Die feuerfeste Kerze
Der Adventskranz war aus Tannenzweigen gebunden und trug keinen weiteren Schmuck, nur vier dicke rote Kerzen. Am 1. Advent wurde die erste Kerze entzündet und die Familie versammelte sich um den Adventskranz. Fünf Kinder, Mama, Papa, Tante Gertrud, Oma, Omi, Opa und Hildegard, das Kindermädchen. Die Augen strahlten im Licht der Kerze und jeder hatte etwas Wichtiges zu sagen und verlangte manchmal recht eindringlich die volle Aufmerksamkeit aller anderen, bis Opa donnerte: „Jetzt werden wir erst einmal abzählen!“
„Warum?“, fragte Bernd, mit fünf Jahren der Jüngste am Tisch.
Opa legte zwei Würfel auf den Tisch. „Weil ich würfeln werde und wessen Zahl auf dem Tisch liegt, darf fünf Minuten lang reden. Und alle anderen müssen schweigen. Und wer einmal gewonnen hat, scheidet aus.“
Es wurde ein sehr vergnüglicher Nachmittag. Der zwölfjährige Andreas, der ungern redete, verschenkte seine Zeit an seine Schwester Lotti. und als sie dann als vorletzte gewürfelt wurde, redete sie ohne Stocken zehn Minuten lang. Es war ziemlich gemein, dass ihre ältere Schwester Christina ihr dann den Mund zuhielt. Sehr vorsichtig, denn sie wollte nicht noch einmal gebissen werden.
Opa war der letzte Redner und er stellte lediglich fest: „Das war doch sehr schön und auch fröhlich. Und jetzt wollen wir das Abendessen vorbereiten.“
Mama löschte die Adventskerze und alle trabten aus der Wohnstube in die Küche oder das Esszimmer. Die vierte Kerze schaute sich in der Dunkelheit um und dachte: ‚Das ist ja eigenartig. Die Eins sieht kleiner aus als heute Morgen.‘
Am Nachmittag versammelte sich die Familie zum Kaffeetrinken in der Wohnstube. Nicht alle waren immer dabei, aber jedes Mal wurde die Adventskerze angezündet und der große Leuchter über dem Tisch ausgeschaltet. Jeden Tag stellte die Vier fest, dass die Eins immer kleiner wurde. Als dann am 2. Advent alle Familienmitglieder um den riesigen runden Tisch saßen und die gewaltige Obsttorte ein genussvolles Kaffeetrinken verhieß, wurde die Zwei gegenüber der Eins auch noch entzündet und brannte zusammen mit der Eins langsam herunter. Da fasste die Vier einen Entschluss: ‚Da mache ich nicht mit, Ich lasse mich nicht einfach benutzen. Ich finde mich so vollständig, wie ich bin, ganz richtig. Ich werde mich nicht anstecken und verbrennen lassen.‘
Die Vier verbrachte also die kommenden zwei Wochen damit, ihren Docht mit feuerfesten Stoffen, die sie aus den Tannenzweigen saugte, zu imprägnieren. Das erschien ihr am sinnvollsten. Sie hätte ja auch den Docht einziehen können. ‚Aber dann kommt bestimmt jemand auf die Idee mit einer spitzen Schere an meinem Kopf zu graben und meine schöne Gestalt zu zerstören.‘
Schließlich kam er, der vierte Advent. Christina, die Älteste, durfte zusehen, wie die anderen Kinder jeweils eine Kerzen anzündeten. Schließlich war die Vier an der Reihe. Ein Streichholz näherte sich ihrem Docht und sie bangte ein wenig: ‚Hoffentlich haben meine Anstrengungen Erfolg.‘
Das Streichholz brannte aus, aber der Docht war so weiß wie zuvor. Drei weitere Streichhölzer waren nicht erfolgreicher und die Vier beglückwünschte sich schon zu ihrer guten Idee: „Ich werde nicht vergehen und zu einem kleinen Licht werden, das gleich wieder verschwunden ist.“
„Licht verschwindet nicht:“, antwortete eine tiefe Stimme. Die Vier war ja schon rot, aber sie war sehr erschrocken: ‚Wieso hat mich Opa gehört?‘
„Was meinst Du damit: Licht verschwindet nicht?“, fragte Helmut. Er ging in die neunte Klasse der Gesamtschule, war recht wissbegierig und Opa als ehemaliger Naturkundelehrer konnte und mochte viele Fragen beantworten.
„Nun, nimm mal eine Taschenlampe nach draußen in die Dunkelheit und schalte sie kurz ein. Was passiert dann?“
„Man sieht einen Lichtstrahl, der wieder verschwindet, wenn man die Lampe ausknipst.“
„Überall auf der Welt gibt es große Teleskope, mit denen ferne Sterne und Galaxien beobachtet werden. Eine Galaxie, die gut zu sehen ist, ist der Andromedanebel. Er ist uns so nahe, dass man ihn in klaren Nächten sogar mit bloßem Auge sehen kann.“
„Also ungefähr tausend Kilometer weit?“, krähte Bernd.
Opa lachte. „Zweieinhalb Millionen Lichtjahre. Das ist in Kilometern eine viel zu große Zahl. Aber das wichtige ist ja: Der Lichtpunkt, denn man am Himmel sieht, der ist zweieinhalb Millionen Jahre alt.“
Es war ganz still um den Tisch. „Also wird in zweieinhalb Millionen Jahren ein Forscher in der Andromeda Galaxie unseren Adventskranz leuchten sehen?“
„Auf jeden Fall wird das Licht unseres Adventskranzes durch das Weltall reisen. Immer weiter ohne schwächer zu werden. Und alle anderen Lichter ebenso. Bis eines Tages die ganze Welt voller Licht ist.“
„Ich möchte leuchten!“, piepste die Vier.
Christina riss ein Streichholz an und hielt es an den weißen Docht. Und es wurde Licht.