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Die explosive Kirschtorte

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20.02.2013
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Die explosive Kirschtorte

Die explosive Kirschtorte

»Der Mann klebte auf einmal vor mir auf der Scheibe. Er war schrecklich anzusehen. Mit den Armen voran. So als ob er einen Hechtsprung von der Brücke herab gemacht hat.« Karl-Heinz wischte sich die Schweißperlen von der mit aufgeplatzten Adern übersäten Stirn.
»Oh weh, ist das heute wieder langweilig«. Rolf lümmelte sich neben mir und schaute bereits um viertel nach acht auf seine Uhr. Wir saßen gerade mal fünfzehn Minuten im spartanisch eingerichteten Raum 12b der Caritas in Oberklingenberg, um an der wöchentlichen Dienstagssitzung des Kreuzbunds teilzunehmen. An diesem Abend hatten sage und schreibe acht Besucher den Weg zu unserer Selbsthilfegruppe gefunden. Vor einigen Wochen waren wir noch zwölf gewesen. »Die Säufer kommen und gehen, wie es ihnen gefällt. Du kennst das doch«, klärte Rolf mich auf, als er meinen fragenden Blick bemerkte.

»Wetten, dass er gleich erzählt, wie sehr ihn das alles mitgenommen hat.«
»Ein saublöder Vorschlag, Tim. Wer sollte dagegensetzen? Natürlich wird er das in den nächsten zehn Sekunden sagen.«
»Ich sehe andauernd das Bild des zerplatzenden Schädels. Überall war Blut …«
»… wie eine Flasche Ketchup, die jemand über dem Glas verschmiert hat«, fiel die rothaarige Angelika ihrem Nebenmann ins Wort. Auch sie hatte – wie wir alle – den stets gleichen Beitrag von Karl-Heinz Minimum zwei Dutzend Mal angehört.
»Ja, genau so war es. Ihr habt gut lachen. Euch ist das nicht passiert.« Kalle, wie er in der Kurzform von seinen Kumpels gerufen wurde, stoppte beleidigt und fingerte einige staubtrockene Erdnussflips aus einer geflochtenen Holz-Bastschale heraus.
»Das ist aber alles mittlerweile über ein Jahr her und Schnee von gestern. Wie soll es jetzt weitergehen Karl-Heinz?«, mischte sich Regina, die heute die Runde leitete, in die Unterhaltung ein. Eine typische Alkoholikerin mit aufgeblähtem Spitzbauch und spindeldürren Extremitäten. Sie war im vergangenen Jahr dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen, weil ihre Stoffwechselorgane es ein letztes Mal geschafft hatten, sich von selbst zu regenerieren, kurz bevor die Fettleber zu einer Zirrhose mutierte. Seitdem achtete sie penibel auf ihre Ess- und Trinkgewohnheiten, was einerseits vernünftig und nachvollziehbar erschien, andererseits jedoch ihr früher heiteres und gewinnendes Wesen zunehmend eintrübte, weshalb sie heute oft streng und griesgrämig wirkte.
»Ich brauche noch Zeit. Bin seitdem dienstunfähig geschrieben. Frühestens in drei Monaten setze ich mich wieder in eine Lokomotive«, schnaubte Kalle ungehalten.

Das, was Karl-Heinz zugestoßen war, konnte man mit Fug und Recht als unglücklich bezeichnen. Im vergangenen November, an einem nasskalten und neblig-trüben Abend sprang an Bahnkilometer 217 auf der Strecke zwischen Köln und Koblenz kurz vor dem Abzweig nach Hennef ein sechsundfünfzigjähriger, untersetzter Prokurist mit Halbglatze und Hornbrille vor den mit Tempo 100 heranbrausenden Regionalzug RB38. Und zwar vom Geländer der als Brücke ausgeführten Anschlussstelle Troisdorf-Nord an die Bundesstraße 42 hinunter frontal auf die Rundumverglasung des Führerhauses, wo der Schädel vor Kalles Augen detonierte und langsam nach unten glitt, um von den Rädern des Doppelstockwagens völlig zermalmt zu werden. Mit der rechten Hand hielt der Mann noch seine Aktentasche fest umklammert. Die doppelte Tragik bestand darin, dass Karl-Heinz die Route an diesem Tag nur deshalb befuhr, weil er für einen kurzfristig erkrankten Kollegen eingesprungen war. Wie oft hatte er uns erklärt, dass er den Moment verfluchen würde, in dem er sich gutmütig dazu hatte überreden lassen, die Rheinseite zu wechseln. »Passiert ist passiert«, pflegte Rolf ihm dann zu antworten. »Kannst du heute eh nicht mehr ändern.« An mich gewandt fügte er in gedämpftem Ton hinzu: »Unfälle und Selbstmorde sind eben sein Berufsrisiko. Das weiß man doch als Profi. Soll er froh sein, dass ihm das bisher nur einmal zugestoßen ist. Weiß gar nicht, weshalb sich der Kerl seit Monaten darüber echauffiert.«

Nachdem die Feuerwehr die Leiche des Mannes – besser gesagt das, was von ihm in Einzelteilen übriggeblieben war – mühsam geborgen hatte, brachte die eilig hinzugezogene Kriminalpolizei schnell in Erfahrung, dass der Suizid nicht auf einen depressiven Schub zurückzuführen war, sondern der leitende Angestellte in einem Akt spontaner Scham gehandelt hatte. Einige Stunden zuvor waren ihm im Rahmen einer internen Revision der Krankenhausgesellschaft, für die er den Einkauf organisierte, Bestechlichkeit und Unterschlagung nachgewiesen worden. Anstatt die Angelegenheit vor Gericht durchzustehen und zwei, drei Jahre in den Bau zu wandern, bevorzugte er die Alternative des sofortigen Ablebens. Jedoch in der unfeinen Variante des Sprungs vor einen Lokalexpress. Freundlicher wäre es gewesen, sich einsam im Wald am Ast einer Eiche zu erhängen oder zu Hause in der warmen Badewanne die Pulsadern zu öffnen. Stattdessen hinterließ der geldgierige Manager eine klagende Ehefrau, zwei weinende Töchter und einen perplexen Lokomotivführer. Die attraktive Witwe beruhigte sich jedoch rasch, als sie die stattliche Lebensversicherung, die der fürsorgliche Gatte und Familienvater zehn Jahre zuvor zu ihren Gunsten abgeschlossen hatte, ausgezahlt bekam und ihr daraufhin jüngere Herren, von deren körperlicher Präsenz sie bisher allenfalls geträumt hatte, tatsächlich den Hof machten. Kalle hingegen haderte seitdem mit sich und der Welt und trank mehr, als für ihn bekömmlich war.

Nach einigen Wochen fielen seine krankheitsbedingten Fehlzeiten und die Schnapsfahne, die er trotz kiloweise Pfefferminzpastillen nicht dauerhaft übertünchen konnte, sowohl Kollegen als auch Vorgesetzten auf. Da ein Lokführer mit Alkohol im Blut eine potenzielle Gefahr für Passagiere und Allgemeinheit darstellt, beorderte ihn sein Boss zum außerplanmäßigen Routinecheck beim Betriebsarzt. Leberwerte im Keller, allgemeine Konstitution glich eher einem 60- denn einem 40-jährigen, einfachste Denksportaufgaben bereiteten Karl-Heinz große Mühe. Nach Rücksprache mit einer auf Suchtfragen spezialisierten Psychologin wurde Kalle bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert mit der Auflage, sich einer ambulanten Therapie zu unterziehen. Hierzu gehörte ebenfalls der Besuch der Dienstagabend-Selbsthilfegruppe des Kreuzbunds. Und jetzt saß er seit nunmehr über sechs Monaten in unserer Runde, lamentierte und erzählte in Dauerschleife – darin einer Vinylschallplatte, die einen Sprung aufweist, ähnelnd – immer wieder denselben traurigen Hergang. Nachdem wir ihm anfangs mit offenen Mündern gelauscht und mehrmals unser Bedauern über den unseligen Vorfall ausgesprochen hatten, ermüdete uns die Story mittlerweile doch sehr.
»Kalle, hast du nicht mal was Neues auf Lager? Die Geschichte ödet mich langsam an.« Die dicke Margot klinkte sich unaufgefordert in das Gespräch ein. Ihre Stimme klang an diesem Abend seltsam unangenehm, so als ob in ihrem von schlaffem Gewebe eingerahmten Hals Fett kochte.
»Wieso?«
»Weil du vor Selbstmitleid zerfließt und uns keinen reinen Wein einschenkst.«
»Hä? Verstehe ich nicht.«
»Du säufst nicht alleine wegen des Unglücks vor einem Jahr. Du hast sicher bereits vorher getrunken. Und zwar deutlich mehr als andere. Niemand wird über Nacht zum Alkoholiker.«
»Wer behauptet denn, dass ich ein elender Säufer bin?«
»Weshalb bist du ansonsten bei uns? Das hier ist eine Alkoholikergruppe und keine Kuschelecke für Männer in der Midlife-Krise.«
»Weil mein Chef das so will. Ohne erfolgreich durchgezogene Therapie bekomme ich meinen Job nicht zurück.«
»Das sind natürlich keine guten Voraussetzungen, um zu einer eigenständigen Krankheitseinsicht zu gelangen«, Margot wackelte missbilligend mit ihrem riesigem Schildkrötenkopf.
»Ich habe nie gesagt, dass ich krank bin.«
»Sondern? Worin besteht dein Problem? Weshalb trinkst du? Du redest und redest, und trotzdem verstehe ich dich nicht.«
»Die Psychologin, die dämliche Kuh, hat meinem Boss das alles eingeredet. Ohne die säße ich jetzt nicht hier, sondern seit Wochen wieder in meiner Lok.«
»Und würdest mit zugedröhntem Schädel dunkelrote Signale übersehen und unschuldige Passanten plattfahren.« Rolf feixte, denn diese Art von Diskussion bereitete ihm großen Spaß.
»Du hast doch vor ein paar Minuten noch erklärt, dass du dich nervlich überhaupt nicht in der Lage fühlst, einen Zug zu steuern. Was denn nun?« Der am gesamten Körper tätowierte Lars, der bisher geschwiegen hatte, schaltete sich in den zunehmend munterer werdenden Wortwechsel ein.
»Mir wird das jetzt alles zu dumm heute Abend. Ich gehe.« Kalles ohnehin stark gerötetes Gesicht wechselte für einen kurzen Augenblick in einen violetten Farbton hinüber.
»Karl-Heinz, du weißt, dass du am Ende der Stunde eine Bescheinigung von mir benötigst. Du solltest also besser hierbleiben.« Regina blieb äußerlich gelassen und sprach leise auf ihn ein.
»Das grenzt ja schon an Erpressung.« Er schlug wütend mit der Faust auf die Tischplatte, sodass der Kaffee in der Tasse vor Margot überschwappte und auf ihren taubenblauen Blazer spritzte. Sie sagte nichts, schaute Kalle jedoch erbost an. Der tat so, als ob er es nicht bemerken würde, blieb aber sitzen.

