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Die explosive Kirschtorte
Die explosive Kirschtorte
»Der Mann klebte auf einmal vor mir auf der Scheibe. Er war schrecklich anzusehen. Mit den Armen voran. So als ob er einen Hechtsprung von der Brücke herab gemacht hat.« Karl-Heinz wischte sich die Schweißperlen von der mit aufgeplatzten Adern übersäten Stirn.
»Oh weh, ist das heute wieder langweilig«. Rolf lümmelte sich neben mir und schaute bereits um viertel nach acht auf seine Uhr. Wir saßen gerade mal fünfzehn Minuten im spartanisch eingerichteten Raum 12b der Caritas in Oberklingenberg, um an der wöchentlichen Dienstagssitzung des Kreuzbunds teilzunehmen. An diesem Abend hatten sage und schreibe acht Besucher den Weg zu unserer Selbsthilfegruppe gefunden. Vor einigen Wochen waren wir noch zwölf gewesen. »Die Säufer kommen und gehen, wie es ihnen gefällt. Du kennst das doch«, klärte Rolf mich auf, als er meinen fragenden Blick bemerkte.
»Wetten, dass er gleich erzählt, wie sehr ihn das alles mitgenommen hat.«
»Ein saublöder Vorschlag, Tim. Wer sollte dagegensetzen? Natürlich wird er das in den nächsten zehn Sekunden sagen.«
»Ich sehe andauernd das Bild des zerplatzenden Schädels. Überall war Blut …«
»… wie eine Flasche Ketchup, die jemand über dem Glas verschmiert hat«, fiel die rothaarige Angelika ihrem Nebenmann ins Wort. Auch sie hatte – wie wir alle – den stets gleichen Beitrag von Karl-Heinz Minimum zwei Dutzend Mal angehört.
»Ja, genau so war es. Ihr habt gut lachen. Euch ist das nicht passiert.« Kalle, wie er in der Kurzform von seinen Kumpels gerufen wurde, stoppte beleidigt und fingerte einige staubtrockene Erdnussflips aus einer geflochtenen Holz-Bastschale heraus.
»Das ist aber alles mittlerweile über ein Jahr her und Schnee von gestern. Wie soll es jetzt weitergehen Karl-Heinz?«, mischte sich Regina, die heute die Runde leitete, in die Unterhaltung ein. Eine typische Alkoholikerin mit aufgeblähtem Spitzbauch und spindeldürren Extremitäten. Sie war im vergangenen Jahr dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen, weil ihre Stoffwechselorgane es ein letztes Mal geschafft hatten, sich von selbst zu regenerieren, kurz bevor die Fettleber zu einer Zirrhose mutierte. Seitdem achtete sie penibel auf ihre Ess- und Trinkgewohnheiten, was einerseits vernünftig und nachvollziehbar erschien, andererseits jedoch ihr früher heiteres und gewinnendes Wesen zunehmend eintrübte, weshalb sie heute oft streng und griesgrämig wirkte.
»Ich brauche noch Zeit. Bin seitdem dienstunfähig geschrieben. Frühestens in drei Monaten setze ich mich wieder in eine Lokomotive«, schnaubte Kalle ungehalten.
Das, was Karl-Heinz zugestoßen war, konnte man mit Fug und Recht als unglücklich bezeichnen. Im vergangenen November, an einem nasskalten und neblig-trüben Abend sprang an Bahnkilometer 217 auf der Strecke zwischen Köln und Koblenz kurz vor dem Abzweig nach Hennef ein sechsundfünfzigjähriger, untersetzter Prokurist mit Halbglatze und Hornbrille vor den mit Tempo 100 heranbrausenden Regionalzug RB38. Und zwar vom Geländer der als Brücke ausgeführten Anschlussstelle Troisdorf-Nord an die Bundesstraße 42 hinunter frontal auf die Rundumverglasung des Führerhauses, wo der Schädel vor Kalles Augen detonierte und langsam nach unten glitt, um von den Rädern des Doppelstockwagens völlig zermalmt zu werden. Mit der rechten Hand hielt der Mann noch seine Aktentasche fest umklammert. Die doppelte Tragik bestand darin, dass Karl-Heinz die Route an diesem Tag nur deshalb befuhr, weil er für einen kurzfristig erkrankten Kollegen eingesprungen war. Wie oft hatte er uns erklärt, dass er den Moment verfluchen würde, in dem er sich gutmütig dazu hatte überreden lassen, die Rheinseite zu wechseln. »Passiert ist passiert«, pflegte Rolf ihm dann zu antworten. »Kannst du heute eh nicht mehr ändern.« An mich gewandt fügte er in gedämpftem Ton hinzu: »Unfälle und Selbstmorde sind eben sein Berufsrisiko. Das weiß man doch als Profi. Soll er froh sein, dass ihm das bisher nur einmal zugestoßen ist. Weiß gar nicht, weshalb sich der Kerl seit Monaten darüber echauffiert.«
