Die Farbe der Blätter
Freitag, 15 Uhr, es war endlich geschafft. Hinter jedem Handgriff, vom Abschließen der Schreibtischschubladen, bis hin zum Anziehen des Mantels, steckte einer dieser Automatismen, die gedanklich nicht begleitet wurden. Würde sie zehn Minuten später überlegen, ob sie auch wirklich alles abgeschlossen hatte, sie würde es nicht mit Sicherheit sagen können. Die Dame am Empfang, deren Lachen man oft im ganzen Gebäude hallen hörte, verabschiedete sie, wie immer, mit einer, für sie, nicht nachvollziehbaren Fröhlichkeit. Sie hatte dieses runde, glänzende Gesicht noch nie ernst gesehen und fragte sich, wie ein Mensch so viel positive Energie in sich tragen konnte. „Ein schönes Wochenende und genießen sie diesen wunderschönen Herbstnachmittag. Solche Tage sind einfach herrlich.“ Sie antwortete, wie immer nach Feierabend, mit den üblichen Floskeln, „Ja danke, gleichfalls“, und war froh, dieses positive Energiefeld verlassen zu können.
Der Weg zur U-Bahn dauerte ungefähr fünfzehn Minuten, wenn man sehr schnell ging, konnte man es auch in der Hälfte der Zeit schaffen. Die Wegstrecke war nicht besonders attraktiv, hier wohnten keine Menschen, hier wurde nur gearbeitet. Getrennt von einer vierspurigen Straße, waren links und rechts Bürogebäude angesiedelt. Es waren meist einstöckige Flachgebäude, den Firmenschildern nach zu urteilen, Abkömmlinge irgendwelcher Unternehmenszentralen, die anderswo ihren Hauptsitz hatten. Im Sommer war es hier sehr grün, vor den Firmengebäuden waren kleine, gepflegte Rasenflächen, alle fünfzehn Meter war ein Baum am Wegrand gepflanzt. Die meisten der Menschen, die hier arbeiteten, hatten ein Fahrzeug, da man hier kaum Fußgängern begegnete.
„Ein wunderschöner Herbstnachmittag sollte das also sein“, ging es ihr durch den Kopf, während sie durch das raschelnde Laub ging. Was war an einem riesigen Friedhof der Natur schön? Sie hatte es nie verstehen können, dass man sich für die bunte Blätterpracht im Herbst begeistern konnte. Ja, sie strahlten in warmen Braun- und Gelbtönen und doch waren sie ausgetrocknet und abgestorben. Da lagen sie nun, die einstmals grünen Blätter, raschelten, als würde man über weggeworfene Briefe laufen, ihren sinnlos gewordenen Inhalt zertreten, bis sie zerfielen und zu Nichts wurden. In einigen, fast ausgetrockneten Pfützen waren die Blätter bereits zu einer braunen, glitschigen Masse geworden, kaum noch zu identifizieren als das, was sie einmal waren. Bald würde dieser Weg noch trostloser werden, dann, wenn der für diese Jahreszeit unausweichliche Regen einsetzte, die Bäume völlig kahl den Wegrand säumten und sich der Grauschleier über die Stadt legte. Diese Jahreszeit war ein Spiegelbild ihrer Gedanken, ihrer Seele, ihres Lebens und immer dann, wenn die Bäume ihre Blätter verloren, wurde ihr das bewusst. Es war nie wirklich etwas schief gelaufen in ihrem Leben, nicht mehr jedenfalls, als es bei anderen auch der Fall war. Doch während sie sich wieder aus dem Sumpf ihrer persönlichen Niederschläge erhoben und von neu gewonnener Stärke sprachen, war sie irgendwann einmal stecken geblieben, so als würde sie das Moor verschlingen, sehr langsam und träge. Einen Schlussstrich zu ziehen, Erinnerungen als das anzusehen, was sie waren, nämlich Vergangenheit, das war ihr nie gelungen. Die Summe ihrer Erinnerungen hatte irgendwann einmal angefangen, sie zu erdrücken, ihre Gegenwart und Zukunft zu überzeichnen und nicht mehr annehmen zu wollen. Wohin bloß packte die fröhliche Empfangsdame ihre Erinnerungen, woher nahm sie diese Fröhlichkeit, die auf so viele ansteckend wirkte.