Typen wie er tauchten alle Nase lang in unserer Gruppe auf. Quatschten viel belangloses Zeug, jammerten über die Ungerechtigkeit der Welt, vor allem wenn diese sich gegen ihre eigene Person richtete, führten hundert Gründe für ihr momentanes Trinkverhalten an; suchten die Ursache ihrer Sucht jedoch nie bei sich selbst, sondern stets bei anderen. Die Mutter hatte ihnen in der Kindheit zu wenig Liebe geschenkt, die Frau war fremdgegangen, die Kollegen am Arbeitsplatz mobbten und so weiter und so fort. Auf die eigentlich naheliegende Idee, dass sie in ihrer Jugend mit dem Saufen angefangen, den Konsum von Jahr zu Jahr gesteigert und irgendwann unweigerlich die Schwelle zur körperlichen und emotionalen Abhängigkeit überschritten hatten, kamen sie gar nicht. Diese Sorte von Teilnehmern blieb erfahrungsgemäß nicht lange bei der Stange. Nach einigen Wochen wurde ihnen das Spiel zu blöde, niemand von uns verstand sie, wir behandelten sie entweder zu streng oder mit zu wenig Fingerspitzengefühl, und von einem auf den anderen Tag verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen.
»Sobald der mit seinem Zwangsprogramm durch ist, schluckt er eh wieder«, raunte ich Rolf zu.
»Wenn er das bis zum Ende durchhält. Allmählich werden die Fragen an seine Adresse unangenehmer. Glaube nicht, dass Kalle das noch lange mitmacht«, grinste mein Bekannter und öffnete die vierte Flasche Cola, weil es die heute Abend umsonst gab.

»Hey Waldorf und Statler, getuschelt wird nicht! … Was hast du auf Lager, Tim?« Regina blickte mich mit strengen, dunkelgrünen Katzenaugen an.
Als du noch getrunken hast, warst du charmanter im Umgang mit deinen Mitmenschen, ging es mir durch den Kopf. Ich verscheuchte jedoch sofort den unangemessenen Gedanken, denn ich wusste, dass Reginas nächster Schluck mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr letzter werden würde.
»Bei mir gibt es nichts Besonderes zu berichten«, begann ich meinen Vortrag. »Ich schlage mich mit Gelegenheitsjobs und Hilfsarbeiten durch und verdiene damit so viel, dass ich ein bescheidenes Leben führen kann. Sind natürlich alles sogenannte freiberufliche Tätigkeiten. Ich darf also nie fehlen oder gar länger krank werden. Weil die Blutsauger in diesen Fällen nicht zahlen. Hin und wieder schlafe ich schlecht, wenn ich an die mangelhafte Absicherung im Alter denke. Dann male ich mir aus, ich werde demnächst einen 6-er im Lotto erzielen, drehe mich beruhigt auf die andere Seite und penne wieder ein.«
»Der gute Tim verfügte schon immer über ein sonniges Gemüt«, schmunzelte Rolf, während er eine alte Mandarine, die hier seit der letzten Weihnachtsfeier auf einem bunten Plastikteller vor sich hingammelte, in ihre Einzelteile filetierte. Für ihn, der zehn Jahre mehr als ich auf dem Buckel hatte, stellte sich das Problem der Armutsrente viel drängender dar als für mich. Da er aber früher – bevor er Kanzlei, Haus und Familie versoff – als renommierter Wirtschaftsanwalt sein Geld verdiente, war er heute zu stolz, seine Probleme offen in der Gruppe anzusprechen. Mir hatte er bei unseren gemeinsamen Klinikaufenthalten ab und an sein Leid geklagt, weshalb ich über die stets klammen Finanzen bei ihm im Bilde war.
»Du spielst doch gar kein Lotto, wenn ich mich richtig erinnere, Tim.« Der stille Lars hörte seit Jahren geduldig zu, beobachtete mit seinen wieselflinken Augen jede Bewegung im Raum und verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
»Ich werde ja manchmal noch träumen dürfen«, grinste ich. »Du hast aber vollkommen recht. Auf die neunundvierzig Kugeln setze ich nicht. Die Chance, damit auch nur hundert Euro zu gewinnen, ist einfach zu klein. Dann lasse ich es lieber ganz bleiben.«
»Aber Fußballwetten schließt du ab?« Lars vergaß wirklich nichts. Das hatte ich ihm vor Jahren mal im Raucherzimmer der Klinik erzählt, als wir dort gemeinsam entgifteten.
»Korrekt. Hin und wieder. Ist letzten Endes ein Nullsummenspiel. Das, was du ausbezahlt bekommst, investierst man wieder. Mehr ein Zeitvertreib als eine seriöse Investition.«
»Und Backgammon zockst du weiterhin?« So langsam entwickelte sich die Unterhaltung zu einem nervigen Frage-Antwort-Spiel.
»Tue ich«, erwiderte ich deshalb einsilbig.
»Um Geld?« Lothar, ein Endvierziger mit tausend Schuppen auf den Schultern und gelben Zähnen, der nach dem zwanzigsten Rückfall seit nunmehr fünf Wochen trocken war – allerdings die Gruppe seit vielen Jahren besuchte – wollte sich ebenfalls an dem Kreuzverhör beteiligen. Denn es war natürlich angenehmer, einen anderen ins Gebet zu nehmen, als sich selbst zu offenbaren.
»Natürlich um Kohle. Sonst macht mir die Sache keinen Spaß.«
»Spielsüchtig bist du aber nicht, Tim?«
»Nein!! Noch nie gewesen.«
»Bleib cool«, murmelte Rolf, stand kurz auf, um zum Fensterbrett zu spazieren und kehrte von dort mit einer angebrochenen Tüte billiger Paprikachips zurück.
»Was ist mit Saufdruck, Tim?«, wollte Angelika von mir wissen, die wie viele Rothaarige über einen ultrablassen Hautton verfügte und in den Sommermonaten aus Angst vor einem an jeder Ecke lauernden Melanom das Haus nicht verließ, weshalb sie von Mitte Juni bis Ende August nicht an unseren Treffen teilnahm.
»Hin und wieder abends. Aber nicht mehr so stark wie früher. Auch an das Nicht-Trinken kann man sich gewöhnen.«
»Und was tust du, wenn dich der Zwang überkommt?«
»Ich setze mich in mein Arbeitszimmer und schreibe.«
»Du rufst keinen von uns an oder hältst dich an die Regeln des Notfallkoffers?« Lothar schüttelte fassungslos den Kopf.
»Nein, ich bringe Texte zu Papier, und das reicht mir.«
»Ich habe das Gefühl, dass du die Sache nicht ernst nimmst, Tim.« Damit hatte Lothar, den ich ohnehin nicht leiden konnte, den Bogen überspannt.

