Die faszinierende Welt der Kinderspiele
Wenn bei uns in der Waldsiedlung mal wieder nix los war, versammelten sich viele Kinder auf dem zentralen Spielplatz, um sich neue, lebensgefährliche und somit interessante Spiele auszudenken.
Durch unsere bereits in der frühen Jugend besonders ausgeprägte und vor allem auf die Verkürzung unserer Lebenszeit ausgerichtete Denkweise, waren wir in der Lage, alltägliche, harmlose Spiele mit dem dringend benötigten Schuss Abwechslung auszustatten.
Auf diese Weise sind wir zum Beispiel auf die brillante Idee gekommen, ein langweiliges Autospiel ein wenig zu modifizieren. Anstatt im Sandkasten zu sitzen, Autobahnen und Gebäude für die Matchboxautos zu bauen, verlegten wir die Szenerie einfach in ein für Spielzeugwagen etwas… unkonventionelles Gebiet. Ein Steinbruch – der natürlich abgesperrt war – rückte in unser Sichtfeld.
Neben Sand, Insekten und Glasscherben gab es dort eine weitere Ressource, die den Unterhaltungswert des Spiels anzuheben versprach: große Steine. Mit überschäumendem, kindlichen Enthusiasmus griff ich nach einem besonders spitzen Exemplar und rammte ihn gewissenhaft auf das Lieblingsauto eines Freundes. Dieser war so überwältigt von meinem spontanen Gefühlsausbruch, dass er sich gleichfalls ein Werkzeug zur Deformierung MEINER Lieblingsautos suchte – ein Stock, der einer Ogerkeule in Größe, Form und Gewicht in nichts nachstand. Er unterbrach seinen Tatendrang jedoch, als er merkte, dass sich ein weiteres zerstörungswilliges Kind, das sich ebenfalls den Mächten des Chaos verschrieben hatte, dem Steinbruch näherte.
Wir waren gewillt, diesen Freak in unsere höchstgeheimen, wissenschaftlichen Erkenntnisse einzuweihen, welches Mordwerkzeug man in welchem Winkel auf welche Stellen des Autos schlagen müsse, um die größtmögliche destruktive Wirkung zu erzielen. Als wir jedoch sahen, welches Spielzeug ER bei sich trug, verpufften diese in zahlreichen Versuchen getesteten Thesen im Dunst des Vergessens.
„Könnt ihr mit dem Vorschlaghammer denn überhaupt etwas anfangen“, fragte er unsicher, „ich muss ihn nämlich bald zurückbringen, die Leute auf dem Bau werden ihn sicher für irgendwas gebraucht haben…“.
Unsere Augen begannen zu leuchten. Dieser Hammer würde das Spiel noch weiter an die Grenze dessen treiben, was wir uns in unseren zerstörerischsten Träumen vorgestellt hatten. Außerdem wurde es mit der Zeit anstrengend, den abspringenden Gesteinsbrocken auszuweichen, die uns durch das wiederholte Aufschlagen der Steine auf andere Objekte in die Augen flogen.
Ich griff auf der Stelle nach dieser Keule, schwang sie in einem Halbkreis um meinen Kopf und ließ sie auf einen Käfer sausen. Mir der Effektivität der Waffe bewusst werdend, und mein Gesicht zu einer teuflischen Fratze der Begeisterung verzogen, wendete ich mich dem letzten verbleibenden Spielzeug zu: dem allerletzten Wagen, der unsere wilde, destruktive Phase heil überstanden hatte. Von höheren Instinkten und einem Trieb, den nur meine ausgeprägte Intelligenz auslösen konnte, getrieben, sah ich mich gezwungen, meine Mission zu erfüllen. Visionen einer jubelnden Menschenmasse kamen mir in den Sinn, Auftritte in Talkshows und ein Bild von mir auf der Titelseite der berühmtesten Tageszeitung… Auszeichnungen und Entschädigungen für meine aufgewendeten Mühen – ein Spielzeugauto platt wie ne Flunder zu machen.