Nachdem die Feuerwehr die Leiche des Mannes – besser gesagt das, was von ihm in Einzelteilen übriggeblieben war – mühsam geborgen hatte, brachte die eilig hinzugezogene Kriminalpolizei schnell in Erfahrung, dass der Suizid nicht auf einen depressiven Schub zurückzuführen war, sondern der leitende Angestellte in einem Akt spontaner Scham gehandelt hatte. Einige Stunden zuvor waren ihm im Rahmen einer internen Revision der Krankenhausgesellschaft, für die er den Einkauf organisierte, Bestechlichkeit und Unterschlagung nachgewiesen worden. Anstatt die Angelegenheit vor Gericht durchzustehen und zwei, drei Jahre in den Bau zu wandern, bevorzugte er die Alternative des sofortigen Ablebens. Jedoch in der unfeinen Variante des Sprungs vor einen Lokalexpress. Freundlicher wäre es gewesen, sich einsam im Wald am Ast einer Eiche zu erhängen oder zu Hause in der warmen Badewanne die Pulsadern zu öffnen. Stattdessen hinterließ der geldgierige Manager eine klagende Ehefrau, zwei weinende Töchter und einen perplexen Lokomotivführer. Die attraktive Witwe beruhigte sich jedoch rasch, als sie die stattliche Lebensversicherung, die der fürsorgliche Gatte und Familienvater zehn Jahre zuvor zu ihren Gunsten abgeschlossen hatte, ausgezahlt bekam und ihr daraufhin jüngere Herren, von deren körperlicher Präsenz sie bisher allenfalls geträumt hatte, tatsächlich den Hof machten. Kalle hingegen haderte seitdem mit sich und der Welt und trank mehr, als für ihn bekömmlich war.
Nach einigen Wochen fielen seine krankheitsbedingten Fehlzeiten und die Schnapsfahne, die er trotz kiloweise Pfefferminzpastillen nicht dauerhaft übertünchen konnte, sowohl Kollegen als auch Vorgesetzten auf. Da ein Lokführer mit Alkohol im Blut eine potenzielle Gefahr für Passagiere und Allgemeinheit darstellt, beorderte ihn sein Boss zum außerplanmäßigen Routinecheck beim Betriebsarzt. Leberwerte im Keller, allgemeine Konstitution glich eher einem 60- denn einem 40-jährigen, einfachste Denksportaufgaben bereiteten Karl-Heinz große Mühe. Nach Rücksprache mit einer auf Suchtfragen spezialisierten Psychologin wurde Kalle bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert mit der Auflage, sich einer ambulanten Therapie zu unterziehen. Hierzu gehörte ebenfalls der Besuch der Dienstagabend-Selbsthilfegruppe des Kreuzbunds. Und jetzt saß er seit nunmehr über sechs Monaten in unserer Runde, lamentierte und erzählte in Dauerschleife – darin einer Vinylschallplatte, die einen Sprung aufweist, ähnelnd – immer wieder denselben traurigen Hergang. Nachdem wir ihm anfangs mit offenen Mündern gelauscht und mehrmals unser Bedauern über den unseligen Vorfall ausgesprochen hatten, ermüdete uns die Story mittlerweile doch sehr.
»Kalle, hast du nicht mal was Neues auf Lager? Die Geschichte ödet mich langsam an.« Die dicke Margot klinkte sich unaufgefordert in das Gespräch ein. Ihre Stimme klang an diesem Abend seltsam unangenehm, so als ob in ihrem von schlaffem Gewebe eingerahmten Hals Fett kochte.
»Wieso?«
»Weil du vor Selbstmitleid zerfließt und uns keinen reinen Wein einschenkst.«
»Hä? Verstehe ich nicht.«
»Du säufst nicht alleine wegen des Unglücks vor einem Jahr. Du hast sicher bereits vorher getrunken. Und zwar deutlich mehr als andere. Niemand wird über Nacht zum Alkoholiker.«
»Wer behauptet denn, dass ich ein elender Säufer bin?«
»Weshalb bist du ansonsten bei uns? Das hier ist eine Alkoholikergruppe und keine Kuschelecke für Männer in der Midlife-Krise.«
»Weil mein Chef das so will. Ohne erfolgreich durchgezogene Therapie bekomme ich meinen Job nicht zurück.«
»Das sind natürlich keine guten Voraussetzungen, um zu einer eigenständigen Krankheitseinsicht zu gelangen«, Margot wackelte missbilligend mit ihrem riesigem Schildkrötenkopf.