»Kümmere dich um deine eigene Abstinenz und geh mir nicht auf den Zeiger mit solch bescheuerten Moralpredigten! Soll jeder auf sich selbst aufpassen. Damit hast du genug zu tun. Wie ich es schaffe, trocken zu bleiben, ist meine Sache. Hauptsache, es funktioniert«, blaffte ich zurück.
Ich hatte mir im Laufe meiner Säuferkarriere eine etwas ruppige Art angewöhnt. Hinter der rauen Fassade verbarg sich jedoch ein empfindsamer Kern, von dem ich aber nicht wollte, dass ihn jeder zu sehen bekam. Ich befand mich nun im dritten Jahr der alkoholischen Enthaltsamkeit , die ich mir nach dutzenden Klinikaufenthalten jeden Tag aufs Neue mühsam erkämpfte. Seit dem Aufwachen aus meinem letzten Totalabsturz, der mich um Haaresbreite ins Jenseits befördert hatte, mied ich Bier, Wein und Schnaps wie der Teufel das Weihwasser zu und verspürte Null Lust, mir von selbsternannten Pharisäern erklären zu lassen, wie ich es ihrer Meinung nach besser bewerkstelligen könnte. Lothar schnappte beleidigt nach Luft, schwieg aber. Regina schmunzelte katzenartig, weil sie mir insgeheim recht gab, tadelte mich allerdings trotzdem: »Tim, sei nett zu Lothar! Er meint es nur gut mit dir.«

»Lothar ist ein stadtbekannter Trinker. Der kann einem sicher die weisesten Ratschläge erteilen, wie man einen Rückfall vermeidet«, ergänzte Rolf trocken. Er war der Erfahrenste von uns. Ihm konnte in Punkto Saufen keiner ein X für ein U vormachen. All seine Klugheit, die er anderen gegenüber mitunter gerne demonstrierte, bewahrte ihn jedoch nicht davor, im Rhythmus von sechs Monaten heftig zuzuschlagen und sich im Anschluss auf der Intensivstation wiederzufinden. Manchmal mutmaßte ich, dass es gerade seine Intelligenz war, die ihm immer wieder ein Bein stellte. Denn er glaubte nach wie vor daran, dass er die Sucht überlisten konnte. Und so experimentierte er heimlich in seinen vier Wänden weiterhin mit Schnaps, denn mit Bier gab er sich gar nicht erst ab. »Da kann ich auch Limonade saufen«, pflegte er zu sagen, wenn wir über unsere unterschiedlichen Trinkgewohnheiten nachdachten. Das würde er garantiert niemals in unserem Zirkel diskutieren wollen. So schlau war er dann doch. Als altgedienter Fahrensmann wusste er natürlich, dass er in diesem Fall ordentlich Contra von der Gruppe bekommen würde. So sportlich wie er sich nach außen hin generierte, war Rolf bei weitem nicht. Er würde sich niemals freiwillig auf den heißen Stuhl setzen und dort Rede und Antwort stehen. Diese unangenehme Aufgabe überließ er bereitwillig den anderen.

»Lasst uns zügig weitermachen«, Regina klatschte in die Hände. »Ich will das heute Abend nicht wie ein Kaffeekränzchen in die Länge ziehen.«
»Apropos Kaffeekränzchen – ich habe mir gestern ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte gegönnt.« Karl-Heinz strahlte wie ein kleiner Junge übers ganze Gesicht.
»Du weißt, dass da Alkohol drin ist?«, fragte lauernd Margot, während sie gleichzeitig die dritte Tafel Nougatschokolade innerhalb der Zeitspanne einer knappen Stunde in ihren gierigen Mund hineinstopfte.
»Aber doch nur in winzigen Mengen. Da merkt man überhaupt nichts von. Meiner Meinung nach völlig ungefährlich«, verteidigte sich Kalle.
»Von wegen«, ereiferte sich Lothar, der ein neues Empörungsthema entdeckt hatte.

Das Thema Alkohol in Lebensmitteln war seit jeher ein heiß umkämpftes. Hier spalteten sich die Teilnehmer in zwei scharf voneinander abgegrenzte Lager: die Orthodoxen, die jedes Produkt penibel daraufhin untersuchten, ob eventuell ein Nanogramm Äthanol darin enthalten sein könnte und die Liberalen, denen das ziemlich egal war. Ich persönlich vertrat die Auffassung, dass jeder für sich selbst entscheiden sollte, ob eine Kirschtorte oder ein Champagnertrüffel für ihn ein Problem darstellte. Die Rechtgläubigen sahen das anders und bezichtigten jeden, der mit Odol gurgelte oder zu Weihnachten klebrige Pralinés verspeiste, sofort des Verrats an der heiligen Sache der lebenslangen Abstinenz. Die beiden Auffassungen ließen sich erfahrungsgemäß nicht unter einen Hut bringen und erhitzten unnötigerweise und ohne zufriedenstellendes Ergebnis die Gemüter. Deshalb war es vernünftig, die Sache nur dann aufs Tapet zu bringen, wenn sie unvermeidbar erschien.

»Kalle rafft es einfach nicht. Sie werden ihn gleich ordentlich in die Mangel nehmen«, zischte ich leise durch die Zähne.
»Er ist halt dumm. Siehst du ihm doch an der Nasenspitze an«, kicherte Rolf.

»Karl-Heinz, ich frage mich ernsthaft, ob du den Ernst deiner aktuellen Situation richtig einschätzt«, eröffnete Regina das Sperrfeuer auf den nichtsahnenden Lokomotivführer.
»Du wirst vom Dienst suspendiert, absolvierst seit Monaten eine Therapie. Wirst täglich darauf hingewiesen, dass jeder Tropfen einen Rückfall auslösen kann, und trotzdem begibst du dich wissentlich in Gefahr. Das kann ich ganz und gar nicht gutheißen«, fuhr sie mit ihrer Philippika fort.
»Nun mal halblang, Lady. Ich kann schon selber auf mich aufpassen. Ein Stück Torte haut einen Anderthalbzentner-Mann wie mich nicht um. Ich vertrage ja abends auch eine Flasche Bitburger vor dem Schlafengehen. Alles halb so wild.«
»Ich höre wohl nicht richtig? Du trinkst Bier?? Das darf doch nicht wahr sein!« Angelika verlor für einen kurzen Moment die Fassung, derweil sich auf der milchig-weißen Haut ihres Dekolletés kleine rote Flecken bildeten.
»Von Krankheitseinsicht als erstem Schritt zur Genesung hast du vermutlich noch nie was gehört?«, trompetete Margot aus mit Luft und Nougatschokolade aufgepumpten Backen. Ihr dicker Hals schwabbelte dabei ganz fürchterlich. Die Sache mit der Krankheitseinsicht lag ihr sehr am Herzen. Sie konnte darüber stundenlang referieren.
»Ich bin nicht krank«, versuchte Kalle, sich zur Wehr zu setzen.
»Sondern?«
»Ich hatte eine schlechte Phase im vergangenen Jahr nach dem Unfall in Troisdorf. Scheint mir normal zu sein. Wäre euch ebenso gegangen.«
»Mag durchaus sein«, überlegte Lars laut. »Jedoch haben wir erkannt, dass unser übermäßiges Trinken krankhaft ist. Und nicht auf einen einzigen Grund oder Auslöser geschoben werden kann. Das ist der wesentliche Unterschied zu deiner Auffassung.«
»Mir völlig wurscht, wie ihr darüber denkt. Ich mache es so, wie ich es für richtig halte. Mit dieser Einstellung bin ich immer gut gefahren.«
»So lange du nicht mehr am Steuerpult einer Lok sitzt und unschuldige Spaziergänger totfährst, ist alles okay für mich«, lästerte Rolf.
»Das hast du alter Spritkopf überhaupt nicht zu entscheiden.«
»Das stimmt«, lächelte Rolf böse. »Aber die Psychologin und dein Boss werden es gar nicht gerne hören, dass du derart beratungsresistent auftrittst.«
»Willst du mir etwa drohen?« Kalles ohnehin nicht gerade sympathische Mimik entglitt derart, dass seine Gesichtszüge einige Sekunden lang den Ausdruck einer gotischen Dämonenfratze, wie man sie am Nordportal des Kölner Doms bestaunen kann, annahmen.
»Mach es nicht schlimmer, als es ohnehin schon ist.« Ich stieß Rolf meinen rechten Arm in die Rippen.
»Ich würde vorschlagen, dass wir das Thema für heute beenden«, meldete ich mich zu Wort. »Karl-Heinz wird sich bis zum nächsten Mal die Frage stellen, ob er mit seinem aktuellen Trinkverhalten in einer Alkoholikergruppe richtig aufgehoben ist. Nützt ja nichts, wenn wir alle auf ihm rumhacken. Er muss selbst entscheiden, was für ihn der vernünftigste Weg ist.«
»Der Oberdiplomat hat gesprochen«, giftete Rolf, der mir meinen Ellbogencheck anscheinend übelnahm.
»Was soll der Kerl bei uns? Der gehört hier nicht hin. Von mir aus braucht er nicht wiederzukommen. Mit seiner laschen Einstellung stellt er eine Gefahr für sich und die labilen Gruppenmitglieder dar.« Lothar regte sich mit hochrotem Kopf immer noch auf und schaute Beifall heischend von links nach rechts. Allerdings applaudierte ihm niemand, einige blickten sogar beschämt nach unten auf den Boden.
Bevor Margot, die sich in diesen entscheidenden Minuten merkwürdig passiv verhielt und damit ihrer Funktion als Moderatorin in keiner Weise gerecht wurde, energisch einschreiten konnte, sprang Kalle zornbebend von seinem Stuhl auf, pfefferte eine Handvoll Erdnussflips auf den zerschlissenen Teppich, wo er sie mit der linken Schuhsohle zermahlte und schrie: »Ihr könnt mich alle kreuzweise. Mich seht ihr nie mehr wieder.« Daraufhin stürmte er zur Tür, knallte sie wütend hinter sich zu und lief schnurstracks zur Tankstelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo er sich mit einigen Dosen Bier eindeckte.
»Bravo. Das habt ihr super hinbekommen«, rief ich in Richtung Lothar und Rolf.
»Was ein kleines Stück Kirschtorte mitunter für Explosionen auslösen kann«, räsonierte der stille Lars und sprach damit das Schlusswort für den heutigen Abend.

