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Die Fahrt

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15.06.2012
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Die Fahrt

Die Fahrt

Mein Name ist ohne Belang. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, nicht verheiratet, kinderlos. Aus Gründen, die mein Beruf mir abverlangt, bin ich viel unterwegs. Ich bin bei der Personenbeförderung tätig. Über zweihundert Tage im Jahr bin ich sommers wie winters, sogar an hohen Feiertagen wie Weihnachten, auf allen Straßen des Landes und des Auslandes unterwegs. Das verträgt sich nicht mit Frau und Kindern, die wie eine Klette an einem herum hängen, viele Fragen stellen, einem Pflichten und Aufmerksamkeiten abverlangen. Eine nörgelnde Frau und plärrende Kinder waren nie meine Sache. Ich brauche Ruhe.
Draußen ist es kalt. Es ist Mitte Dezember. Ich sitze in meinem Wagen und fahre Überland, um meine Fracht ans Ziel zu bringen. Es kann nicht mehr lange dauern. Ich genieße die Zeit, in der ich gemächlich und fast lautlos über die Straßen gleite und die Landschaft wie einen Traum an mir vorüber ziehen lasse. Manche würden mich darum beneiden, wenn sie wüssten, welche Ruhe mir während meiner Arbeit vergönnt ist. Ganz besonders liebe ich es, im Winter in der wohligen Wärme des großen Wagens zu sitzen. Im Sommer hingegen behagt mir die Hitze nicht sonderlich. Während dieser Jahreszeit neigt das Innere des Wagens dazu, regelrecht zu kochen, ein zäher Geruch aus Eiern und Karamell strömt dann aus den Sitzen und füllt das Innere aus. Nur offene Fenster und ein Klimagerät können dann einigermaßen Abhilfe schaffen. Dennoch möchte ich mit niemandem tauschen.
Heute morgen habe ich schon früh begonnen. Zur Zeit herrscht Hochsaison. Ich schaue in den Rückspiegel. Mir folgt im Abstand von etwa dreißig Metern ein roter Pkw. Es kommt mir so vor, als würden die anderen Autofahrer absichtlich gebührende Distanz zu mir halten. Gut so! Mein Blick fällte auf mein Gesicht. Es ist bleich und aufgeschwemmt wie das Gesicht einer Wasserleiche. Überhaupt bin ich alles andere als eine Schönheit. Schon immer wurde ich wegen meines Aussehens gehänselt. In der Schule nannte man mich Fettarsch wegen meines Übergewichtes. Vom Sportunterricht war ich regelmäßig schon ab der ersten Klasse befreit. Es hatte keinen Sinn. Bei den Laufwettbewerben kam ich als letzter an, am Barren hing ich wie ein nasser Sack, Bodenturnen war eine einzige Katastrophe. Kurz, ich war für die anderen eine Lachnummer. Später in der Pubertät wurde alles noch schlimmer. Mein Körper veränderte sich zum Schlechten. Er war über und über mit riesigen Aknepusteln übersät, die manchmal aufplatzten und einen grünlich-weißen Schleim absonderten, in denen winzige Blutpartikel schwammen. Meine Haut schuppte sich. Ich sah aus wie ein toter Fisch. In meinen strohigen Haaren tummelten sich die Grinde wie Termiten in ihrem Hügel.
Die anderen ekelten sich so davor, mich zu berühren, dass ich von nun an meine Ruhe hatte. In dieser Zeit blieben mir die Prügel meiner Schulkameraden erspart. Meine Lehrer schwankten zwischen Mitleid und Abgestoßensein. Auch sie hielten Distanz zu mir. Dies verstärkte meinen Hang, des Öfteren krank zu sein. Nur meine Mutter liebte mich aufrichtig.
Gleichwohl, mein Berufsleben verlief ebenfalls in einer einzigen Katastrophe. Niemand wollte mich einstellen. Ich sei nicht vorzeigbar und eine schlechte Werbung für jede Firma, sprach aus den Augen all derjenigen, bei denen ich mich bewarb. Natürlich waren sie überaus höflich, als sie mir ihre Absage erteilten. Ich konnte froh sein, dass sie überhaupt antworteten. Also ging ich ohne Perspektive ins Leben. Ich schlug mich durch bei der StraßenSauberigung, bei der Müllabfuhr, beim Klärwerk. Selbst dort mied man mich wie der Teufel das Weihwasser. Als würde ich einen unerträglichen Gestank absondern, so hielt man sich von mir fern. Stinker nannten sie mich hinter meinem Rücken, selbst beim Klärwerk hörten sie nicht auf, über mich zu lästern. Dort bezeichneten sie mich als Sommerleiche. Ja, ich war für alle ein Außenseiter, ein Monster. Dabei bin ich von großer Empfindsamkeit. Das Weinen eines Kindes treibt auch mir die Tränen in die Augen, ein unglücklicher Mensch breitet einen dunklen Schleier über meiner Seele aus. Ich war nahe daran, Selbstmord zu begehen. Doch ich nahm den Kampf auf gegen die Unbill des Lebens. Im Himmel würde ich belohnt werden, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre. So fand ich zu mir selbst und zu mir der richtige Job.
Ich schaue vorsichtshalber noch einmal in den Rückspiegel. Hinter mir ist der rote PKW verschwunden. Wieder fällt mein Blick auf mein Wasserleichengesicht, der Anblick vorzeitiger Verwesung. Ich darf mich jetzt nicht ablenken lassen, denn gleich bin ich am Ziel. Meine Fracht muss schonend behandelt werden. Vorsichtig biege ich den schwarzen Mercedes in die Einfahrt ein. Vor mir sehe ich auf den Fensterscheiben eine milchig graue Inschrift. Firma Ruhe sanft. Familienunternehmen schon seit einhundert Jahren. Ich habe es bisher vergessen zu erwähnen, ich bin für die Überführung Verstorbener zuständig. Ja, ein toter Mensch ein guter Mensch.

