.
Larry kam rein und schlurfte mit hängendem Kopf zur Bühne. Sein Haar war weiß und licht. Inzwischen war er über 70. Ersten zögerlichen Applaus gab es, als er die Stufen zum Interviewtisch hinaufstieg.
„Ist er das jetzt?“, fragte Jenny. Der Applaus schwoll an. Der Freddy vor uns hatte seinen Messerhandschuh ausgezogen. Er trug eine der teuren Repliken mit echten Klingen. Erste Jubelrufe erklangen. Die Marines neben uns standen sogar auf zum Klatschen. Ihre Plastikgewehre fielen auf den Boden. Einer hatte seinen letzten Kuchenrest zwischen die Zähne geklemmt.
Bevor er sich setzte, deutete Larry kurz eine Verbeugung an. Über sein knallhartes Gesicht huschte ein Lächeln. Die Fans liebten die spitzen Wangenknochen, die straff darüber gezogenen Wangen und den zum emotionslosen Schlitz zusammengepressten Mund. Zu Hause in Amerika verspotteten Filmkritiker Larry wegen dieses Gesichts als Clint Eastwood für Arme. Hier und jetzt interessierte das niemanden. Clint Eastwood war nie Cardinal gewesen.
Larry nahm die Hände nicht aus den Jackentaschen. Es war kalt in der Halle. Der Moderator streckte seinem Interviewpartner die Hand entgegen. Larry nickte ihm zu, ohne sie zu nehmen. Dann setzte er sich.
„Toller Typ“, sagte Jenny.
„In Amerika gibt nicht jeder jedem immer die Hand“, sagte ich.
„Ist das so?“
„Hat unser Englischlehrer früher gesagt.“
Die Marines setzten sich. Stille. In den Schoß gefaltete Hände, offen stehende Münder.
Mit seinem dicken deutschen Akzent versicherte der Moderator, wie toll das sei, Cardinal „in se flesch“ bei uns zu haben. Wobei das mit dem „flesch“ nicht ganz stimme, denn schließlich sei Cardinal ein Androide. Verlegenes Räuspern im Saal. Jenny schloss die Augen und sagte leise: „Oh Gott, ist das peinlich.“ Larry nickte und machte etwas mit dem Mund, das ein Lächeln hätte sein können.
Frage eins: Dreißig Jahre ist es her, und der Film gilt als Kult. Wie fühlt es sich an, darin mitgespielt zu haben?
Fast alle hatten bisher versucht, einen Moment lang so auszusehen, als müssten sie darüber nachdenken. Als wäre das genau die Frage gewesen, mit der sie niemals gerechnet hätten. Larry dagegen zuckte die Schultern und antwortete umgehend.
„Für mich als Schauspieler ist immer das aktuelle Projekt wichtig“, sagte er. „Ich habe bis letzte Woche in Berlin gedreht, mit einem sehr talentierten deutschen Regisseur. Dieser Film ist jetzt in meinem Körper, wenn man das so sagen kann. Da bleibt er, bis ich den nächsten drehe. Etwas, das ich vor dreißig Jahren gemacht habe, ist schon lange nicht mehr in meinem Körper. Das mag bescheuert klingen, aber ich weiß nicht, wie ich das anders sagen soll. Ich bin Schauspieler, kein Dichter. Der Film ist nicht mehr in meinem Körper. Versteht ihr, wie ich das meine?“
„Jes, schur“, sagte der Moderator, und überall um mich herum behaupteten Gesichter das Gegenteil.
Ob er, Larry, sich denn an Sachen erinnern könne, die während der Dreharbeiten passiert sind.
Das sei die allgemeinste Frage, die ihm jemals gestellt wurde, sagte Larry.
„Ein bisschen Großkotz ist der aber schon“, meinte Jenny.