Die knarzigen Lautsprecher auf Gleis 3 kündigten eine zwanzigminütige Verspätung für RE62 in Richtung Bonn an. Nichts Ungewöhnliches auf diesem Abschnitt der rechtsrheinischen Trasse. »Mir ist es zu kalt auf dem windigen Bahnsteig. Ich wärme mich in der Zwischenzeit in der Gaststätte auf. Kommst du mit, Tim? Ich lade dich auf ein Getränk ein.« Rolf war wieder guter Stimmung und pfiff vergnügt einen alten Schlager aus den 60-ern vor sich hin.
»Was trinkst du?«
»Eine Cola Zero.«
»Typisch Tim. Immer besorgt um seine schlanke Linie. Na ja, wir haben alle unsere Marotten. Schmecken tut die braune Brühe ja bestimmt nicht.«
»Alles eine Sache der Gewöhnung. Ich mag das Zeug ganz gerne.«
Rolf gab in gedämpftem Tonfall unsere Bestellung auf, während ich mir vor der Garderobe die dort ausliegende Sportzeitung besorgte. Als ich zurückkehrte, hielt er fröhlich ein Schnapsglas in der Rechten.
»Was tust du da?«, fragte ich ihn entgeistert.
»Na was wohl? Ich genehmige mir einen kleinen Absacker. Den habe ich mir nach der Gruselstunde redlich verdient.«
»Was unterscheidet dich dann von Kalle?«
»Ich sag’s nicht gerne: die Intelligenz.«
»Verstehe ich nicht.«
»Er säuft und quatscht darüber. Ich hingegen schweige.« Rolf ließ den Wodka in einem Schluck die Kehle runterlaufen und bestellte sich einen zweiten.
»Zudem habe ich die Sache im Griff.«
»Du spielst also die Rolle des Drogenfahnders, der selber an der Nadel hängt? Von mir aus. Das ist deine Angelegenheit. Mein’s ist es nicht.«
Ich ließ die Cola unangerührt auf dem Tresen stehen, drehte mich um und verließ wortlos das Lokal. Draußen auf dem zugigen Bahnsteig wusste ich nicht, wer mir an diesem Abend unsympathischer gewesen war: Rolf oder Kalle?

Auf der Heimfahrt mied ich Rolf und setzte mich in einen anderen Waggon. Vielleicht sollte ich von der Dienstags- in die Mittwochgruppe wechseln, überlegte ich. Auf jeden Fall würde ich in meiner Wohnung gleich ins Arbeitszimmer marschieren und schreiben. Das war für mich die beste Ablenkung.

 

Hallo sinuhe,

noch mal ein herzliches Willkommen. Freu mich, dass du reingeschneit bist.

Deine Kirschtorte ist ein interessantes Teil. Von der Idee her sehr gut, ich glaub, ich hab noch nie eine Kurzgeschichte über eine Alkoholikerselbsthilfegruppe gelesen. Die Heuchelei, auch der Druck, der da entsteht, das fand ich als Themenwahl sehr interessant und vielversprechend.
Darüber, dass die da ständig am Fressen und Cola trinken sind, hat mich zuerst gewundert, aber klar, das sind natürlich alles orale Ersatzbefriedigungen. Das hast du gut beobachtet und eingefangen.
Also von all dem her hab ich deine Geschichte sehr gerne gelesen.

Es gibt allerdings einen Punkt, der dir hier aus meiner Sicht sehr im Wege steht. Wie gesagt, ist meine Sicht, ich wäre selbst furchtbar froh, wenn da noch mal jemand anderes seinen Senf zu beitragen würde.
Und zwar ist das deine Genauigkeit und Gründlichkeit.
Über die Verwendung starker Verben, Vermeidung von Plusquamperfekt, Verwendung von Modalverben solches Zeug - da muss ich dir nichts sagen, das kannst und weißt du besser als ich, wenn ich den Kommentar lese, den du geschrieben hast.
Nein, ich meine wirklich deine Exaktheit.
Du hast ja in deiner Geschichte eine große Personengruppe am Laufen.
Das kam mir vor, als ob da jeder Konflikt- und Alkoholikertypus abgedeckt werden sollte. Schwierig für eine Kurzgeschichte, weil man die schnell durcheinanderbringt, vergisst undsoweiter. Das weißt du, also hast du dich bemüht jedem etwas Unverwechselbares zu geben (den Schildkrötenhals, den vorstehenden Spitzbauch usw.) aber das zum Beispiel bekommt dann auch wieder den Touch einer übergroßen Genauigkeit. Man fühlt sich überflutet von den vielen Personen, verliert das ureigentliche Motiv aus den Augen.
Ich würde da zum Beispiel einfach raten, ein zwei Personen rauszuschreiben, dafür Tim und Rolf und Kalle mehr Raum zu gönnen, vor allem Tim, dem Icherzähler und Rolf. Zwischen den beiden ist ja eine gewisse Nähe entstanden und Tim will wegen Rolfs Heuchelei zum Schluss nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich finde das ein wunderschönes Motiv, aber im Moment wird die Vertiefung dieses Punktes und seiner Entwicklung durch die vielen anderen Personen und die Informationen, die du über sie gibst, verschüttet.
Was die Personen betrifft. Du brauchst Tim, Rolf und Kalle. Eine Moderatorin und dann eigentlich nur noch zwei, vielleicht Lars mit dem guten Gedächtnis und Lothar, den Stänkerer und giftige Fragen-Steller. Die Reaktionen und Frageb der anderen Personen kannst du gut und gerne auf die aufgezählten aufteilen.

Mein Ratschlag ist also, weniger Arbeit am einzelnen Satz, mehr Wert auf die Richtung der Geschichte legen: Dass sie nach orne geht und nicht Informationsschleifen einlegt. Und: Die Charakterisierung der beiden Hauptfiguren. Das Geschichtenbäumchen zurechtzustutzen auf die eigentliche Intention die du hast. Boahh, ich finde das ja selbst sehr schwer. Aber: Ich bin da ein Freund der Streichung, und des Muts, auch mal eine Erklärung oder Personen wegzulassen zugunsten der Tiefe eines Charakters und zugunsetn der Ausleuchtung der eigentlichen Erzählidee. Der Leser wird sich ohnehin vieles automatisch mit Sinn füllen.
Wie man eine tiefer gehende Charakterisierung in deiner Geschichte hinkriegen könnte, weiß ich leider nicht, da muss ich passen. Aber fände ich eine Fortentwicklung.

Damit du dir ein bisschen besser vorstellen kannst, was ich meine mit den Informationsschleifen oder dem überflüssigen Background, hier ein paar Beispiele, gemixt mit sonstigen Anmerkungen:

Karl-Heinz wischte sich die Schweißperlen von der mit aufgeplatzten Adern übersäten Stirn.
Ich kann mir diese Stirn nicht vorstellen. Aufgeplatzte Adern, das klingt nach viel Blut und offen und Pflaster. Also da wischt man doch nicht einfach drüber.

»Ja, genau so war es. Ihr habt gut lachen. Euch ist das nicht passiert.« Kalle, wie er in der Kurzform von seinen Kumpels gerufen wurde, stoppte beleidigt und fingerte einige staubtrockene Erdnussflips aus einer geflochtenen Holz-Bastschale heraus.
Warum nennst du ihn nicht gleich Kalle oder belässt es bei Karlheinz, denn was seine Kumpels zu ihm sagen, das gehört dch nicht zu der Geschichte.

»Das ist aber alles mittlerweile über ein Jahr her und Schnee von gestern. Wie soll es jetzt weitergehen Karl-Heinz?«, mischte sich Regina, die heute die Runde leitete, in die Unterhaltung ein. Eine typische Alkoholikerin mit aufgeblähtem Spitzbauch und spindeldürren Extremitäten. Sie war im vergangenen Jahr dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen, weil ihre Stoffwechselorgane es ein letztes Mal geschafft hatten, sich von selbst zu regenerieren, kurz bevor die Fettleber zu einer Zirrhose mutierte. Seitdem achtete sie penibel auf ihre Ess- und Trinkgewohnheiten, was einerseits vernünftig und nachvollziehbar erschien, andererseits jedoch ihr früher heiteres und gewinnendes Wesen zunehmend eintrübte, weshalb sie heute oft streng und griesgrämig wirkte.
All das Fette. Überleg mal wirklich ganz streng - brauchst du das wirklich für deine Geschichte? Eine einzige Info davon wird später aufgegriffen, dass sie schlechte Laune hat, am Rande des Todes vorbeigeschrappt ist. Ok, aber selbst wenn du das lässt, wiel es dir so wichtig ist, würde viele wegfallen und den text schlanker und dynamischer machen.

»Ich brauche noch Zeit. Bin seitdem dienstunfähig geschrieben. Frühestens in drei Monaten setze ich mich wieder in eine Lokomotive«, schnaubte Kalle ungehalten.
Gut ich weiß, die Redeformeln sind immer wieder einThema. Hier finde ich, dass sie völlig unnötig ist.Man weiß, dass Kalle das nicht elfenhaft säuseln würde. Und wenn du es verdeutlichen willst, dann mach das doch über die direkte Rede selbst.
schnaubte und ungehalten ist redundant. Also mind. ungehalten könnte weg.

