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Die Farbe der Feigheit
Thomas hatte sich die Notre Dame angesehen, war aber aufgrund der vielen Touristen bald wieder auf die Straße geflüchtet, weil er sowieso nichts sehen konnte und sich vorkam wie ein Schwein auf dem Weg zur Schlachtbank. Das Wetter war frühlingshaft schön, und so beschloss er einen Spaziergang an der Seine zu machen und sich für heute keine Sehenswürdigkeit mehr anzutun. Vor ein paar Stunden erst war er mit dem Nachtzug angekommen (er hasste das Fliegen) und das Erlebnis in der Kathedrale hatte ihm gezeigt, dass er es viel zu schnell anging, wo er doch eigentlich Urlaub in Paris machen wollte.
Er verließ also die Île de la Cité und ging in Richtung Quai Saint-Bernard, da er wusste, dass es dort antiquarische Bücher zu völlig überteuerten Preisen in diesen kleinen Buden gab, die sich an den Kais entlang schlängelten. Als er das letzte Mal in Paris war, ein Sprachaustausch während seiner Schulzeit, hatte er sich ebenfalls an einem dieser Stände ein Büchlein gekauft, das bis heute in seinem Bücherregal einen wichtigen Platz einnahm. Sein Interesse für die französische Literatur war seitdem nie abgebrochen und auch die gesprochene Sprache bereitete ihm seit jenen Tagen besondere Freude. Er liebte den ungebremsten Fluss, mit der sie aus den Mündern sprudelte.
Unterwegs an der Seine ließ er sich den kühlen Wind um die Ohren wehen, der in leichten Stößen vom Wasser her auf die Promenade wallte. Im klaren Licht des Frühlings war der Lärm der Großstadt irgendwie freundlich, dachte er bei sich.
Als er die ersten Buden erreichte, begann er auch sogleich zu stöbern. Da gab es natürlich viel Ramsch, Bücher, die das Etikett „antiquarisch“ eigentlich nicht verdienten, obwohl sie alt waren. Als Bibliophil erkannte Thomas so etwas auf den ersten Blick. Daneben jedoch auch echte Kostbarkeiten, die die Händler etwas versteckter aufbewahrten. Thomas fragte sich, wie man solch wertvolle Bücher so gedankenlos den Witterungen der Straße preisgeben konnte.
An einem Stand in der Nähe der Pont d`Austerlitz wurde er fündig. Ein kleines Büchlein mit dem Titel „arabische Liebesgeschichten“ gefiel ihm auf Anhieb. Der Ledereinband wies eine in Gold geprägte, orientalische Ornamentik auf, die Thomas mit ihren geometrischen Verstrickungen ganz schwindelig machte. Beim Durchblättern schimmerten ihm kolorierte Kupferstiche mit fremdartigen Motiven entgegen, die ihn endgültig überzeugten. Obwohl er ein wenig handeln konnte bezahlte er einen viel zu hohen Preis. Er steckte sich den Band in seine Umhängetasche. Trotzdem ein guter Kauf, dachte er sich.
Im Umdrehen blieb er wie angewurzelt stehen und ein Schwall des Entzückens durchfuhr ihn. Vertieft in das Angebot der Bücherstände hatte er gar nicht bemerkt, dass sich auf der anderen Straßenseite der Blick auf den Jardin des Plants, den Botanischen Garten, eröffnete. Vergessene Erinnerungen durchspülten sein Gehirn. Dort hatte er damals viele Stunden im Sommer verbracht, wenn er gerade nicht französisch pauken musste, hatte auf den Bänken gedöst, den Familien zugeschaut, gelesen und seiner erste Verabredung mit Julie klopfenden Herzens entgegengesehen. Julie, die Tochter des französisch-Dozenten. Hier hatte er sie das erste Mal geküsst. Hier war es auch, kurz bevor er nach Deutschland zurückfuhr, dass er vergebens auf sie wartete und sie nie wieder sah. In einem Brief, den er viel später von ihr bekam, begründete sie dies damit, das Gefühl gehabt zu haben, nicht die Eine gewesen zu sein. Seitdem hatte es mit keiner Frau mehr so recht geklappt, was Thomas schließlich zu dem Hagestolz machte, der er nun, Zehn Jahre später, geworden war.
Thomas überquerte also die Straße und trat in den Botanischen Garten ein, der ihn schon damals eher an einen Schlossgarten erinnerte. Immer noch sah man hier viele Familien auf dem Rasen sitzen, Mütter, die Kinderwägen schoben, Rentner, die auf Bänken saßen und Tauben fütterten, verliebte Paare, die sich eng umschlungen Liebesschwüre zuflüsterten.