 

Hallo Andrea,

herzlich willkommen!

Dein Text „Die Fahrt“ ist für die Rubrik Spannung/Krimi nicht geeignet.
Teile mir bitte innerhalb von zwei Tagen per PM mit, wo ich den Text hinschieben soll.
Mein Vorschlag: „Alltag“.

Gruß

Asterix

 

Hallo,

sogar an hohen Feiertagen wie Weihnachten,
Das „wie Weihnachten“ ist überflüssig – es gibt die Information: „Der Erzähler stammt aus unserem Kulturkreis“, aber davon geht man ohnehin aus. Die Stelle führt eigentlich nur, dass der Leser sich fragt: Welche hohen Feiertage gibt es denn noch? Zählt Ostern dazu? Was ist mit Pfingsten? Nee, gibt nur Weihnachten, oder? Hm. Keiner dieser Gedanken hilft dem Text in irgendeiner Weise.

Das verträgt sich nicht mit Frau und Kindern, die wie eine Klette an einem herum hängen, viele Fragen stellen, einem Pflichten und Aufmerksamkeiten abverlangen.
„Abverlangen“ kam 2 Sätze vorher schon, weil das ein auffälliges Verb ist, wirkt es hier wie eine Wortwiederholung. Der Vergleich „Wie eine Klette“ ist leider nicht mehr originell und sollte ersetzt oder gestrichen werden.

In der Schule nannte man mich Fettarsch wegen meines Übergewichtes.
Diese erklärenden Halbsätze kann man streichen. Warum sollte man wen Fettarsch nennen, wenn nicht wegen seines fetten Arsches? „In der Schule nannte man mich Fettarsch wegen meines Sprachfehlers“. Da wäre der „wegen“-Satz sinnvoll, weil er eine überraschende Information liefert. Wenn er nur etwas sagt, wovon der Leser eh sicher ausgeht, braucht man ihn nicht schreiben.

Vom Sportunterricht war ich regelmäßig schon ab der ersten Klasse befreit.
Das geht? Kommt mir komisch vor. Hast du das recherchiert?