Das, was Karl-Heinz zugestoßen war, konnte man mit Fug und Recht als unglücklich bezeichnen. Im vergangenen November, an einem nasskalten und neblig-trüben Abend sprang an Bahnkilometer 217 auf der Strecke zwischen Köln und Koblenz kurz vor dem Abzweig nach Hennef ein sechsundfünfzigjähriger, untersetzter Prokurist mit Halbglatze und Hornbrille vor den mit Tempo 100 heranbrausenden Regionalzug RB38. Und zwar vom Geländer der als Brücke ausgeführten Anschlussstelle Troisdorf-Nord an die Bundesstraße 42 hinunter frontal auf die Rundumverglasung des Führerhauses, wo der Schädel vor Kalles Augen detonierte und langsam nach unten glitt, um von den Rädern des Doppelstockwagens völlig zermalmt zu werden. Mit der rechten Hand hielt der Mann noch seine Aktentasche fest umklammert. Die doppelte Tragik bestand darin, dass Karl-Heinz die Route an diesem Tag nur deshalb befuhr, weil er für einen kurzfristig erkrankten Kollegen eingesprungen war.

Nachdem die Feuerwehr die Leiche des Mannes – besser gesagt das, was von ihm in Einzelteilen übriggeblieben war – mühsam geborgen hatte, brachte die eilig hinzugezogene Kriminalpolizei schnell in Erfahrung, dass der Suizid nicht auf einen depressiven Schub zurückzuführen war, sondern der leitende Angestellte in einem Akt spontaner Scham gehandelt hatte. Einige Stunden zuvor waren ihm im Rahmen einer internen Revision der Krankenhausgesellschaft, für die er den Einkauf organisierte, Bestechlichkeit und Unterschlagung nachgewiesen worden. Anstatt die Angelegenheit vor Gericht durchzustehen und zwei, drei Jahre in den Bau zu wandern, bevorzugte er die Alternative des sofortigen Ablebens. Jedoch in der unfeinen Variante des Sprungs vor einen Lokalexpress. Freundlicher wäre es gewesen, sich einsam im Wald am Ast einer Eiche zu erhängen oder zu Hause in der warmen Badewanne die Pulsadern zu öffnen. Stattdessen hinterließ der geldgierige Manager eine klagende Ehefrau, zwei weinende Töchter und einen perplexen Lokomotivführer. Die attraktive Witwe beruhigte sich jedoch rasch, als sie die stattliche Lebensversicherung, die der fürsorgliche Gatte und Familienvater zehn Jahre zuvor zu ihren Gunsten abgeschlossen hatte, ausgezahlt bekam und ihr daraufhin jüngere Herren, von deren körperlicher Präsenz sie bisher allenfalls geträumt hatte, tatsächlich den Hof machten. Kalle hingegen haderte seitdem mit sich und der Welt und trank mehr, als für ihn bekömmlich war.
Hier wieder, wen kümmert es denn, ob es ein Prokurist war oder ein Gesamtschullehrer, das gehört doch nicht zur Geschichte. Was zu ihr gehört, das sind die Fakten, die Kalles Traumatisierung ausgelöst und sein Trinken verstärkt haben. Aber da bleibt dann gar nicht so viel.
Das gleiche gilt für den nachfolgenden Bericht seines Krankheitszustandes und des Wegs bis zur Selbsthilfegruppe. Das lässt sich aus meiner Sicht viel mehr kürzen.

Nach einigen Wochen fielen seine krankheitsbedingten Fehlzeiten und die Schnapsfahne, die er trotz kiloweise Pfefferminzpastillen nicht dauerhaft übertünchen konnte, sowohl Kollegen als auch Vorgesetzten auf. Da ein Lokführer mit Alkohol im Blut eine potenzielle Gefahr für Passagiere und Allgemeinheit darstellt, beorderte ihn sein Boss zum außerplanmäßigen Routinecheck beim Betriebsarzt. Leberwerte im Keller, allgemeine Konstitution glich eher einem 60- denn einem 40-jährigen, einfachste Denksportaufgaben bereiteten Karl-Heinz große Mühe. Nach Rücksprache mit einer auf Suchtfragen spezialisierten Psychologin wurde Kalle bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert mit der Auflage, sich einer ambulanten Therapie zu unterziehen. Hierzu gehörte ebenfalls der Besuch der Dienstagabend-Selbsthilfegruppe des Kreuzbunds.

Ich denke, du verstehst es aufgrund meiner Beispiele vielleicht jetzt besser, was ich meine mit den Infoschleifen und der übergroßen Exaktheit.

Die Dialoge fand ich dann zum Teil echt spannend, auch den Druck, der da zum Teil spürbar wurde.

Typen wie er tauchten alle Nase lang in unserer Gruppe auf. Quatschten viel belangloses Zeug, jammerten über die Ungerechtigkeit der Welt, vor allem wenn diese sich gegen ihre eigene Person richtete, führten hundert Gründe für ihr momentanes Trinkverhalten an; suchten die Ursache ihrer Sucht jedoch nie bei sich selbst, sondern stets bei anderen. Die Mutter hatte ihnen in der Kindheit zu wenig Liebe geschenkt, die Frau war fremdgegangen, die Kollegen am Arbeitsplatz mobbten und so weiter und so fort. Auf die eigentlich naheliegende Idee, dass sie in ihrer Jugend mit dem Saufen angefangen, den Konsum von Jahr zu Jahr gesteigert und irgendwann unweigerlich die Schwelle zur körperlichen und emotionalen Abhängigkeit überschritten hatten, kamen sie gar nicht. Diese Sorte von Teilnehmern blieb erfahrungsgemäß nicht lange bei der Stange. Nach einigen Wochen wurde ihnen das Spiel zu blöde, niemand von uns verstand sie, wir behandelten sie entweder zu streng oder mit zu wenig Fingerspitzengefühl, und von einem auf den anderen Tag verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen.
Dieses ganze Teil kann für mich z. B. auch weg, das taucht schon viel besser in den Dialogen auf. Oder du machst eine weitere der zugeflüsterten Bemerkungen zwischen Rolf und Tim, wie in den Zeilen danach:

»Sobald der mit seinem Zwangsprogramm durch ist, schluckt er eh wieder«, raunte ich Rolf zu.
»Wenn er das bis zum Ende durchhält. Allmählich werden die Fragen an seine Adresse unangenehmer. Glaube nicht, dass Kalle das noch lange mitmacht«, grinste mein Bekannter und öffnete die vierte Flasche Cola, weil es die heute Abend umsonst gab.

Ich hoffe sehr, dass du mit meinen rigorosen Streichvorschlägen was anfangen kannst.
Sehr gern und interessiert gelesen, viel Spaß noch hier, wünscht dir Novak

 

Hallo Novak,

nochmals vielen Dank für deine herzlichen Willkommensgrüße!

Du hast dir die explosive Torte vorgenommen. Geschichten aus der SHG. Wäre vllt eine Idee für eine neue Serie.

Wenn ich deine Ratschläge allesamt befolge, bleiben von den ursprünglich 3800 nur noch 50 Wörter übrig. *seufz*

Darüber, dass die da ständig am Fressen und Cola trinken sind, hat mich zuerst gewundert, aber klar, das sind natürlich alles orale Ersatzbefriedigungen.
Diese Ersatzbefriedigungen werden auch als Suchtverlagerung bezeichnet. Häufig mit ansteigender Nahrungsaufnahme zu beobachten. Kann sich aber bspw. ebenfalls in täglich mehrstündigen Besuchen eines Fitnessstudios manifestieren.

Es gibt allerdings einen Punkt, der dir hier aus meiner Sicht sehr im Wege steht.
… Und zwar ist das deine Genauigkeit und Gründlichkeit. … Nein, ich meine wirklich deine Exaktheit.
Ja, die langen Sätze mit den detaillierten Beschreibungen von Räumen, Personen und Situationen. Ich persönlich mag die. Und zwar zum einen, wenn ich solche Passagen bei anderen Autoren lese und zum anderen beim eigenen Formulieren.

Aus der Resonanz der Kommentatoren – habe dieses Experiment bereits bei einigen früheren Geschichten von mir unternommen – merke ich jedoch, dass ich den Nerv der heutigen Leser damit nicht treffe. Werde diese Sequenzen deshalb in Zukunft weglassen. Zumindest deutlich reduzieren. Eine „schöne“ Beobachtung wie, Ihre Stimme klang an diesem Abend seltsam unangenehm, so als ob in ihrem von schlaffem Gewebe eingerahmten Hals Fett kochte, wird (leider!) nicht goutiert. *erneutseufz* Dabei hatte ich persönlich großen Spaß daran, als ich diesen Satz zu Papier brachte.

Du hast ja in deiner Geschichte eine große Personengruppe am Laufen.
8 Leute

Das kam mir vor, als ob da jeder Konflikt- und Alkoholikertypus abgedeckt werden sollte. Schwierig für eine Kurzgeschichte, weil man die schnell durcheinanderbringt, vergisst undsoweiter.
Weiß gar nicht, ob ich das vorhatte. Auf jeden Fall nicht bewusst. Zudem existieren natürlich noch zahlreiche andere Säufertypen als die von mir in dieser Geschichte angeführten.