Thomas flanierte die große Alle entlang, an dessen Ende sich der pompöse Bau des Museums für Naturgeschichte in die Höhe streckte. Der kühle Schatten der dicht gepflanzten Bäume kontrastierte mit dem hellen Gelb der Warmen Sonne, die sich auf die Wiesen und Blumenbeete rings umher ergoss. Gern hätte er sich gesetzt um ein wenig auszuruhen, aber es waren ihm auch hier zu viele Menschen. Die ersten warmen Tage lockten scheinbar ganz Paris auf die Straßen. Er brauchte Ruhe und einen Ort, wo er in seinem neuen Büchlein schmökern konnte.
Da erinnerte er sich, dass unweit des Jardin du Plants, ja direkt hinter dem Museum, sich die Grande Mosquée de Paris, die große Pariser Moschee, befand, und darin das Café Maure, das er als paradiesische Oase in Erinnerung hatte. Sofort beschleunigte er seinen Schritt, durchmaß den Park, ging links am Museum vorbei und aus der Anlage heraus. Schon sah er das imposante Minarett aus dem Komplex gegenüber herausstechen. Die Moschee nahm einen ganzen Häuserblock ein und schien, mit den Kuppeln und den kleinen Bogenfenstern, aus einer marokkanischen Altstadt geklaut worden zu sein. Thomas überquerte die Straße, ging nach links bis zur nächsten Kreuzung und befand sich nun vor dem Eingang in das Café.
Als er eintrat war es, als ob er in seine Jugendzeit eintrete. Etwas schien er an diesem Ort gelassen zu haben, das er nun wiederzufinden glaubte. Zumindest umfing ihn auch diesmal die bestechende Andersartigkeit dieses Ortes, so als würde man in eine Welt des Orients eintauchen, fernab einer europäischen Großstadt.
Der Großteil des Cafés befand sich unter freiem Himmel und wurde durch eine hohe Mauer von der Außenwelt abgeschirmt. Schlanke Feigenbäume, die aus kleinen Beeten mit fremdartigen Gewächsen entsprangen, spendeten angenehmen Schatten auf die dicht an dicht gestellten Tische und Stühle des Cafés, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Kleine Vögel zwitscherten in den Bäumen oder hüpften auf dem Boden umher, auf der Suche nach heruntergefallenen Krümeln.
Thomas setzte sich an einen freien Tisch (er war erfreut zu sehen, dass es nicht allzu voll war) und bestellte einen Pfefferminztee mit Baklava. Dann lehnte er sich zurück und genoss die Atmosphäre. Die Anlage war in Nischen und Terrassen eingeteilt, alle an den Wänden mit Mosaiken verziert. Ein paar Tische weiter saßen zwei arabisch aussehende Männer in ehrwürdigen Gewändern, die sich über etwas Wichtiges zu unterhalten schienen. Ihre dunklen Gesichter, die durch die weißen Bärte noch dunkler wirkten, strahlten Gläubigkeit und Ernst aus. Thomas hörte mit halbem Ohr zu, was sie zu bereden hatten. „..Und ich sage Dir“, sagte der eine, etwas größere und dünnere von beiden, der mit einer aristokratischen Hakennase gesegnet war „es wäre besser, Du verzichtest auf eine gelbe Tapezierung deiner Wohnung. Gelb ist eine Farbe, die in unserem Glauben keine besonders gute Bedeutung hat. Sie gilt als Symbol der Schwäche, der Feigheit, des Neids und sogar des Verrats. Es würde deine Besucher verärgern und es wäre nicht recht!“ Der etwas kleinere und dickere fühlte sich sichtlich auf den Schlips getreten und insistierte: „Beweise, mein Bruder, was Du da sagst! Die Tapete ist gekauft und ich sehe nicht ein, warum ich damit nicht meine Wände verzieren darf! Es ist doch schließlich nur eine Tapete!“ Thomas fiel der geschwollene Ton der beiden auf. Waren sie Gelehrte oder gar Imame?„Nun“, gab der Andere zurück, „wir behandelten doch heute die Schriften des al-Buchārī. Dort berichtete Anas: der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, verbot es den Männern, sich mit Safran zu färben. Safran, wie Du weißt, färbt Textilien gelb. Außerdem findet sich dort die Stelle, in welcher Ibn Umar, Allahs Wohlgefallen auf beiden, berichtet: der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, verbot es den Männern, sich während der Pilgerfahrt mit Tüchern zu bekleiden, die mit Wars oder Safran gefärbt waren. Und weiter findet sich bei ’Abdullah ibn ’Umar, möge Allah Wohlgefallen an ihnen beiden finden, dass der Gesandte Allahs ihn in zwei safranfarbenen Gewändern…“ „Ja ja, schon gut“, bremste ihn der andere „ich habe verstanden. Aber gelb und safranfarben, das ist nun einmal nicht dasselbe. Safran, mein lieber Bruder, geht eher ins orange, ja sogar rötliche. Und bei rot, da brauchen wir uns nicht zu streiten, da wäre ich allerdings absolut mit dir d`accord …“
Thomas hörte auf, der Konversation zu folgen, da ihm nun der Tee und das Baklavar gebracht wurden. Als er zu dem kleinen Honiggebäck griff, stellte er plötzlich mit einem gewissen Unbehagen fest, dass sein Leinenhemd gelb gefärbt war. Auch wenn er wusste, dass es ihm vollkommen egal sein konnte: er hoffte auf einmal inständig, nicht von den beiden Gelehrten gesehen zu werden. So beschloss er, sich nicht allzu auffällig zu verhalten und holte das kleine Buch mit den arabischen Liebesgeschichten heraus. Auf seinem Stuhl machte er sich so klein wie möglich, ja kippelte den Stuhl sogar nach hinten, sodass er sich halb hinter einem Beet verbarg. Er klappte das Buch auf und begann zu lesen.
