- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Die fünfundzwanzigste Stunde
Vor nicht allzu langer Zeit, wanderte ein alter Mann. Er ging schon fast sein ganzes Leben.
Bergauf, Bergab. Links und rechts, auch geradeaus, doch nie zurück.
Die glühend heiße Sonne stand dem alten Mann stets im Rücken.
Er wanderte und wanderte, bis ein Fremder am Wegesrand fragte: "He! Ihr da! Wohin des Weges?"
"Na, auf der Suche nach meiner Liebsten. Und womit verbringt Ihr Eure Zeit?".
Doch der Bauer lachte nur und säte weiter seine Samen aus. "Auf bald, Fremder!", erwiderte er, als der alte Mann ihm den Rücken zukehrte um die Sonne wieder im Rücken zu spüren.
Auf bald? Dieser Fremde war komisch, immer nur wurde ihm alles Gute auf seiner Suche gewünscht. Auf bald? Schon seit über fünfundzwanzig Sommern war er auf dem Weg seiner Liebsten entgegen, doch noch nie hatte er einen Menschen zweimal gesehen.
Er folgte einem kristallklaren Fluss, der sich seinen Weg durch das üppig bewachsene Hinterland gesucht hatte und traf auf einen weiteren Fremden, der ihn fragte: "He, Ihr da! Wohin des Weges?"
Der alte Mann, immernoch das Lächeln auf dem Gesicht, antwortete: "Na, auf der Suche nach meiner Liebsten. Und womit verbringt Ihr Eure Zeit?"
Der Fischer schaute ihn genauer an, lächelte, holte sein Netz ein und erwiderte "Auf bald, Wanderer!", als der alte Mann ihm den Rücken zukehrte um dem Fluss weiter zu folgen.
Auf bald? Schon wieder? Naja: "Auf bald!"
Er wanderte und grübelte. Er grübelte mehr, als dass er wanderte. Er erschrak. Niemals grübelte er, das hielt ihn nur vom vorankommen ab.
Er kam an einem grünen Wäldchen vorbei, aus dem ihm Vogelgezwitscher entgegen gesungen wurde, als ihn ein dritter Fremder aus seinen Gedanken holte:
"He, wohin des Weges?". Der alte Mann schaute erschrocken auf und schaute den Fremden an. "Na auf der Suche nach meiner Liebsten." Er stockte und holte tief Luft.
"Kennen...Kennen wir uns? Ich habe das Gefühl, euch schon einmal gesehen zu haben."
"Ich war schon überall in diesem Land", war alles was der Holzfäller erwiderte.
Der alte Mann wendete sich ab und stellte fest, dass seine rote Sonne ihm ins Gesicht schien.
"Auf bald, mein Freund!", rief der Holzfäller ihm hinterher.
Der alte Mann schauderte, legte einen Gang zu und wollte dieses Land nur schnell hinter sich lassen.
Er wanderte und wanderte, wie er schon seit langem nicht mehr gewandert war. Er ließ alles hinter sich, er vergaß die steinigen Wege durch die Berge, die sanften Furten, durch die er gewattet war. Er vergaß die blumigen Wiesen, den Duft der Rosen, das Zwitschern der Vögel und das Zirpen der Grillen.
Er stieg über eine letzte Düne und plötzlich vernahm der alte Mann den salzigen Geruch der See, ihren kühlen Atem auf der Haut und das Kreischen der Möwen. Eine kühle Brise auf seiner Haut versprach ein lautloses Wort der Liebe.
Er setzte sich auf eine hölzerne Bank unter einer alten Eiche, die nur noch ein einzelnes halb verwelktes Blatt trug und schaute seiner Sonne beim Untergehen zu. Seit langem spürte er. Endlich war er da. Der alte Mann konnte seine Geliebte sehen. Ihr flammend rotes Haar, stets eine weiße Rose im Haar. Ihre perlweise Haut, die in der Sonne schimmerte. Den Duft ihrer Haut, von dunklen Tulpen, ja das träumte er.
"Wieder und wieder bin ich gewandert, nur wozu? Ich bin auf der Suche nach meiner Liebsten! Mit jedem Schritt den ich tu' komme ich ihr näher. Mit jeder Stunde, die verstreicht, fühle ich immer mehr ihre Nähe, immer mehr und mehr."
Er starrte weiter in die untergehende Sonne, als ihm jemand mit einer tief ins Gesicht gezogenen, dunklen Kapuze eine eiskalte Hand auf die Schulter legte. Er sprach ihn mit einer dem alten Mann bekannten Stimme an: "Mein Freund, du bist auf deinem Weg sehr weit gekommen, hat es sich gelohnt?"
Doch der alte Mann erwiderte nur: "Ich kann Sie spüren!" Mit Tränen im Gesicht schaute er den Fremden an.
"Ich sehe endlich meine Liebste wieder."
"Komm mit mir, Freund und Wanderer. Dein Weg endet: Ich darf dich zu deiner Geliebten bringen."
Das letzte Blatt der alten Eiche vergilbte, flatterte im Wind und wehte in dem Moment fort, als des alten Mannes Sonne ihren letzten wärmenden Hauch von sich gab.