Das weißt du, also hast du dich bemüht jedem etwas Unverwechselbares zu geben (den Schildkrötenhals, den vorstehenden Spitzbauch usw.) aber das zum Beispiel bekommt dann auch wieder den Touch einer übergroßen Genauigkeit. Man fühlt sich überflutet von den vielen Personen, verliert das ureigentliche Motiv aus den Augen.
Genau so!
( ) die Dürre mit Fettleber und Spitzbauch
( ) die Dicke, die immerzu frisst
( ) der Unsympath mit den Schuppen auf den Schultern
( ) der am ganzen Körper tätowierte Lars
( ) Angelika mit der Angst vor Hautkrebs
( ) Kalle, der cholerische Lokomotivführer
( ) Rolf, der Zyniker
( ) Tim, der Prota.

Ich würde da zum Beispiel einfach raten, ein zwei Personen rauszuschreiben, dafür Tim und Rolf und Kalle mehr Raum zu gönnen, vor allem Tim, dem Icherzähler und Rolf. Zwischen den beiden ist ja eine gewisse Nähe entstanden und Tim will wegen Rolfs Heuchelei zum Schluss nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich finde das ein wunderschönes Motiv, aber im Moment wird die Vertiefung dieses Punktes und seiner Entwicklung durch die vielen anderen Personen und die Informationen, die du über sie gibst, verschüttet.
Zu Tim (und Rolf) existieren bereits zahlreiche Kurzgeschichten zzgl. ein Roman-MS und ein Skript für ein Theaterstück. Von daher kenne ich die beiden natürlich aus dem Eff-Eff und vergesse mitunter, sie den neuen Lesern ein weiteres Mal vorzustellen.

Die beiden werden sich auch nach diesem Abend wieder treffen. Dafür kennen sie sich viel zu lange und haben gemeinsam eine Menge erlebt, als dass ein verunglücktes Gruppentreffen ihre Bekanntschaft auf Dauer trüben könnte.

Was die Personen betrifft. Du brauchst Tim, Rolf und Kalle. Eine Moderatorin und dann eigentlich nur noch zwei, vielleicht Lars mit dem guten Gedächtnis und Lothar, den Stänkerer und giftige Fragen-Steller. Die Reaktionen und Frageb der anderen Personen kannst du gut und gerne auf die aufgezählten aufteilen.
Also eine Reduktion von 8 auf 6.

Mein Ratschlag ist also, weniger Arbeit am einzelnen Satz, mehr Wert auf die Richtung der Geschichte legen: Dass sie nach orne geht und nicht Informationsschleifen einlegt. Und: Die Charakterisierung der beiden Hauptfiguren. Das Geschichtenbäumchen zurechtzustutzen auf die eigentliche Intention die du hast.
Was natürlich voraussetzt, dass ich von Anfang an eine Intention mit der Geschichte verfolgt habe. Weiß gar nicht, ob ich das immerzu tue, wenn ich mich im Schreibfluss befinde.

Ich kann mir diese Stirn nicht vorstellen. Aufgeplatzte Adern, das klingt nach viel Blut und offen und Pflaster. Also da wischt man doch nicht einfach drüber.
Der Satz ist ohnehin blödsinnig und wird deshalb von mir komplett eliminiert. Kalle hatte weder Schweißperlen auf der Stirn (weshalb auch?), noch waren die aufgeplatzten Adern dort oben zu sehen. Die findet man bei Trinkern zumeist links und rechts der Nasenflügel.

Warum nennst du ihn nicht gleich Kalle oder belässt es bei Karlheinz, denn was seine Kumpels zu ihm sagen, das gehört dch nicht zu der Geschichte.
Um halt ein bisschen Abwechslung hineinzubringen: Karl-Heinz – Kalle – der Lokomotivführer

All das Fette. Überleg mal wirklich ganz streng - brauchst du das wirklich für deine Geschichte? Eine einzige Info davon wird später aufgegriffen, dass sie schlechte Laune hat, am Rande des Todes vorbeigeschrappt ist. Ok, aber selbst wenn du das lässt, wiel es dir so wichtig ist, würde viele wegfallen und den text schlanker und dynamischer machen.
Jetzt ist der Spitzbauch – bei gleichzeitig spindeldürren Armen & Beinen – natürlich eines der Charakteristika der Hard-Core-Trinker. Deshalb hatte ich Reginas Körper kurz beschrieben. Werde ich bei der nächsten Story drauf verzichten.

Gut ich weiß, die Redeformeln sind immer wieder einThema. Hier finde ich, dass sie völlig unnötig ist.Man weiß, dass Kalle das nicht elfenhaft säuseln würde. Und wenn du es verdeutlichen willst, dann mach das doch über die direkte Rede selbst.
schnaubte und ungehalten ist redundant. Also mind. ungehalten könnte weg.
An diesem Punkt wird es schwierig, es den Kritikern recht zu machen:
( ) lange Erzählpassagen -> show, don’t tell!
( ) zahlreiche Dialogsätze -> das wirkt stakkatohaft
( ) keine Begleitworte/ -sätze -> liest sich wie ein Theaterstück.

Am o.g. Adjektiv hänge ich nicht. Kann ich rausnehmen.

Hier wieder, wen kümmert es denn, ob es ein Prokurist war oder ein Gesamtschullehrer, das gehört doch nicht zur Geschichte. Was zu ihr gehört, das sind die Fakten, die Kalles Traumatisierung ausgelöst und sein Trinken verstärkt haben. Aber da bleibt dann gar nicht so viel.
Das gleiche gilt für den nachfolgenden Bericht seines Krankheitszustandes und des Wegs bis zur Selbsthilfegruppe. Das lässt sich aus meiner Sicht viel mehr kürzen.
Hatte ich mir schon gedacht, dass diese beiden Sequenzen sehr kritisch beurteilt werden würden. Wenngleich mir der von der Brücke springende geldgierige Prokurist und die nur kurzzeitig trauernde Witwe beim Schreiben große Freude bereitet haben.

Die Dialoge fand ich dann zum Teil echt spannend, auch den Druck, der da zum Teil spürbar wurde.
Nicht jede Gruppe ist so explosiv wie die von mir geschilderte. Ansonsten gäbe es bald gar keine Teilnehmer mehr.

Dieses ganze Teil kann für mich z. B. auch weg, das taucht schon viel besser in den Dialogen auf. Oder du machst eine weitere der zugeflüsterten Bemerkungen zwischen Rolf und Tim, wie in den Zeilen danach:
Ist vermutlich – für den Rahmen einer KG – tatsächlich zu viel bzw. langatmig. D‘ accord.

Ich hoffe sehr, dass du mit meinen rigorosen Streichvorschlägen was anfangen kannst.
Doch: sehr!! Für mich ist schon wichtig zu wissen, wie ein Text beim Leser ankommt. Nur so kann ich es ja beim nächsten Mal anders (hoffentlich besser) machen.


Liebe Novak, vielen Dank für deine Einschätzung! Mal schau’n, was ich bei der nächsten Geschichte stilistisch verändern werde.

Wünsche dir einen schönen Abend und ein entspanntes und evtl produktives WE!

Lg sinuhe

 

hi sinuhe,

ich muss ich zugeben, dass als ich den titel gelesen hatte, ich zuerst an ein kindergeburtstag, kinderstreich o.ä. dachte. man kommt einfach überhaupt nicht auf die idee, es könnte sich um eine alkoholikerselbsthilfegruppe handeln.
aber ich muss sagen, mir hat deine geschichte wirklich sehr gut gefallen. die szene in der selbsthilfegruppe wirkt sehr authentisch und hat mir wirklich den eindruck gegeben, dass ich einen blick in so eine gruppe ergattern konnte. man merkt auch, dass du dir mit den einzelnen charakteren sehr viel mühe gegeben hast, du hast dir für jeden etwas ausgedacht, eine eigenheit, eine geschichte, schwächen, charakter. aber ich muss novak recht geben; mir ist das auch beim lesen aufgefallen: es sind einfach zu viele charaktere. die kommen zwar alle authentisch und interessant rüber, aber irgendwann verliert man einfach den überblick: wer war das jetzt noch mit dem froschhals? oder der lokführer? war das jetzt karl-heinz, karli, oder sind das verschiedene? wenn das ein roman, theaterstück, irgendwas wäre, dann wären die acht charaktere auf die größere länge gesehen wohl auch eine gute anzahl, aber bei einer kurzen geschichte wirkt das doch irgendwie überladen. verstehe mich bitte nicht falsch, ich fand alle charaktere und auch deren interaktion äußerst interessant und amüsant, da sind viele verschiedene 'alkoholikertypen', die aufeinanderprallen, aber ich habe einfach nach dem halben text den überblick verloren. es ist schwer, sich für acht fiktive personen, die man sich vor dem inneren augen vorstellen muss, die alle einen eigenen namen, charakter, geschichte haben, das alles zu merken. ich erwarte jetzt nicht, dass du deine komplette geschichte über den haufen wirfst und nochmal neu aufrollst, aber ich hoffe, dass dir das für deine nächsten geschichten weiterhilft.

aber auch wenn sich das jetzt so anhören mag, als ob ich viel rumzumeckern hätte, so ist das gar nicht gemeint. ab und zu hast du, für meinen geschmack, etwas viel gewicht auf nebensächliches gelegt, wie z.b.