Bei den Laufwettbewerben kam ich als letzter an, am Barren hing ich wie ein nasser Sack, Bodenturnen war eine einzige Katastrophe.
Wenn er „regelmäßig“ ab der ersten Klasse vom Sportunterricht befreit ist, was macht er dann am „Barren“ und mit „Bodenturnen“? Ist er nur jedes zweite Mal vom Sport befreit oder nur zu weiten Teilen und manchmal dann doch nicht?
Scheint mir eine sehr seltsame Passage zu sein. Für die Handlung ist das auch alles nicht wichtig. Da beobachtet sich jemand selbst und tut das auch für den Leser. So: Ich beobachte mich, damit du als Leser weißt, wie ich aussehe. Ein „Blick in den Spiegel“ für den Leser, das ist keine sehr gute Lösung bei Ich-Erzählern. Muss die Geschichte in der Ich-Perspektive erzählt werden?
Wenn Leute über sich selbst sagen: Ich bin fett, ich bin eklig ,ich war schon immer eklig … ich finde das unangenehm. Das wird nicht gebrochen, das wird nicht gespiegelt, dagegen wird nicht angegangen. Wenn man Hauptprobleme hat, gibt es einen Dermatologen. Wenn man Schuppen hat, gibt es Shampoos. Wir sind doch nicht im Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts, da juckte es natürlich keinen, wenn der junge Freak da so hässlich war.

Oh je … der Text ist dann gegen ende schon bisschen bedenklich find ich. Das Weltbild, das daraus spricht … umpf. Also … ich find das nicht so toll.
Ein Mensch ist dick, hässlich, deshalb liebt ihn keiner, außer die Mutter, und er wird dann Leichenwagenfahrer und das ist es. Das ist ja nicht gerade eine Geschichte, oder? Das ist einfach nur frustrierend und deprimierend.
Das ist wie „Mädchen sieht gut aus, ist aber dumm, macht ja nichts, kann immer noch Prostituierte werden!“ Jeder macht das, wofür er geeignet ist!
Also normal erwartet man dann irgendeine Wendung, dass sich der Mann dagegen wehrt, so abgekanzelt zu werden, aber das ist ja total fatalistisch hier.
Und dass eine Wendung dann ist „Ich fahre den Leichenwagen!“, das wirkt wie eine Stigmatisierung der Figur durch den Autor. Zumal … so richtig eine Geschichte ist das hier nicht, es wird nur eine Figur vorgestellt, in eigenen Worten, das ist ziemlich plump … also ich finde der Text hat nicht so viel, auf das man aufbauen sollte.
Es ist ein Ein-Personen.-Text, die sind immer extrem schwierig, da Dynamik und eine Handlung reinzukriegen. Dann spricht der Ich-Erzähler nur von sich selbst und seiner Kindheit. Das ist auch nicht so gut. Und die Erkenntnis, die Pointe, ist dann doch ziemlich banal.

Also das gute hier: Der Text ist fehlerfrei geschrieben, soweit ich das gesehen habe. Und einige Bilder waren durchaus ausdrucksstark, die Bilder des Ekels da.
Hast du mal „Das Parfüm“ gelesen? Also alles, was in diesem Text hier, stark ist, gibt es bei „Das Parfüm“ seitenlang. Und halt noch viel mehr.
Und mal gucken, ob man wirklich so ein fatalistisches, einspuriges Weltbild in einem Text haben will … wenn das so ungebrochen dargestellt wird, finde ich das sehr unangenehm.
Zu einer Geschichte gehört, finde ich, auch ein deutliches „Mehr“ an Handlung.

Gruß
Quinn

 

Ich schließe mich der Meinung von Quinn an. In Erwartung einer Handlung (Rubrik: Spannung/Krimi) eine sehr detaillierte Beschreibung eines selbsternannten Losers. Da sind zwar durchaus ausdrucksstarke Bilder drin, aber das war es dann auch. Übrig bleibt tatsächlich nur ein „ein fatalistisches, einspuriges Weltbild“.
Keine Selbstreflexion (und sei es eine „falsche“), kein „richtiger“ Minderwertigkeitskomplex oder eben Selbstüberschätzung … nichts. Lediglich eine Vita mal eben so aufgezählt. Und die Auflösung (Leichenwagenfahrer, nachdem es im Klärwerk nicht geklappt hat) ist schon sehr befremdlich. Aber vermutlich als Auftakt gedacht für den letzten Satz. Der allerdings in diesem Zusammenhang nicht einmal als makaber bezeichnet werden kann, weil es dazu einer Handlung oder eben nur die Ahnung/Vermutung einer bedarf.

 

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