Die Fahrt
Als ich die Autobahn erreiche, ist es bereits 18 Uhr.
"Wer häufig zu spät kommt, will damit Macht demonstrieren!" - das hatte mein Vater einmal gesagt. Ich komme viel zu häufig zu spät, aber ich will keine Macht demonstrieren. Ich will mich bessern. Ich schäme mich. Ich greife zum Telefon.
Schatz, ich bin jetzt auf der Autobahn. Bald bin ich da, in zwei Stunden. "Das ist schön, die Kinder werden sich freuen." Nein nein, sag es ihnen nicht, eine Überraschung soll es werden. "Ist gut, fahre vorsichtig. Denk dran: Vor Hamersbruch gibt es diese Baustelle, dort ist die Straße gesperrt. Fahre vorher links auf die Landstraße." Natürlich, den Weg habe ich mir notiert, bin ihn doch auch schon gefahren, ich finde zu euch und wir verbringen ein schönes Wochenende, ich freue mich.
Ja, vorsichtig fahren will ich gerne. So viele Menschen fahren auf die Autobahn und kehren nicht zurück. Eine unnötige Art zu sterben. Es ist einer von mehreren Gründen, weshalb ich es als abstoßend empfinde, ein Auto als Statussymbol anzusehen.
Und doch hatte ich bereits eine erste Verkehrssünde begangen: Schließlich wäre das Telefonieren während der Fahrt kaum verboten, würde es nicht tatsächlich die Unfallgefahr erhöhen.
Doch das kurze Telefonat hat meine Stimmung verbessert. Ich freue mich auf die Ankunft, auf meine Frau, die beiden Kinder. Meine lieben Kinder. Einen schönen Spätsommerabend werden sie jetzt haben, drüben auf dem Land. Wenn die Sonne ihre Strahlen schräg auf die Wiese wirft und der Geruch eines aufkommenden Gewitters in der Luft liegt.
Es ist eine entfernte Verwandte, bei der wir eingeladen sind. Es ist sehr ländlich und die Kinder sind gerne dort. Sie sind mit meiner Frau vor einigen Tagen angereist und machen Urlaub. Ich komme nur für einen Tag dazu, die Arbeit lässt es anders nicht zu. Ich will mich nicht an die leere Wohnung daheim gewöhnen.
Gerade bin ich an einem Autobahnkreuz vorbei gefahren. Rasch versuche ich noch einen Blick auf das Schild zu erhaschen - zu spät. Hätte ich bereits hier abbiegen müssen? Vermutlich. Von der A 68 wollte ich wechseln auf die A 76. Die sollte mich nach einigen Abfahrten auf eine Bundesstraße führen.
Nun, es ist zu spät, ich war in Gedanken versunken und habe die richtige Abfahrt verpasst. Bei der nächsten Ausfahrt kann ich sicher drehen.
Ein Schild weist auf eine Ausfahrt hin. "Greifstal". Ich denke kurz nach. Ja, der Name kommt mir bekannt vor. Bin ich nicht bereits dort gewesen, bei einem Seminar oder privat? Ganz sicher sogar, ich kann mich noch gut an die alte katholische Kirche im Ortskern erinnern.
Ich bin beruhigt über meine Feststellung. Also kenne ich mich hier zumindest ein wenig aus und werde zügig wieder zurück finden. Der Umweg ist marginal, und da ich nun ohnehin spät dran bin, kommt es auch nicht mehr auf die wenigen Minuten an.
Der Verkehr ist hier etwas lichter. Offenbar ist die Anzahl der Berufspendler in dieser Gegend geringer.
Ein Schild an der Ausfahrt weist auf eine Baustelle hin. Ich fahre ab, eine Umleitung führt mich noch vor der Kreuzung auf einer provisorischen Schotterpiste an der Autobahn entlang. Ich fahre durch einen kurzen Tunnel, erreiche dahinter eine Kreuzung. Ich habe die Orientierung verloren und fahre links. Hier geht es wieder auf die Autobahn. Die Ortsnamen auf dem Schild sagen mir nichts, doch muss die Richtung stimmen.
Die Kennzeichen der PKW vor mir verraten mir, dass ich vermutlich auf dem richtigen Weg bin. Ich taste auf dem Beifahrersitz nach meinem Telefon.
"Ja?", ertönt es müde aus dem Telefon. Ein bisschen später wird es doch noch, ich hatte mich verfahren, bin nun aber auf dem Weg. Habe ich dich geweckt?
"Hm.", bestätigt meine Frau. Dabei ist es doch noch früher Abend? Lass nur, die Kinder sollen sich gut ausruhen, und du auch. Morgen werden wir viel unternehmen, es wird ein schöner Tag werden. Und hattest du nicht von einer Baustelle erzählt? Ich glaube, daran bin ich gerade vorbei gefahren. Bestimmt bin ich bald bei euch.
