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Die Fessel

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31.07.2002
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Die Fessel

„Kennst du das?“ fragte sie mich. Ich sah in ihre glasigen Augen. „Kennst Du das, wenn Du von Dir selbst nicht los kommst….ein Leben lang?“ Ich wusste nicht was ich sagen sollte, was ich tun sollte, um ihren Blick zu halten. Ich war so hilflos, fast noch verzweifelter als sie. Und sie wendete sich ab, kehrte mir den Rücken zu und ich dachte nur: Ich habe sie verloren. Es ist vorbei. Doch sie sprach weiter. „Wenn ich wenigstens meine eigene Fessel wäre, aber ich bin der, der sie mir anlegt. Weißt du, in der Zeit, in der wir leben, können wir Fesseln lösen, aber nicht denjenigen, der sie anlegt von seinem Amt entheben. Das geht einfach nicht….“ Was redete sie da nur für ein wirres Zeug? Ich wollte zu ihr gehen, sie in den Arm nehmen, doch der Weg zu ihr war so kalt, unüberwindbar. „Warum bist Du so grausam zu mir?!“ Sie sah mich wieder an, bohrte ihren Blick in meine Seele, wühlte im Dreck. Warum ließ sie sich dazu herab? Warum stellte sie mir diese sinnlose Frage?
„Ich erwarte keine Antwort, das habe ich nie. Ich weiß schon, du bist die Fessel. Schuld hab ich selbst, da ich sie mir anlege. Doch hätte ich es verhindern können?!“ Sie wurde laut, die Tränen hielt sie nun nicht mehr zurück. „Es ist doch mein Job!“ Nun brach es endgültig aus ihr heraus. Sie sackte zusammen, fiel auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Es ist doch mein Job…“, schluchzte sie, „ich habe doch nichts anderes gelernt.“ War es wirklich so? Hatte sie nichts anderes gelernt? Und wenn es so war: Wenn man eine Fessel anlegte, dann konnte man sie doch gewiss auch wieder abnehmen. Es war doch nicht hoffnungslos. Ich wollte ihr sagen, dass sie zu Unrecht verzweifelte, dass es keinen Grund gab, aufzugeben, aber plötzlich verlor auch ich die Hoffnung. Sie hatte Recht. Sie konnte einfach nicht anders, denn auch wenn sie sich eine Fessel abnahm, so würde nicht viel Zeit vergehen bis sie sich die nächste anlegte, denn das war ihr Job.

Das war Sie.

„Kennst du das?“ Ihre unglücklichen Augen sahen mich an, aber ich war nicht mehr vorhanden und doch so allgegenwärtig wie nie zuvor. „Kennst du das, wenn Du ein Leben lang ein Zuschauer Deiner selbst bist?“ Sie zögerte. Sie schien nervös zu werden und fing an, ihre Hände ineinander zu falten und sie wieder voneinander zu lösen, immer wieder. „Stell dir vor du sitzt im Publikum und siehst dich auf der Bühne stehen. Du bist nicht mehr vom Scheinwerferlicht geblendet wie andere, denn du kennst dich, hast dir schon immer zugeschaut. Und wenn du dich da so stehen siehst, dann möchtest du wegsehen. Es überkommt dich ein Unbehagen, eine innere Abneigung zu diesem Menschen. Und in dem Moment, in dem du erkennst, dass dieser Mensch du selbst bist, wünscht du dir das Stück, in dem du spielst wäre eine Tragödie und keine Komödie, in der alle über dich lachen. Du wünscht dir der tragische Held zu sein, der ums Leben kommt, damit das Stück zu Ende ist und du dir nicht mehr selber zusehen musst. Du wünscht Dir…“ Sie brach ab. Ihre Hände waren ganz feucht und sie hörte plötzlich auf sie immer wieder aufs Neue ineinander zu falten. Sie saß ganz ruhig da, fast friedlich. Und ich verstand sie, verstand, dass sie nicht anders konnte als sich Fesseln anzulegen, denn das war mein Job.

Das war Ich.

Ich sah in den Spiegel und fragte mich, warum ich mit meinem eigenen Spiegelbild redete. Plötzlich wurde mir klar, dass ich zum ersten Mal den Zuschauer sah durch dessen Augen ich mich bisher betrachtet hatte. Für einen Bruchteil einer Sekunde hatte ich mir selbst eine Fessel abgenommen und hatte mich von mir selbst gelöst. Doch es dauerte nicht lange und ich sah sie wieder dort sitzen, ein Häufchen Unglück. Vorwurfsvoll sah sie mich an und fragte: „Warum bist du so grausam zu mir?“ Ich wollte ihr helfen, ihr eine Antwort geben, doch als sie aufstand und den Raum verließ, dachte ich nur: Ich habe sie verloren. Es ist vorbei…

 

Hallo Katrinchen,

Deine Protagonistin reflektiert über sich selbst (der Spiegel mag sich da anbieten), sie schwankt zwischen Selbstmitleid, Verzweiflung und Hoffnung.
Der Gedanke, welche Fesseln man sich anlegt, es sogar zum „Job“ des anderen Selbst werden läßt, ist durchaus interessant. Dieses psychologische Problem existiert häufig, und ist wohl ohne Hilfe von außen schwer zu bewältigen. Um es philosophisch ausarbeiten zu können, müßte man es wahrscheinlich in den größeren, allgemeinen Zusammenhang der Stellung des Menschen im Leben bringen.
Eigentlich schade, dass Du nicht die Geschichte erzählst, wie, bzw. aus welchem Anlaß, die Protagonistin in die beschriebene Situation kommt.
Mir kommt es so vor, als wenn Du eher einen jungen Menschen mit seinen Zweifeln schilderst, oder?
Stilistisch passend ist die Gegenüberstellung von „Ich“ und „Sie“.
Noch eine Kleinigkeit:
„Ich erwarte keine Antwort, das habe ich nie“ - nie getan, oder `verlangt´ klingt vollständiger.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Katrinchen.
Die herangehensweise an Selbstreflektion ist interessant zu lesen, wenngleich auch noch ausbaufähig, als Geschichte zumindest.
Schön war aber, dass du einen erst mit "zwei" Personen in die Irre führst, und einen dann erkennen lässt, dass es sich hier um zwei Gesichter ein-und der selben Person handelt. Das ist als gelungen zu bezeichnen.
Mir viel noch ein kleiner Fehler auf: " Du wünschSt dir..."
klänge einfach besser...

Lord

 

Hallo,
ein wirklich gelungener pholosophischer Text.
Auch wenn anfangs der Wechsel zwischen "ich" und "sie" verwirrend ist, löst sich am Ende die Frage.
Ein Interessanter Aspekt der Selbstzweifel. Ich könnte mir vorstellen, dass ein (große) Geschichte aus diesem Protagonisten bzw. dieser Situation entstehen kann. Also, dass man diese Situation nicht nur als Kurzgeschichte benutzt, sondern noch weiter ausführt bzw. weiter ausholt.
Alles in allem soll dies ein großes Lob sein! ;)
Gruß,
Anna

 

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