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Die Familie
Die Familie
Roger, Bernadette und Lilly saßen wie jeden Abend regungslos vor ihren Tellern und starrten ins Leere. „Guten Appetit, ihr Lieben“, sagte Harold. Es gab Nudeln mit Hackfleischsauce. “Na, wie schmeckt's euch? Mir jedenfalls hervorragend“, sagte er mit leuchtenden Augen, als er sich den nächsten Löffel in den Mund schob. Seine lauten Schmatzgeräusche und das Klimpern des Löffels auf dem Teller waren die einzigen Geräusche in dem großen, alten Haus. Sie antworteten ihm nie und zeigten auch keine Gefühlsregungen mehr seit dem Autounfall vor ein paar Jahren.
Der Wagen raste mit voller Geschwindigkeit in einen Brückenpfeiler und wurde zerdrückt wie eine Sardinendose. Niemand überlebte diese Tragödie. Man war froh, dass man die Personen in diesem Brei aus Fleisch, Blut und Metall überhaupt noch identifizieren konnte. Als ihm der Chief Inspector die Nachricht überbrachte, zerbrach seine Welt und ein Teil seiner Seele starb ab, wie ein alter, knorriger Baum. Der Gedanke zerriss ihm das Herz, dass er sie nie wieder sehen würde. Nie wieder würde er Lillys elfenhaftes Lachen hören, wenn sie mit ihrem Puppenhaus spielte. Nie wieder würde er die warme Hand seines Vaters auf seiner Schulter spüren, wenn er ihm sagte, wie stolz er auf ihn sei und nie wieder würde er die glockenhelle Stimme seiner Mutter hören, wenn sie sie zum Essen rief und ihr warmes Lächeln sehen, wenn sie ihre Kochkünste in den Himmel lobten.
Nie wieder.
Über die Wochen fraßen sich Trauer und Schmerz durch die Reste seiner Seele und seines Verstandes. Das Grau um ihn herum wurde immer trüber und trüber. Realität und Wahnsinn vermischten sich mehr und mehr zu einem tosenden Meer aus Trauer, Wut und Hoffnung.
Bis es ihn eines Tages wie ein Blitzschlag traf. Er baute sie sich einfach neu. Warum auch nicht? Er war geschickt mit den Händen und bastelte sein Leben lang irgendwelche Dinge. Dieser Gedanke ließ neue Hoffnung in ihm aufkeimen und die Freude strahlte über sein Gesicht. „Bald sind wir wieder zusammen, bald sind wir wieder eine richtige Familie,“ jauchzte er.
Er besorgte sich alles, was er brauchte, aus dem örtlichen Baumarkt. Tagelang arbeitete er ununterbrochen in der Garage. Als er fertig war, trat ein fiebriger Glanz in seine Augen und er fing an zu tanzen und zu singen, als hätte die Lebensfreude ihn nie verlassen. Da standen sie nun. Drei lebensgroße Puppen aus Gummi und Schaumstoff, eingekleidet in die Lieblingssachen seiner Familie. Die Gesichter, ebenfalls aus Gummi gemacht, sahen mehr schlecht als recht wie sie aus, aber das war ihm egal. Er hatte seine Familie wieder und nur das zählte.
Zwei Monate nach dem Unfall zog Tante Erna in ihr Haus ein, um Harold unter die Arme zu greifen. Sie half ihm beim Wäsche waschen, kochen, putzen und sonstigen anfallenden Hausarbeiten. Anfangs war ihr etwas unwohl dabei, mit der Familie zusammen zu essen.
„Müssen die denn so da sitzen,“ fragte sie. „Oder können wir nicht im Salon essen, da würde ich mich viel entspannter fühlen?“
„Nein!“ herrschte er sie an. „Wir essen alle zusammen, nicht wahr, ihr Lieben?“
Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. So richtig daran gewöhnen konnte sie sich nie.