Doch scheinbar hatte sich ein Neider an mich herangeschlichen, um mich meines Ruhmes zu bestehlen. Mit der Absicht, diese Person zu ignorieren, hob ich den Hammer über meinen Kopf und ließ ihn erbarmungslos auf das winzige Objekt hinunterschnellen. In meinen Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sich ein Tier von der Seite näherte und wohl genau in meine Richtung steuerte. Perfekt. Auch das Teil würde dran glauben müssen.
Ich hätte vielleicht doch genauer hinsehen sollen. Es war KEIN Tier. Es war genauer gesagt die Hand von meinem Kumpel, dem vermeintlichen Neider, der in einer Kamikazeeinlage versuchte, sein Auto vor meiner mordlüsternen Aktion zu retten.
Jedenfalls war sein Geschrei bis in die Waldsiedlung zu hören, was ihm auch keiner vorhalten konnte, denn wenn ein Vorschlaghammer auf eine Hand trifft, diese dann zwischen sich und einem spitzen Gegenstand (einem Spielzeugauto zum Beispiel) zu einem Brei aus Knochen, Haut und Blut zermalmt, würde sogar ich leicht zusammenzucken.
Er schrie und schrie und schrie, und ich hatte erst mal die Nase voll von dem Spielverderber. Der Kerl sah auf seine zerfetzte Hand und brüllte immer wieder „Oh mein Gott, ich spür sie nicht mehr, das ganze Blut, oh GOOOOTT!!“…voll die Memme.
Nach 10 Minuten, als er anfing langsam zu keuchen, sich hinlegte und schlafen wollte (er war wohl etwas übermüdet von dem Geschrei und dem vielen Blut, dass er verloren hatte) wurde mir das Gewimmer zu blöd und ich ging nach Hause, um den Krankenwagen zu rufen. Mir taten nämlich die Ohren weh von seinem Geschrei, und ich wollte fragen was ich dagegen tun könne. Dabei fiel mir ein, dass er auch ein wenig blass aussah, und beschloss, den Krankenwagen erst einmal zu ihm zu schicken.
Es war natürlich selbstverständlich, dass ich ihn ins Krankenhaus begleiten würde, weil ich ja sein bester Freund war und der eigentliche Verursacher dieser Katastrophe…. also schön, ich wurde gezwungen mitzufahren, voll asozial.
Während mein Freund alles voll siffte mit seinem Blut, unterhielt ich mich mit dem netten Doktor, von dem ich erfuhr, dass er diesen Job erst seit ner Woche macht, und noch keine Praxiserfahrung hätte. Beruhigend. Ich sah die Panik in seinen Augen, als er auf die Wunde sah, und verglich sie mit der Todesangst des Opfers. Gleichstand.
Ich überlegte, ob ich nicht einige Spritzen aus den halbgeöffneten Schubladen nehmen sollte, um damit zu spielen. Da standen außerdem bunte Flaschen mit ekligem Zeug, wie sich nachher herausstellte war das ein drogenähnliches Gebräu, mit dem man unkontrollierbar psychotische Patienten ruhigstellt. Ich musste ja unbedingt dran riechen….mir war nur kurz schwindlig.
Im Krankenhaus angekommen wurde der Schreihals erst mal verarztet…für meine Mühen bekam er drei Spritzen in den Finger und sieben Stiche, die Hand sah aus wie ein zerkauter Marshmallow.
Währendessen sah ich mich in den anderen Zimmern um. Ich betrat wahllos Räume, von denen ich zu erwarten hoffte, meine chronische Langweile zu heilen. Keine Spritzen, keine Drogen, das sollte doch wohl ein verdammtes Krankenhaus sein, oder nicht? Die einzige Erklärung für das Fehlen dieser Utensilien lag vermutlich darin, dass die Spritzen vor solchen Psychopathen, wie mir, in Sicherheit gebracht und die Drogen von den Chefärzten konsumiert wurden.