»Ich habe nie gesagt, dass ich krank bin.«
»Sondern? Worin besteht dein Problem? Weshalb trinkst du? Du redest und redest, und trotzdem verstehe ich dich nicht.«
»Die Psychologin, die dämliche Kuh, hat meinem Boss das alles eingeredet. Ohne die säße ich jetzt nicht hier, sondern seit Wochen wieder in meiner Lok.«
»Und würdest mit zugedröhntem Schädel dunkelrote Signale übersehen und unschuldige Passanten plattfahren.« Rolf feixte, denn diese Art von Diskussion bereitete ihm großen Spaß.
»Du hast doch vor ein paar Minuten noch erklärt, dass du dich nervlich überhaupt nicht in der Lage fühlst, einen Zug zu steuern. Was denn nun?« Der am gesamten Körper tätowierte Lars, der bisher geschwiegen hatte, schaltete sich in den zunehmend munterer werdenden Wortwechsel ein.
»Mir wird das jetzt alles zu dumm heute Abend. Ich gehe.« Kalles ohnehin stark gerötetes Gesicht wechselte für einen kurzen Augenblick in einen violetten Farbton hinüber.
»Karl-Heinz, du weißt, dass du am Ende der Stunde eine Bescheinigung von mir benötigst. Du solltest also besser hierbleiben.« Regina blieb äußerlich gelassen und sprach leise auf ihn ein.
»Das grenzt ja schon an Erpressung.« Er schlug wütend mit der Faust auf die Tischplatte, sodass der Kaffee in der Tasse vor Margot überschwappte und auf ihren taubenblauen Blazer spritzte. Sie sagte nichts, schaute Kalle jedoch erbost an. Der tat so, als ob er es nicht bemerken würde, blieb aber sitzen.
Typen wie er tauchten alle Nase lang in unserer Gruppe auf. Quatschten viel belangloses Zeug, jammerten über die Ungerechtigkeit der Welt, vor allem wenn diese sich gegen ihre eigene Person richtete, führten hundert Gründe für ihr momentanes Trinkverhalten an; suchten die Ursache ihrer Sucht jedoch nie bei sich selbst, sondern stets bei anderen. Die Mutter hatte ihnen in der Kindheit zu wenig Liebe geschenkt, die Frau war fremdgegangen, die Kollegen am Arbeitsplatz mobbten und so weiter und so fort. Auf die eigentlich naheliegende Idee, dass sie in ihrer Jugend mit dem Saufen angefangen, den Konsum von Jahr zu Jahr gesteigert und irgendwann unweigerlich die Schwelle zur körperlichen und emotionalen Abhängigkeit überschritten hatten, kamen sie gar nicht. Diese Sorte von Teilnehmern blieb erfahrungsgemäß nicht lange bei der Stange. Nach einigen Wochen wurde ihnen das Spiel zu blöde, niemand von uns verstand sie, wir behandelten sie entweder zu streng oder mit zu wenig Fingerspitzengefühl, und von einem auf den anderen Tag verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen.
»Sobald der mit seinem Zwangsprogramm durch ist, schluckt er eh wieder«, raunte ich Rolf zu.
»Wenn er das bis zum Ende durchhält. Allmählich werden die Fragen an seine Adresse unangenehmer. Glaube nicht, dass Kalle das noch lange mitmacht«, grinste mein Bekannter und öffnete die vierte Flasche Cola, weil es die heute Abend umsonst gab.
»Hey Waldorf und Statler, getuschelt wird nicht! … Was hast du auf Lager, Tim?« Regina blickte mich mit strengen, dunkelgrünen Katzenaugen an.
Als du noch getrunken hast, warst du charmanter im Umgang mit deinen Mitmenschen, ging es mir durch den Kopf. Ich verscheuchte jedoch sofort den unangemessenen Gedanken, denn ich wusste, dass Reginas nächster Schluck mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr letzter werden würde.