Einmal erwischte er sie dabei, als sie Roger so kräftig gegen den Kopf schlug, dass er fast vom Stuhl fiel und drohte: „ihr kommt bald weg. Wartet's nur ab, ihr Plagegeister.“
Wenn er daran dachte, ballte sich seine Fäuste so fest zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Er erinnerte sich, wie erschrocken sie ihn ansah, an die Angst in ihrem Blick, als die Tür krachend gegen die Wand flog und er sie anbrüllte: „Nimm deine Hände weg, du Hexe! Nimm deine gottverdammten Hände weg!“ Harold sprang zu Roger und drückte dessen Kopf schützend gegen seine Brust. „Nie wieder wird sie dir wehtun. Nie wieder wird dir irgendjemand weh tun. Ich versprech's.“ Tränen kullerten seine Wangen hinunter, während er Roger vorsichtig in seinen Armen wog. Hart wurde sein Blick, als er Tante Erna aus dem Zimmer schleichen sah. „Das wirst du noch bitter bereuen!“
Drei Tage später hatte sie dann diesen blöden Unfall. Sie musste irgendwie mit dem Schuh im Teppich hängen geblieben sein, als sie die Treppe hinuntergehen wollte. Sie versuchte noch am Geländer Halt zu finden, griff aber daneben und stürzte mit einem Schrei nach unten, wo sie regungslos liegen blieb.
Zumindest erzählte er das den Sanitätern. Unfälle passierten nun mal. Er erinnerte sich noch genau an die Worte des Arztes, nachdem man sie weggebracht hatte: „Sie hat sich das Genick gebrochen, tut mir sehr leid.“ Harold glaubte nicht, dass es dem Arzt wirklich leidtat, doch was sonst hätte er sagen sollen. Ihm tat es auch nicht leid, sie war ja selbst schuld. Nun hatte sie bekommen, was sie verdiente.
Harold rieb sich genüsslich den Bauch und gab einen lauten Rülpser von sich. Das Essen war wirklich hervorragend, aber jetzt wurde es allmählich Zeit, alle zu Bett zu bringen Er stand auf, räumte die Teller ab und brachte einen nach dem anderen in ihre Zimmer. Als er sicher war, dass alle wohlbehütet und in sauberen Nachtkleidern in ihren Betten lagen, setzte er sich noch ins Lesezimmer mit seinem Lieblingsbuch. Er war so vertieft darin, dass er es vor Schreck fallenließ, als die große Wohnzimmeruhr eine Stunde vor Mitternacht schlug.
'So spät schon? Zeit, dass ich ins Bett komme,' dachte er.
Mit einem tiefen Gähnen hob er das Buch auf und legte es auf den kleinen Beitisch. Er löschte die kleine Lampe und schlurfte in Richtung Schlafzimmer. Sein brauner Schlafanzug umhüllte seinen Körper wie eine zweite Haut und er duftete nach Frühling.Er war gerade mit Zähneputzen fertig, als er von draußen ein Knarzen hörte, wie von einem alten Bett, wenn man sich darin drehte oder eine Schranktür, die langsam geöffnet wurde.
Harold spie den letzten Schluck Wasser aus, trocknete sich die Hände ab und schielte durch die halbgeöffnete Tür nach draußen in den dunklen Flur. Alles war ruhig. Er öffnete die Tür zu Lillys Zimmer. Sie lag noch genauso da, wie zu dem Zeitpunkt als er sie ins Bett brachte. Das Fenster war geschlossen, ebenso der Schrank und der kleine Nachttisch. Auch das andere Zimmer brachte kein anderes Ergebnis.
'Vielleicht waren das einfach nur die Bodenbretter, dieses Haus war ja schon recht alt. Da kommt so etwas schon mal vor. Wobei doch der Boden erst vor gut einem Jahr erneuert worden ist.'
Harold rann ein leichter Schauer über den Rücken.
'Merkwürdig,' dachte er. 'Ich werde morgen mal durch die Zimmer gehen und schauen, ob ich irgendwo ein loses oder verzogenes Brett finde.'
Mit diesem Entschluss ging er über den flauschigen Shaggy-Teppich in sein Zimmer am Ende des Flurs. Bevor er sich in die kuschelige Wärme seines Bettes begab, blickte er aus dem Fenster in diese friedliche Nacht. Die Sterne funkelten wie kleine Diamanten zu ihm hinab, um ihm eine geruhsame Nacht zu wünschen. Die hatte er sich jetzt auch verdient. Er ließ den Rollladen herunter und mit ihm fielen seine Augen auch schon fast zu. Kaum berührte sein Kopf das weiche Kissen, war er auch schon eingeschlafen und ins Land der Träume versunken.