„Was fragt der auch so scheiße?“, bezog ich noch einmal Position pro Cardinal. „Der ist genau wie wir.“
In unserem Job bei der Lokalzeitung fragten Jenny und ich die Vorsitzenden von Irgendwas solche Sachen: „Die Konjunktur ist ja rückläufig. Wie schätzen Sie das denn ein?“ Aber was sollte man die Vorsitzenden von Irgendwas auch sonst fragen? Die waren nie Cardinal gewesen.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs strapazierte Larry diese Metapher von den Filmen in seinem Körper. Über fast alle Filme redete er, auch solche, mit denen er gar nichts zu tun gehabt hatte. Nur den einen sparte er aus, den, der der Grund dafür war, dass Leute wie die vier neben uns bei Gelegenheiten wie diesen beknackte Kostüme trugen. Sogar Helme hatten sie auf, mit Lichtern daran für die Lüftungsschächte. Im Film versteckten sich die Monster immer in den Lüftungsschächten der Raumschiffe. Die nachgemachten Plastikhelme waren viel zu groß. Sie mussten sie ständig hochschieben, um etwas sehen zu können.
Larry wiederholte sich oft. Irgendwann hörte ich die dritte leise Stimme um uns herum, die sagte: Du, ich glaube, er ist besoffen.
Wir wissen um deinen engen Zeitplan, versicherte der Moderator Larry. Es war die gängige Überleitung zum Teil des Interviews, in dem das Publikum Fragen stellen durfte.
Mit piepsiger Stimme verlangte der weibliche Marine das Mikrofon. Eine Rothaarige mit tätowierten Armen und im Toxic Avenger-T-Shirt brachte es ihr. Ich sah einen durchdrehenden Herzschlag Blut in das Gesicht der Soldatin pumpen. In wenigen Sekunden würde sie das Wort an Cardinal richten, in se flesch.
Da er doch gerade in Berlin gewesen sei, fragte sie Larry in dessen Muttersprache, habe er sich da irgendwas Besonderes angesehen? Sightseeing gemacht quasi?
Larry kniff die Augen zu und lachte. „Was war das für eine Sprache?“, fragte er. „War das jetzt Deutsch oder Englisch? Tut mir leid, aber dieser Akzent, ich kann damit nichts anfangen.“
Die Soldatin sah aus, als würde ihr gleich der Kopf explodieren wie in Scanners. Sie wartete einen Moment, aber Larry zog nur ein Taschentuch aus der Jackentasche und schnäuzte sich laut. Nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte, fiel ihr der zu große Helm ins Gesicht.
Ein Unerschrockener, der seine Jason-Maske auf das Haupthaar hochgeschoben trug, sprang auf. Er wartete nicht aufs Mikrofon, sondern brüllte seine Frage einfach.
„Im Internet kursieren Gerüchte um einen fünften Teil“, rief er. Wisse Larry etwas darüber? Und bestehe die Möglichkeit, dass er als Cardinal zurückkehre?
Überall auf ihren Plätzen seufzten die verlogenen Schweine über diese Naivität, dabei war es genau die Frage, die jeder von ihnen am liebsten selbst gestellt hätte. Ich auch. Neben mir sackte Jennys Kopf auf die Brust. Wir hatten einen ziemlich frühen Zug genommen.
Larry presste seine schmalen Lippen aufeinander. Einen Augenblick lang war ich sicher, er werde sich den Fragensteller greifen und ihm die Nase brechen. Das soll er mal mit einem Tontechniker gemacht haben.
„Im Grunde hast du es selbst gesagt“, sagte Larry. „Ich habe mit den Filmen nichts mehr zu tun. Ich bin Schauspieler. Ich bekomme Drehbücher und entscheide, ob ich mitspielen will. Welche Filme geschrieben und gedreht werden, da habe ich nichts mit zu tun. Dieser Film liegt so lange zurück, ich habe den nicht mehr in meinem Körper. Da ist jetzt ein anderer Film. Also da, wo der Krebs noch Platz gelassen hat.“
Er schnäuzte sich noch einmal. Das Fan-Kollektiv ließ die Ergebnisse des Q&A sacken. Fragen gab es keine mehr, jetzt wo das mit dem fünften Teil geklärt war.
Der Applaus ließ Jenny hochschrecken. Aus meinem Rucksack kramte ich die Blu-ray hervor. Extra für die Convention hatte ich mir eine aufwendig verpackte Sonderedition besorgt.
„War noch was Spannendes?“, fragte Jenny und gähnte.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich gehe mal eben nach vorne.“
„Wozu?“
Ich zeigte auf die Blu-ray. „Er nimmt ja nichts für seine Unterschrift.“