Der U-Bahnhof war an diesem Nachmittag extrem voll, die Zeitanzeige, wann der nächste Zug einfahren würde, war ausgefallen. Eine gereizte Stimmung machte sich unter den Wartenden bemerkbar, man war schließlich gewohnt, nie länger als vier Minuten warten zu müssen. Nachdem sie fünf Minuten in der ungeduldigen Masse gestanden hatte, hörte sie plötzlich eine bekannte Stimme neben sich, es war die fröhliche Dame vom Empfang, „Ach, sie sind ja auch hier. Es ist ja immer ärgerlich, wenn es zu solchen Verzögerungen kommt, gerade Freitags, da wollen die Leute doch alle schnell ins Wochenende.“ Eigentlich hatte sie keine Lust, sich auf ein Gespräch einzulassen, aber es bestand kaum Aussicht, dem aus dem Weg zu gehen. „Ja, das ist wirklich ärgerlich, die meisten hier sind auch schon ziemlich gereizt“, antwortete sie, eigentlich nur, um überhaupt etwas gesagt zu haben. Jetzt hatte die Empfangsdame plötzlich einen ganz anderen Gesichtsausdruck, ihr immer währendes Lächeln war einem wehmütigen Blick gewichen. „Ja, wissen sie, manchmal ist es wirklich unsinnig, worüber die Leute sich aufregen und womit sie sich beschäftigen. Was ist schon eine Verspätung? Es gibt so vieles, das schlimmer ist. Sehen sie, ich habe vor zwei Jahren meinen Mann und Sohn bei einem Verkehrsunfall verloren. Kaum hatte ich mich wieder aufgerappelt, da wurde Krebs bei mir diagnostiziert. Ich habe lange mit mir gerungen, wollte aufgeben, wollte dahin, wo das Liebste war, das ich hatte und dann bekam ich eine solche Wut auf mich. Wie gerne hätte mein Mann gelebt, er war ein so lebenslustiger Mann, und mein Sohn, mein Gott, der war noch so jung, hatte sein ganzes Leben noch vor sich. Und ich, ich wollte einfach so aufgeben. Ich habe mich für meine Gedanken geschämt und angefangen zu kämpfen und ich habe den Kampf gewonnen. Das Leben kann doch so schön sein, in allem steckt etwas besonderes, etwas lohnenswertes, aber das merken die meisten wohl erst dann, wenn es zu spät ist.“ Angesichts dieser Geschichte, verschlug es ihr die Sprache. Dieser Mensch, dessen Fröhlichkeit schon befremdend auf sie gewirkt hatte, war trotz dieser schmerzlichen Vergangenheit nicht verbittert, ganz im Gegenteil.
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als endlich eine Ansage durch die Lautsprecher kam. „Sehr geehrte Fahrgäste, der Zugverkehr der Linie 9 ist, wegen eines Fahrgastunfalles, auf unbestimmte Zeit unterbrochen. Wir bitten Sie, den in Kürze zur Verfügung stehenden Schienenersatzverkehr zu nutzen.“
Was man von so einer Ansage halten musste, war jedem der Wartenden klar. Ein Fahrgastunfall war immer ein Selbstmord, ein Mensch, der nur einen Schritt gegangen war und sich im Bruchteil einer Sekunde für das Ende entschieden hatte. Durch die Masse ging ein ärgerliches Raunen, in einem Wirrwarr von Gesprächsfetzen konnte man kaum etwas anders ausmachen, als "wieder so ein Spinner" und "sollen sie sich doch in ihrer Dachkammer erhängen und nicht andere mit reinziehen in ihre Depressionen." Die Meinungen auf dem Bahnsteig schienen kaum voneinander abzuweichen. „Wieder so ein mutloser Mensch, es ist so traurig, dass es manchen nicht möglich ist, aus diesem Zustand zu entkommen“, sagte die Empfangsdame, während sie gemeinsam den U-Bahnhof verließen.
Während des Nachhauseweges wechselten ihre Gedanken zwischen der Frau, die ihr in kurzen Worten ihr Schicksal erzählt hatte und dem Menschen, der offensichtlich den Kampf, gegen was auch immer, nicht aufnehmen wollte und vor die U-Bahn gesprungen war. Als sie in ihre Straße einbog, wehte vor ihr eines dieser herbstlichen Blätter, es schien fast vor ihren Augen zu tanzen, aufgewirbelt vom Wind. Vielleicht war sie ja schon viel zu tief verstrickt in ihren Frust, aber beim Anblick dieses Blattes, das durch seinen Tanz im Wind noch seinen letzten Rest Fröhlichkeit aufbrauchte, empfand sie eine tiefe Sympathie für den Menschen, der sich an diesem Herbstnachmittag gegen das Leben und den Frohsinn entschieden hatte.