Wir saßen gerade mal fünfzehn Minuten im spartanisch eingerichteten Raum 12b der Caritas in Oberklingenberg, um an der wöchentlichen Dienstagssitzung des Kreuzbunds teilzunehmen.
, aber wenn ich deine kommentare bei anderen lese, traue ich mich gar nicht, dir in der hinsicht etwas anzukreiden. das weißt du alles besser als ich, und ich denke, das ist absicht, das ist dein geschmack.
nun gut, ich würde mich freuen mehr von dir zu lesen, hat mir wirklich sehr gut gefallen, ich hoffe ich konnte dich mit meinem feedback irgendwie weiterbringen.

grüße vom
zigga

 

Hallo zigga,

du hast Tim zur DI-Abendgruppe des Kreuzbunds in Oberklingenberg begleitet. Bin gespannt, was dir dabei aufgefallen ist.

ich muss ich zugeben, dass als ich den titel gelesen hatte, ich zuerst an ein kindergeburtstag, kinderstreich o.ä. dachte.
Die Schilderung eines Kindergeburtstags in der Rubrik Gesellschaft (-skritik). Um was hätte es sich dabei handeln können: die zunehmende Fettleibigkeit der Jugend aufgrund übermäßigen Tortengenusses? Wäre sicherlich ebenfalls ein lohnenswertes Thema für eine KG.

man kommt einfach überhaupt nicht auf die idee, es könnte sich um eine alkoholikerselbsthilfegruppe handeln.
Das ist ja gut. Dann rätselt man bis zum letzten Drittel, was die Story eigentlich mit einer (Schwarzwälder) Kirschtorte zu tun hat. Dieses – an und für sich harmlose – Nahrungsmittel löst hin und wieder endlose Debatten in den SHGen aus.

aber ich muss sagen, mir hat deine geschichte wirklich sehr gut gefallen. die szene in der selbsthilfegruppe wirkt sehr authentisch und hat mir wirklich den eindruck gegeben, dass ich einen blick in so eine gruppe ergattern konnte.
Ich habe zugegebenermaßen ein bisschen aus dem Nähkästchen geplaudert; allerdings Ort und Teilnehmer verfremdet.

es sind einfach zu viele charaktere. die kommen zwar alle authentisch und interessant rüber, aber irgendwann verliert man einfach den überblick …
… aber bei einer kurzen geschichte wirkt das doch irgendwie überladen
D*accord. Demnächst weniger Darsteller in einer KG.

. ich erwarte jetzt nicht, dass du deine komplette geschichte über den haufen wirfst und nochmal neu aufrollst, aber ich hoffe, dass dir das für deine nächsten geschichten weiterhilft.
In dieser Geschichte werde ich nicht abspecken. Die steht jetzt so da.
Allerdings in den nächsten Stories mit weniger Personen auskommen.

Wir saßen gerade mal fünfzehn Minuten im spartanisch eingerichteten Raum 12b der Caritas in Oberklingenberg, um an der wöchentlichen Dienstagssitzung des Kreuzbunds teilzunehmen.
spartanisch eingerichtet gefällt dir nicht. Muss ich drüber nachdenken.
Man findet in der KG ja (deutlich) längere – und überfrachtetere – Sätze als diesen.

das weißt du alles besser als ich,
Ich bin genau so ein Hobbyautor bzw. Gelegenheitskritiker wie alle anderen Besucher des Forums. Und irre deshalb (oft).

und ich denke, das ist absicht, das ist dein geschmack.
An dem Abend, an dem ich diese Geschichte zu Papier brachte, war mir danach, es so zu tun, wie hier vorgestellt. Kann durchaus passieren, dass ich 48h später eine andere Schreibtechnik ausprobieren möchte. Ich handhabe das völlig situativ.

ich hoffe ich konnte dich mit meinem feedback irgendwie weiterbringen.
Immer sehr. Eindrucksschilderungen sind hilfreich für einen Autor.


zigga, herzlichen Dank für dein Feedback und lg, sinuhe

 

Hallo sinuhe,

und ein herzliches Willkommen bei KG.de.

Ich weiß zwar nicht, ob Dir das nachfolgende gefallen wird,aber ich schreib es mal hin :).
Vorab, ich fand die Wechsel zwischen Szene und Erzähler nicht schlimm. Ich mag deine Schreibe und ich denke, dass Du durchaus Geschichten schreiben kannst, die mir mehr zusagen als diese hier ;).

Du hast es schon gehört und ich sage es nochmal, kürzen. Aufs Wesentliche beschränken, Aufbau kontrollieren. Du hast schon zwei Figuren gekillt, kille noch drei :). Also, die dürfen da schon im Raum sitzen und Kekse futtern, aber sie dürfen nicht so viel Platz einnehmen. Bleib bei dem Lokmenschen, bei dem Ex-Juristen und dem Ich-Erzähler. Der Ich-Erzähler so als Beobachter und verbindendes Glied, die anderen beiden mit ihren Geschichten. Das ist immer noch viel. Und dann mal jeden Satz checken: Bringt er die Geschichte vorwärts? Teilt er dem Leser eine neue Erkenntnis mit. Tempo reinbringen und bitte, bitte, durch die Straffung auch Spannung. Das plätschert hier was zusammen. Nix gegen Plätschertexte, aber es gibt solche und solche und Deiner ist solcher ;).

Die ersten zwei Absätze könnten getrost gestrichen werden, im dritten dann die fehlenden zwei Informationen unterbringen. Der Einstieg mit dem Unfall wäre auch sehr viel spannender. Was da an zwischenmenschlichen Dingen abläuft, wiederholt sich später ja nochmal, d.h. der Leser erfährt es schon noch.


Das, was Karl-Heinz zugestoßen war, konnte man mit Fug und Recht als unglücklich bezeichnen. Im vergangenen November, an einem nasskalten und neblig-trüben Abend sprang an Bahnkilometer 217 auf der Strecke zwischen Köln und Koblenz kurz vor dem Abzweig nach Hennef ein sechsundfünfzigjähriger, untersetzter Prokurist mit Halbglatze und Hornbrille vor den mit Tempo 100 heranbrausenden Regionalzug RB38. Und zwar vom Geländer der als Brücke ausgeführten Anschlussstelle Troisdorf-Nord an die Bundesstraße 42 hinunter frontal auf die Rundumverglasung des Führerhauses, wo der Schädel vor Kalles Augen detonierte und langsam nach unten glitt, um von den Rädern des Doppelstockwagens völlig zermalmt zu werden. Mit der rechten Hand hielt der Mann noch seine Aktentasche fest umklammert.

Ich finde das einen ziemlich genialen Einstieg. Und den Rest passe ich mal an:

Die doppelte Tragik bestand darin, dass Karl-Heinz die Route an diesem Tag nur deshalb befuhr, weil er für einen kurzfristig erkrankten Kollegen eingesprungen war. Wie oft hatte er unserer Gruppe erklärt, dass er den Moment verfluchte, in dem er sich dazu hatte überreden lassen, die Rheinseite zu wechseln.
»Passiert ist passiert«, pflegte Rolf ihm dann zu antworten. »Kannst du heute eh nicht mehr ändern.«

Absatz Vier wieder komplett raus, weil hat nix mit den Figuren zu tun, ist eine ganz andere Geschichte. Am Thema bleiben, kann ich wirklich nur raten. Hier lieber noch drei vier Schlagabtausch zwischen den beiden Herren und dann weiter mit:

Nach einigen Wochen fielen seine krankheitsbedingten Fehlzeiten und die Schnapsfahne, die er trotz kiloweise Pfefferminzpastillen nicht dauerhaft übertünchen konnte, sowohl Kollegen als auch Vorgesetzten auf. Sein Boss beorderte ihn zum außerplanmäßigen Routinecheck beim Betriebsarzt. Leberwerte im Keller, allgemeine Konstitution glich eher einem 60- denn einem 40-jährigen, einfachste Denksportaufgaben bereiteten Karl-Heinz große Mühe. Nach Rücksprache mit einer auf Suchtfragen spezialisierten Psychologin wurde Kalle bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert mit der Auflage, sich einer ambulanten Therapie zu unterziehen. Hierzu gehörte ebenfalls der Besuch der Dienstagabend-Selbsthilfegruppe des Kreuzbunds. Und jetzt saß er seit nunmehr über sechs Monaten in unserer Runde, lamentierte und erzählte in Dauerschleife – darin einer Vinylschallplatte, die einen Sprung aufweist, ähnelnd – immer wieder denselben traurigen Hergang.

Und dann so weiter.

Wie Du siehst, bin ich noch streichwütiger als Novak. Aber ich höre schon auf. Ich denke, wenn Du an solchen Vorschlägen überhaupt Interesse hast, dann ist klar, in welche Richtung das hier läuft. Ich kann Dir bei Interesse auch gern ne PM schicken und den Text mal zusammenkürzen, um Dir die Veränderung zu zeigen. Aber, es kann natürlich auch sein (und so wird es sein) dass Dir das alles am Herzen liegt. Und dann ist es gut wie es ist und ich habe nie was gesagt. Nur so, fürs Unterbewußtsein in meinen Bart genuschelt. Aber spannend ist es so nicht wirklich und das Ende zu weichgespült, um über die lange Phase des Zusehens und Zuhörens hinwegzutäuschen. Für mein Lesegefühl jedenfalls. Und das ist ja nur meins und steht auf keinen Fall für noch irgendjemanden. Da bin ich Egoist.

Ich wünsche Dir hier viel Spaß und bleib noch ne Weile hier!

Beste Grüße Fliege

 

Hallo Fliege,

vielen Dank für deinen netten Willkommensgruß! Da fühlt man sich direkt gut aufgehoben.

