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Die Fahrt
Kraus blickte aus dem Fenster, als der Zug sich in Bewegung setzte. Es war ein großer Bahnhof, das war ihm zuvor noch nie so aufgefallen. Kinder, Frauen und Alte, auch ein paar Männer winkten im lichten Qualm der Dampflock. Es waren viele gekommen, um sie zu verabschieden, viele gekommen, die wussten, dass es möglicherweise die letzte Gelegenheit war sie zu sehen. Er fand seine Eltern, sein Vater, der den strengen Blick eines Generals aufgesetzt hatte, seine Mutter, die mit betroffener Miene und zittrigen Beinen in seine Richtung blickte, und seine Frau, die mit dem Taschentuch in der Hand den Fluss der Tränen zu unterbrechen versuchte. Er winkte ihnen zu, würde am liebsten wieder aussteigen, einfach hier bleiben.
Der Bahnhof zog nun mit jeder verstreichenden Zeiteinheit schneller am Fenster vorbei. Bald schon erreichte sein Wagon die Grenze des Bahnhofs und er war draußen. Sonnenlicht blendete ihn. Er wagte einen letzten Blick zurück. Die Wartenden standen noch an ihren Plätzen und winkten. Sie wurden immer kleiner, winzig, bis sie ganz verschwunden waren.
Kraus wandte seinen Blick vom Fenster ab. Er musterte die anderen Soldaten. Manche kannte er, manche waren ihm unbekannt. Marionetten waren sie, er auch. Wie domestizierte Tiere saßen sie auf ihren Plätzen und sagten nichts. Es war ruhig, nur das Geräusch des fahrenden Zuges war zu hören: das ständige Vibrieren, das ständige Gequietschte, das ständige Schleifen.
Ein Bekannter setzte sich neben ihn. Zunächst schwiegen sie. Er war jünger als Kraus. Er nannte seinen Bekannten A. Sie kannten sich schon lange, zu lange um im Krieg gemeinsam zu kämpfen. A war jung, fröhlich, gutaussehend. A war verheiratet. Mehr wusste er nicht über A, Kraus hatte alles vergessen.
Es waren schon viele gestorben, erinnerte sich Kraus. Viele seiner Kammeraden waren gefallen. Es war hart für ihn. Er war nicht wie A, er war anders. Nach einiger Zeit, mit konstanter Geschwindigkeit fahrend, entschied sich Kraus ein Gespräch mit A zu führen:
Die Ehre, sagte Kraus. Nicht wahr?
Wie wahr, antwortete A. Die Ehre!
Bist du deshalb hier?
Nein, nicht nur deswegen.
Weswegen dann?
Um zu töten. Und du?
Auch, um zu töten. Die Ehre, sie ist unwichtig.
Nein, um Ehre geht es nicht.
Tötest du gern? Fragte Kraus. Seine Augenlieder zuckten.
Oh ja. Es ist tatsächlich so. Es ist eine Freude.
Mir gefällt es nicht. Es fühlt sich nicht gut an.
Aber du machst es doch auch, wir alle machen es. Wir können es ohne Strafe machen.
Dennoch, es ist nichts für mich.
Du wolltest schon vor dem Krieg töten. Nun kannst du es tun.
Das ist etwas anderes.
Nein, es ist das Gleiche. Töten bleibt Töten.
Es wird mir befohlen. Wenn ich nicht töte, muss ich sterben.
Keiner muss sterben, wenn keiner tötet, nicht im Krieg.
Wenn du so denkst, dann müsstest du nicht töten.
Es macht mir Freude, einfach so. Der Mensch, er ist ein Mörder. Geboren um zu töten. Jeden zu töten. Es ist so und daran gibt es keinen Zweifel. Moral gibt es nicht, nicht im Krieg, nicht für mich.
Der Zug bog in eine Kurve. Kraus wurde gegen die Scheibe gedrückt, A drückte gegen ihn.