»Bei mir gibt es nichts Besonderes zu berichten«, begann ich meinen Vortrag. »Ich schlage mich mit Gelegenheitsjobs und Hilfsarbeiten durch und verdiene damit so viel, dass ich ein bescheidenes Leben führen kann. Sind natürlich alles sogenannte freiberufliche Tätigkeiten. Ich darf also nie fehlen oder gar länger krank werden. Weil die Blutsauger in diesen Fällen nicht zahlen. Hin und wieder schlafe ich schlecht, wenn ich an die mangelhafte Absicherung im Alter denke. Dann male ich mir aus, ich werde demnächst einen 6-er im Lotto erzielen, drehe mich beruhigt auf die andere Seite und penne wieder ein.«
»Der gute Tim verfügte schon immer über ein sonniges Gemüt«, schmunzelte Rolf, während er eine alte Mandarine, die hier seit der letzten Weihnachtsfeier auf einem bunten Plastikteller vor sich hingammelte, in ihre Einzelteile filetierte. Für ihn, der zehn Jahre mehr als ich auf dem Buckel hatte, stellte sich das Problem der Armutsrente viel drängender dar als für mich. Da er aber früher – bevor er Kanzlei, Haus und Familie versoff – als renommierter Wirtschaftsanwalt sein Geld verdiente, war er heute zu stolz, seine Probleme offen in der Gruppe anzusprechen. Mir hatte er bei unseren gemeinsamen Klinikaufenthalten ab und an sein Leid geklagt, weshalb ich über die stets klammen Finanzen bei ihm im Bilde war.
»Du spielst doch gar kein Lotto, wenn ich mich richtig erinnere, Tim.« Der stille Lars hörte seit Jahren geduldig zu, beobachtete mit seinen wieselflinken Augen jede Bewegung im Raum und verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
»Ich werde ja manchmal noch träumen dürfen«, grinste ich. »Du hast aber vollkommen recht. Auf die neunundvierzig Kugeln setze ich nicht. Die Chance, damit auch nur hundert Euro zu gewinnen, ist einfach zu klein. Dann lasse ich es lieber ganz bleiben.«
»Aber Fußballwetten schließt du ab?« Lars vergaß wirklich nichts. Das hatte ich ihm vor Jahren mal im Raucherzimmer der Klinik erzählt, als wir dort gemeinsam entgifteten.
»Korrekt. Hin und wieder. Ist letzten Endes ein Nullsummenspiel. Das, was du ausbezahlt bekommst, investierst man wieder. Mehr ein Zeitvertreib als eine seriöse Investition.«
»Und Backgammon zockst du weiterhin?« So langsam entwickelte sich die Unterhaltung zu einem nervigen Frage-Antwort-Spiel.
»Tue ich«, erwiderte ich deshalb einsilbig.
»Um Geld?« Lothar, ein Endvierziger mit tausend Schuppen auf den Schultern und gelben Zähnen, der nach dem zwanzigsten Rückfall seit nunmehr fünf Wochen trocken war – allerdings die Gruppe seit vielen Jahren besuchte – wollte sich ebenfalls an dem Kreuzverhör beteiligen. Denn es war natürlich angenehmer, einen anderen ins Gebet zu nehmen, als sich selbst zu offenbaren.
»Natürlich um Kohle. Sonst macht mir die Sache keinen Spaß.«
»Spielsüchtig bist du aber nicht, Tim?«
»Nein!! Noch nie gewesen.«
»Bleib cool«, murmelte Rolf, stand kurz auf, um zum Fensterbrett zu spazieren und kehrte von dort mit einer angebrochenen Tüte billiger Paprikachips zurück.
»Was ist mit Saufdruck, Tim?«, wollte Angelika von mir wissen, die wie viele Rothaarige über einen ultrablassen Hautton verfügte und in den Sommermonaten aus Angst vor einem an jeder Ecke lauernden Melanom das Haus nicht verließ, weshalb sie von Mitte Juni bis Ende August nicht an unseren Treffen teilnahm.
»Hin und wieder abends. Aber nicht mehr so stark wie früher. Auch an das Nicht-Trinken kann man sich gewöhnen.«
»Und was tust du, wenn dich der Zwang überkommt?«
»Ich setze mich in mein Arbeitszimmer und schreibe.«
»Du rufst keinen von uns an oder hältst dich an die Regeln des Notfallkoffers?« Lothar schüttelte fassungslos den Kopf.
»Nein, ich bringe Texte zu Papier, und das reicht mir.«
»Ich habe das Gefühl, dass du die Sache nicht ernst nimmst, Tim.« Damit hatte Lothar, den ich ohnehin nicht leiden konnte, den Bogen überspannt.
»Kümmere dich um deine eigene Abstinenz und geh mir nicht auf den Zeiger mit solch bescheuerten Moralpredigten! Soll jeder auf sich selbst aufpassen. Damit hast du genug zu tun. Wie ich es schaffe, trocken zu bleiben, ist meine Sache. Hauptsache, es funktioniert«, blaffte ich zurück.