Bald schon war er gefangen von den eigentümlichen Erzählungen, die von Scheichs und Prinzen handelten, die um die Gunst der schönen Kalifentochter buhlten und von Entführungen verheirateter Frauen mit fliegenden Teppichen. Er las von Liebeszaubern, von Liebesschmerzen und von Liebestoden…
Diese Geschichten machten Thomas nach einiger Zeit ganz betrunken und er gönnte sich eine Pause, indem er die Augen schloss und dem Gemurmel der Cafégäste lauschte. Es dauerte nicht lang und er war eingenickt.
Der Markt war trotz der Mittagshitze belebt, überall priesen Marktschreier ihre Waren an. Von ferne rief ein Muezzin zum Gebet. Thomas quetschte sich durch die Menschenmassen auf dem Weg in ruhigere Straßen. Er fühlte sich unbehaglich, weil sein Kaftan strahlend gelb gefärbt war, während die anderen Männer weiße Gewänder trugen.
So war er denn auch erleichtert, als er in eine einsame Gasse gespült wurde, in der an Wäscheleinen Kleidungsstücke ruhig im Wind wiegten. Er ging eine Weile diese Gasse entlang, bis er auf einen kleinen Platz gelangte, in dessen Mitte sich ein Brunnen befand. Schwarz verschleierte Frauen waren dort versammelt um Wasser zu holen.
Eine von ihnen blickte kurz auf und damit Thomas direkt in die Augen, um dann mit ihrem gefüllten Eimer den Platz zu verlassen. Dieser eine Blick genügte, um Thomas in den Bann zu ziehen. Noch nie hatte er solche Augen gesehen in denen so viel Anmut, so viel Schönheit steckte. Mochte der Rest dieser Frau verschleiert sein, Thomas genügten diese Augen, dass er der Frau folgte.
Auf einer Lehmtreppe holte er sie ein. Dort kniete er auf einer Stufe vor der Unbekannten nieder und bedeutete ihr mit weit ausgebreiteten Armen, stehen zu bleiben. „Höre mich an“, flehte er mit Tränen in den Augen „Du kennst mich nicht und auch ich kenne dich nicht. Trotzdem genügte ein Blick in deine vollkommenen Augen um mich davon zu überzeugen, dass Du die Einzige Frau sein kannst, die ich jemals lieben werde. Noch nie bin ich einem schöneren Geschöpf als Dir begegnet!“ Die Verschleierte neigte den Kopf und sagte: „Es schmeichelt mir sehr, dass Du in mir die schönste Frau siehst, der Du je begegnet bist. Dennoch, ich sage Dir, meine Schwester, die mir auf ein paar Meter folgt, ist weitaus schöner, als ich es bin! Sieh, gleich wird sie um die Ecke kommen!“ Als Thomas dies vernahm stand er auf, um nach der Schwester Ausschau zu halten. In diesem Moment schlug ihm die Frau so sehr ins Gesicht, dass er die Treppen hinunter fiel und hart aufschlug. „Warum?“, rief er voll Schmerzen auf dem Rücken liegend. „Warum?“
Als er die Augen öffnete bemerkte er, dass er zwar noch auf seinem Stuhl saß, aber auch gleichzeitig auf dem Boden des Cafés lag. Die zwei Alten vom Nebentisch standen nun über ihm und halfen ihm mit erstaunlichem Geschick wieder auf. Er musste eingeschlafen und mit seinem Stuhl nach hinten gekippt sein, dachte Thomas bei sich. Voller Scham bemerkte er die Blicke der übrigen Cafébesucher. „Machen sie sich nichts draus“, sagte der schlankere von den Beiden, „es ist immer besser von einer Frau, als von einem Dschinn zu träumen!“ Auf das verdutze Gesicht von Thomas antwortete der alte Mann nur mit einem wissenden Grinsen. „Trinken Sie doch Ihren Tee mit uns! Wenn sie wollen, deuten wir Ihnen auch Ihren Traum…“.
Höflich nahm er die Einladung an, doch die Botschaft des Traumes hatte er bereits erkannt. Er wusste jetzt, was er all die Jahre falsch gemacht hatte.