Harold fuhr aus seinem Bett hoch. Ein lauter Knall hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Sein Herz hämmerte in seiner Brust und er atmete schnell und heftig. Was zum Henker war das gerade? Es klang so, als ob etwas zu Boden gefallen ist. Waren vielleicht Einbrecher in seinem Haus? Was, wenn sie seine Eltern oder seine Schwester fanden? Sie waren ihnen hilflos ausgeliefert. Harold musste etwas tun, aber was? Er saß im Bett, starr vor Angst, den Blick stur geradeaus auf die Tür gerichtet. Lauschend nach jedem noch so leisem Geräusch, tastete seine Hand nach der kleinen Nachttischlampe und schaltete sie ein. Das Licht erhellte das Zimmer ein wenig und hüllte alles in ein fahles Licht. Da, wieder dasselbe Geräusch. Und noch einmal. Harold begann zu zittern, die Panik kroch in seinen Körper und ließ seine Zähne klappern. Was zum Teufel geht da vor? Und wieder kam ihm seine Familie in den Sinn. Der Gedanke, dass ihnen etwas zustoßen könnte, nagte am ihm wie ein Ratte. Schließlich überwog die Angst um sie die Angst um ihn selber und mit dem Mute der Verzweiflung schlich er in Richtung Tür. In der Ecke stand noch ein alter, ramponierter Tennisschläger, den er sich griff. Nicht die beste Waffe, aber besser als die bloßen Fäuste. Er stand jetzt so dicht vor der Tür, dass er den Arm nur ein Stück weit auszustrecken brauchte, um die Klinke herunterdrücken zu können. Draußen war es jetzt still. Kein Geräusch drang mehr an seine Ohren. Harold fasste allen Mut zusammen und drückte die Klinke herunter. Vorsichtig, ganz langsam öffnete er die Tür einen Spalt, um hinausspähen zu können. Er konnte so gut wie nichts erkennen. Die Dunkelheit im Flur wurde nur durch das schwache Licht, das aus dem Türspalt drang, ein wenig durchschnitten, aber zu wenig, um wirklich etwas erkennen zu können. Er atmete noch einmal tief durch, dachte an seine schutzlose Familie in ihren Betten, zog mutig die Tür auf und erstarrte auf der Stelle.
Vor ihm stand eine Puppe, die einer verzerrten Version seiner Tante Erna glich. Ein dürres Holzgestell, eingehüllt in eines ihrer typischen Kleider und mit Stroh, das überall heraushing, gefüllt. Das Gesicht glich eher einer verdrehten Fratze als einem menschlichen Gesicht, aber er konnte sie trotzdem als Tante Erna identifizieren. Versuchte ihm hier jemand einen Streich zu spielen? Aber wie kam sie dann hier herein? Die Türen waren verschlossen, die Fenster ebenso. Oder nicht? Harolds anfängliche Starre wich aus seinem Körper und er wollte sich gerade wieder in Bewegung setzen, als die Nachttischlampe hinter ihm mit einem lauten Knall auf den Boden fiel, zersprang und das Haus in pechschwarze Dunkelheit hüllte. Gleichzeitig vernahm er vor sich wieder die Knarzen von Holz wie vorher. Die Panik schoss zurück in seinen Körper und ließ ihn seine Familie vergessen. Sein Verstand war jetzt nur noch auf Flucht programmiert und er wollte einfach nur weg, in Sicherheit. Allerdings hatte er die Orientierung verloren und krachte mit dem Gesicht voran in den Türrahmen. Benommen sank er zu Boden, die Beine fühlten sich an wie Gummi. Vor seinen Augen wirbelten Sterne umher und er schmeckte Blut auf seiner Lippe.
Durch den Nebel der Benommenheit drang etwas in seinen Verstand, eine Stimme, die er lange nicht mehr gehörte hatte und die er hasste.
Höhnisch flüsterte sie, „Hallo, Harold.“