Ich weiß zwar nicht, ob Dir das nachfolgende gefallen wird,aber ich schreib es mal hin .
In Punkto Kritik bin ich nicht zartbesaitet. Ich teile hin u. wieder selbst gerne aus. Von daher kann ich mich nicht beschweren, wenn meine eigenen Texte zerrupft werden. So lange der Kommentator sich die Mühe macht, mir zu erklären, wo die Schwachstellen liegen, ist alles okay für mich.

Du hast es schon gehört und ich sage es nochmal, kürzen. Aufs Wesentliche beschränken, Aufbau kontrollieren. Du hast schon zwei Figuren gekillt, kille noch drei . Also, die dürfen da schon im Raum sitzen und Kekse futtern, aber sie dürfen nicht so viel Platz einnehmen. Bleib bei dem Lokmenschen, bei dem Ex-Juristen und dem Ich-Erzähler. Der Ich-Erzähler so als Beobachter und verbindendes Glied, die anderen beiden mit ihren Geschichten.
Nun reden in einer SHG, die aus acht Teilnehmern besteht, natürlich alle munter durcheinander. Von daher weiß ich im Moment nicht, ob ich von acht auf drei reduzieren möchte. Überlege ich mir.

Und dann mal jeden Satz checken: Bringt er die Geschichte vorwärts? Teilt er dem Leser eine neue Erkenntnis mit. Tempo reinbringen und bitte, bitte, durch die Straffung auch Spannung.
Das ist eine (super-) schwierige Aufgabe für einen Autor: bei jedem Satz, der im Schreibfluss zu Papier gebracht wird, prüfen, ob er die Geschichte tatsächlich voranbringt. Mit dieser Forderung killst du m.E. 80% aller Romane. Denn in allen wird an irgendeiner (zumeist an vielen) Stellen geschwafelt. Botschaft der notwendigen Straffung ist aber angekommen.

Das plätschert hier was zusammen. Nix gegen Plätschertexte, aber es gibt solche und solche und Deiner ist solcher .
Ich wiederum habe überhaupt nichts gegen Plätschern. Lese solche Texte – unter der Voraussetzung, dass ich den Stil des Autors mag – sogar recht gerne. Wenn ich es schnell-schnell haben möchte, schalte ich MTV an und schaue mir einen 3Min-Videoclip an.
Eine (90Min-) Sitzung in einer SHG zieht sich zumeist träge dahin. Von daher ist es m.E. nicht verkehrt, diese Behäbigkeit ebenfalls in der Erzählweise zum Ausdruck zu bringen.

Ich finde das einen ziemlich genialen Einstieg.
Freut mich, dass dir dieser Abschnitt gefällt. Wenngleich ich vermute, dass 90% der Leser diese Sätze nicht sonderlich mögen, weil zu lang/ kompliziert aufgebaut.

Wie Du siehst, bin ich noch streichwütiger als Novak. Aber ich höre schon auf. Ich denke, wenn Du an solchen Vorschlägen überhaupt Interesse hast, dann ist klar, in welche Richtung das hier läuft. Ich kann Dir bei Interesse auch gern ne PM schicken und den Text mal zusammenkürzen, um Dir die Veränderung zu zeigen. Aber, es kann natürlich auch sein (und so wird es sein) dass Dir das alles am Herzen liegt. Und dann ist es gut wie es ist und ich habe nie was gesagt.
Natürlich liegen mir meine Texte am Herzen. Denn ich habe sie stundelang mühsam getippt. Bin aber einige Tage später idR. beratungsoffen. Soll heißen: dann würde ich auch kürzen. Obwohl es den Autor natürlich schmerzt, von ursprünglich 3500 Wörtern auf 500 runtergehen zu müssen. Wenn Kommentatoren erstmal in Streichlaune sind, bleibt kein Stein auf dem anderen. Ist mir schon öfter passiert.

Aber spannend ist es so nicht wirklich und das Ende zu weichgespült, um über die lange Phase des Zusehens und Zuhörens hinwegzutäuschen.
Der Text war allerdings nicht als Krimi oder Horror gedacht, sondern bloß als „plätschernde“ Erzählung eines SHG-Treffens.

Das mit dem „weichgespülten Ende“ verstehe ich nicht so ganz. Was für einen Schluss hättest du bevorzugt? Der hier geschilderte bewegt sich zumindest sehr nahe an der Realität.

… und bleib noch ne Weile hier!
Werde ich gerne tun.


Fliege, herzlichen Dank für deinen Kommentar! Muss mal schau’n, ob mir beim nächsten Mal eine gestrafftere Story gelingen wird.

Vg sinuhe

 

Ich nochmal :)

Nun reden in einer SHG, die aus acht Teilnehmern besteht, natürlich alle munter durcheinander. Von daher weiß ich im Moment nicht, ob ich von acht auf drei reduzieren möchte. Überlege ich mir.

Nein, klar gehören die dazu, nur muss eine solche Sitzung ja nicht protokollmäßig wiedergegeben werden. Man kann deren Auftritt schon minimieren, sofern man das will.

Das ist eine (super-) schwierige Aufgabe für einen Autor: bei jedem Satz, der im Schreibfluss zu Papier gebracht wird, prüfen, ob er die Geschichte tatsächlich voranbringt.

Ja. Aber für Kurzgeschichten ist es eine goldene Regel. Und sie tut weh, da bin ich ganz bei Dir.

Mit dieser Forderung killst du m.E. 80% aller Romane. Denn in allen wird an irgendeiner (zumeist an vielen) Stellen geschwafelt. Botschaft der notwendigen Straffung ist aber angekommen.

Oh, ich sprach nicht über Romane.
Ich wiederum habe überhaupt nichts gegen Plätschern. Lese solche Texte – unter der Voraussetzung, dass ich den Stil des Autors mag – sogar recht gerne.

Ich auch. Wir sind uns gar nicht so unähnlich. Aber nicht jedes Protokoll, verstehste. Auch wenn es ordentlich geschrieben ist, was ich gar nicht bestreiten will.

Freut mich, dass dir dieser Abschnitt gefällt. Wenngleich ich vermute, dass 90% der Leser diese Sätze nicht sonderlich mögen, weil zu lang/ kompliziert aufgebaut.

Weiß nicht. Ich würde die Leser nicht unterschätzen in diesem Punkt. Wenn die Sätze sauber gebastelt sind, um ihnen zu folgen, warum nicht. Aber in diesem Abschnitt wird tatsächlich etwas erzählt und du brauchst einen Anfang um den Leser in den Text zu ziehen, sonst klicken die weg und sagen, der nächste bitte. Das Angebot ist zu groß und die heutige Zeit zu Schnelllebig.

Wenn Kommentatoren erstmal in Streichlaune sind, bleibt kein Stein auf dem anderen. Ist mir schon öfter passiert.

Oh je.

Der Text war allerdings nicht als Krimi oder Horror gedacht, sondern bloß als „plätschernde“ Erzählung eines SHG-Treffens.

Es muss nicht Krimi oder Horror sein. Für mich sowieso nicht. Aber du wirst ja was erzählen wollen, oder? Klar willst Du das, also dann erzähle auch darüber und nicht rechts und links an deinen Absichten vorbei.

Das mit dem „weichgespülten Ende“ verstehe ich nicht so ganz. Was für einen Schluss hättest du bevorzugt? Der hier geschilderte bewegt sich zumindest sehr nahe an der Realität.

Oh, dass Ende ist völlig okay. Nur knallt es eben nicht genug, als dass der Leser zuvor 90 Min Therapie nötig gehabt hätte ;).

Muss mal schau’n, ob mir beim nächsten Mal eine gestrafftere Story gelingen wird.

Ist ja nur ne Rückmeldung und kein Dogma. Und jetzt gebe ich Ruhe. Jawohl.

Beste Grüße, Fliege

 

Hi Fliege,

Nein, klar gehören die dazu, nur muss eine solche Sitzung ja nicht protokollmäßig wiedergegeben werden.
Protokollmäßig: das schmerzt natürlich ein bisschen. Aber – wenn ich mir den Text heute erneut durchlese – ist da schon was Wahres dran. Ich habe halt – wie bei der Niederschrift einer Gemeinderatssitzung – jeden mal zu Wort kommen lassen. Ich hätte die Splitterparteien alternativ auch zu einer Stimme (Sonstige) zusammenfassen können. Werde ich demnächst so handhaben.

Oh, ich sprach nicht über Romane.
Schon klar. KGen folgen einem anderen Handlungsaufbau als Bücher. Mir dienen die Short Stories allerdings ebenfalls als Vorbereitung für längere Texte. Deshalb schweife ich in manchen Kurzgeschichten ganz gerne nach links u. rechts ab.

Oh, dass Ende ist völlig okay. Nur knallt es eben nicht genug, als dass der Leser zuvor 90 Min Therapie nötig gehabt hätte .
Den obligatorischen Toten am Schluss hatte ich dieses Mal weggelassen. Nicht alle explosiven SHG-Treffen enden mit einem Sterbefall.

Vllt taugen solche Begebenheiten schlichtweg nicht für die Gattung Kurzgeschichte. Denn die leicht hysterische Atmosphäre, die hin u. wieder in diesen Gruppen herrscht, würde mMn kaum rüberkommen, wenn ich nicht ebenfalls die Nebencharaktere zu Wort kommen ließe. Vermutlich Geschmackssache.

Herzliche Grüße, sinuhe

 

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