Ich hänge auf und schaue in den Himmel. Tatsächlich hat es bereits begonnen zu dämmern. Das erwartete Gewitter ist ausgeblieben. Auch gut, die Luft wird warm und frisch schmecken, wenn ich ankomme.
Ein Schweißtropfen läuft mir über die Stirn, es ist unangenehm warm im Auto. Früher bin ich gerne mit offenem Fenster gefahren, habe es der Klimaanlage gerne vorgezogen und mich dabei für sparsam gehalten. Die Klimaanlage verbraucht so viel Kraftstoff, habe ich stets argumentiert. "Das offene Fenster verbraucht viel mehr - wegen der Aerodynamik", hatte mein Vater dann geantwortet.
Das Autobahnkreuz erscheint nicht, auch weitere Abfahrten lassen auf sich warten. Ich bin ratlos. Am nächsten Parkplatz werde ich anhalten und mich nach dem Weg erkundigen. Vielleicht gibt es dort auch eine Karte.
Das Hemd klebt an meiner Brust und ich möchte nun doch das Fenster öffnen. Aber ich muss auf die Straße achten, mir ist schwindlig, das Atmen fällt mir schwer, ich fühle mich schwach. Schon seit einigen Tagen bin ich angeschlagen, sicher ein lästiger Infekt.
Es ist nun fast vollkommen dunkel draußen. Die Lichter der entgegenkommenden Autos blenden von links.
Ich habe mir etwas vorgemacht. Ich kenne Greifstal nicht, bin nie dort gewesen. Und eine alte katholische Kirche gibt es daheim in jedem Dorf. Ich weiß nicht, wo ich bin.
Fiebrig fühle ich mich, Panik steigt in mir auf. Ich will doch meine Kinder sehen, wir wollen einen schönen Tag haben, und nächstes Jahr fahren wir gemeinsam, versprochen. Ich klammere mich an das Lenkrad, vor meinen Augen flimmert es. Ich schlucke übel schmeckenden Speichel herunter. Mein Hals schmerzt.
Wieder taste ich rechts nach dem Telefon. Nach dem zweiten Freiton nimmt jemand ab. Ich erkenne die Stimme meiner Frau, aber die Verbindung ist schlecht. "Nele, bitte, ich brauche deine Hilfe!", flehe ich. "Ich weiß nicht, wo ich bin, habe mich verfahren, ich bin krank, mir geht es schlecht..."
Rauschende, knackende Geräusche. Jemand spricht. Hat im Hintergrund ein Kind geweint? Ich verstehe nichts. Ich atme tief durch und sammle mich.
"Ich kann dich gerade nicht verstehen, aber vielleicht hörst ja du mich. Ich befinde mich auf einer Autobahn. Habe Greifstal passiert vor..." - ich blicke auf die Uhr: 22:22. "Ich weiß nicht genau wann, aber es ist eine Weile her. Weitere Abfahrten oder Parkplätze gab es seitdem nicht. Bitte: Sag mir, wo ich bin!"
Stille. Gebannt horche ich in das Telefon hinein. Auf der Autobahn ist es ruhig geworden, nur selten sehe ich links oder rechts von mir zwei hellrote Rücklichter, eingerahmt vom dunklen Schmen einer Karosserie. Gerade überholt eines dieser Gefährte meinen PKW, ganz langsam, es ist kaum schneller als ich es bin. Hinter dem Seitenfenster erkenne ich im reflektierenden Abblendlicht der Fahrzeuge schemenhaft eine Gestalt. Sie hat den Blick starr geradeaus gerichtet. Noch immer halte ich das Telefon an meinem Ohr. Was würde ich dafür geben, würde sie sich mir zuwenden und zumindest geringschätzig den Kopf neigen ob meines Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung. Doch sie zeigt keinerlei Reaktion. Nach einer Weile ist ihr Gefährt vor mir und zieht allmählich davon.
Ein Besetztzeichen weist mich darauf hin, dass die Verbindung abgebrochen ist. Ich stecke das Telefon weg und konzentriere mich auf die Straße.
Nun bemerke ich auch, dass mich keine entgegenkommenden Fahrzeuge mehr blenden. Die Gegenfahrbahn muss sich nach links abgekapselt haben. Wir sind allein auf unseren zwei Spuren.
Es ist stockfinster geworden außerhalb der beiden überlappenden Lichtkegel meiner Scheinwerfer. Ich fühle mich einsam, bedrückt, krank. Meine Hand wandert zum Radio. Nur Rauschen, ich finde keinen Sender. Ich blicke auf die Uhr. Fünfzehn Uhr zehn. Es kann nicht sein.
Ich will auf dem Seitenstreifen halten, aussteigen, zu Fuß von der Straße fliehen. Das dunkle Nichts jenseits der Leitplanke erscheint mir so viel verlockender als das elendige Geradeaus. Nur herunter von der Straße.
Doch mein Fuß ruht schon längst nicht mehr auf dem Gaspedal.
Wir folgen der Straße in die Dunkelheit, immer weiter.