Kann schon anstrengend sein, wenn man nach 44 einhalb Stunden immer noch im Dienst ist und dann mit zitternden Händen einzelne Kapillare einer Lunge auseinander fummeln darf, um an diese böse Lungenembolie dran zu kommen. Ein, zwei Valium geschmissen, ein bisschen Heroin gespritzt für den Hunger zwischendurch, dann ist man wieder fit – Gott segne die Drogen (Upper sowie Downer).
Dann nimmt man es übrigens auch erheblich gelassener auf, wenn einem die anderen Ärzte erklären wollen, dass man gerade einem Patienten die Hoden entfernt, drei Messer in seiner Brust vergessen hat und dann total breit um den OP-Tisch gelaufen ist, während man lachend versuchte, sich den Sauger aus der Nase zu ziehen.
Während ich mir das Szenario vorstellte und mit halbgeöffneten Augen dastand und hysterisch grinste, bemerkte ich weder das Aufblitzen einer Gürtelschnalle hinter meinem Rücken, noch die schmerzverzerrte Fratze meines Kumpels, der anscheinend immer noch unter dem Einfluss von Medikamenten stand.
In seinem koma-ähnlichen Zustand wickelte er ihn mir um meinen dürren Hals und war im Begriff, ihn zusammenzuziehen, als die Wirkung der Drogen wieder einsetzte. Er sank mit einem beruhigten Grunzen auf den Boden und begann zu schnarchen, was sich ungefähr so anhörte, wie mein Röcheln, durch das Strangulieren mit dem Gürtel verursacht.
Als ich wieder bei Kräften war, zwang mich eine höhere Macht NICHT auf seine frisch verbundene Hand zu treten und mich für seine Aktion zu rächen.
Mir schwebte etwas viel … Effektiveres vor.
Ich versuchte, ihn auf ein Krankenbett zu hieven, um ihn an die lustigen Geräte anzuschließen und anschließend zu testen, wie diese reagieren, wenn man dem Patienten beispielsweise in den Magen schlägt.
Aber, meine Fresse, war der Kerl schwer….ich packte ihn von hinten und schloss meine Arme um seine Hüften, hob ihn an, kam aber nur soweit, dass ich seinen Oberkörper auf das Bett fallen lassen konnte. Erschöpft, von diesem Akt der Anstrengung ließ ich meinen Oberkörper auf seinen Rücken sinken, um mich kurz auszuruhen. In dem Moment rutschte seine Hose, da sie ja nicht mit dem Gürtel befestigt war, nach unten. Die Zimmertür wurde geöffnet, meine Eltern, die Eltern des Opfers und der Chefarzt betraten den Raum – und sahen mich und meinen Kumpel in dieser recht verfänglichen Position da liegen.
Ich bekam eine Backpfeife und eine Standpauke, dass man solche Dinge nicht machen dürfe, weil sie unsittlich seien. Meine Erklärungsversuche scheiterten an meinem Stimmbruch, der mir nicht DIE lautstärkste Stimme verlieh, die für diese Diskussion vielleicht notwendig gewesen wäre.
Beim Hinausgehen hörte ich den Arzt noch mit einer Schwester diskutieren, wie jung die Vergewaltiger jetzt schon seien, und dass sie sogar nicht davor zurückschreckten, ihre Opfer vorher mit Drogen gefügig zu machen. Ich wollte diesen Vollpfosten beißen, aber meine Eltern ließen mich nicht.
Diese Aktion wurde mit einem dreiwöchigen Hausarrest abgerundet und trug erheblich zu meiner Resozialisierung bei.
Ich habe daraus gelernt. Ehrlich. Aus Fehlern lernt man ja……..
…….Das nächste Mal benutze ich einfach ein Gewehr, wenn ich Autos platt machen will. Wenn da was dazwischen kommt, ist es tot, und der ganze Ärger mim Krankenhaus bleibt einem erspart.