Ich hatte mir im Laufe meiner Säuferkarriere eine etwas ruppige Art angewöhnt. Hinter der rauen Fassade verbarg sich jedoch ein empfindsamer Kern, von dem ich aber nicht wollte, dass ihn jeder zu sehen bekam. Ich befand mich nun im dritten Jahr der alkoholischen Enthaltsamkeit , die ich mir nach dutzenden Klinikaufenthalten jeden Tag aufs Neue mühsam erkämpfte. Seit dem Aufwachen aus meinem letzten Totalabsturz, der mich um Haaresbreite ins Jenseits befördert hatte, mied ich Bier, Wein und Schnaps wie der Teufel das Weihwasser zu und verspürte Null Lust, mir von selbsternannten Pharisäern erklären zu lassen, wie ich es ihrer Meinung nach besser bewerkstelligen könnte. Lothar schnappte beleidigt nach Luft, schwieg aber. Regina schmunzelte katzenartig, weil sie mir insgeheim recht gab, tadelte mich allerdings trotzdem: »Tim, sei nett zu Lothar! Er meint es nur gut mit dir.«
»Lothar ist ein stadtbekannter Trinker. Der kann einem sicher die weisesten Ratschläge erteilen, wie man einen Rückfall vermeidet«, ergänzte Rolf trocken. Er war der Erfahrenste von uns. Ihm konnte in Punkto Saufen keiner ein X für ein U vormachen. All seine Klugheit, die er anderen gegenüber mitunter gerne demonstrierte, bewahrte ihn jedoch nicht davor, im Rhythmus von sechs Monaten heftig zuzuschlagen und sich im Anschluss auf der Intensivstation wiederzufinden. Manchmal mutmaßte ich, dass es gerade seine Intelligenz war, die ihm immer wieder ein Bein stellte. Denn er glaubte nach wie vor daran, dass er die Sucht überlisten konnte. Und so experimentierte er heimlich in seinen vier Wänden weiterhin mit Schnaps, denn mit Bier gab er sich gar nicht erst ab. »Da kann ich auch Limonade saufen«, pflegte er zu sagen, wenn wir über unsere unterschiedlichen Trinkgewohnheiten nachdachten. Das würde er garantiert niemals in unserem Zirkel diskutieren wollen. So schlau war er dann doch. Als altgedienter Fahrensmann wusste er natürlich, dass er in diesem Fall ordentlich Contra von der Gruppe bekommen würde. So sportlich wie er sich nach außen hin generierte, war Rolf bei weitem nicht. Er würde sich niemals freiwillig auf den heißen Stuhl setzen und dort Rede und Antwort stehen. Diese unangenehme Aufgabe überließ er bereitwillig den anderen.
»Lasst uns zügig weitermachen«, Regina klatschte in die Hände. »Ich will das heute Abend nicht wie ein Kaffeekränzchen in die Länge ziehen.«
»Apropos Kaffeekränzchen – ich habe mir gestern ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte gegönnt.« Karl-Heinz strahlte wie ein kleiner Junge übers ganze Gesicht.
»Du weißt, dass da Alkohol drin ist?«, fragte lauernd Margot, während sie gleichzeitig die dritte Tafel Nougatschokolade innerhalb der Zeitspanne einer knappen Stunde in ihren gierigen Mund hineinstopfte.
»Aber doch nur in winzigen Mengen. Da merkt man überhaupt nichts von. Meiner Meinung nach völlig ungefährlich«, verteidigte sich Kalle.
»Von wegen«, ereiferte sich Lothar, der ein neues Empörungsthema entdeckt hatte.
Das Thema Alkohol in Lebensmitteln war seit jeher ein heiß umkämpftes. Hier spalteten sich die Teilnehmer in zwei scharf voneinander abgegrenzte Lager: die Orthodoxen, die jedes Produkt penibel daraufhin untersuchten, ob eventuell ein Nanogramm Äthanol darin enthalten sein könnte und die Liberalen, denen das ziemlich egal war. Ich persönlich vertrat die Auffassung, dass jeder für sich selbst entscheiden sollte, ob eine Kirschtorte oder ein Champagnertrüffel für ihn ein Problem darstellte. Die Rechtgläubigen sahen das anders und bezichtigten jeden, der mit Odol gurgelte oder zu Weihnachten klebrige Pralinés verspeiste, sofort des Verrats an der heiligen Sache der lebenslangen Abstinenz. Die beiden Auffassungen ließen sich erfahrungsgemäß nicht unter einen Hut bringen und erhitzten unnötigerweise und ohne zufriedenstellendes Ergebnis die Gemüter. Deshalb war es vernünftig, die Sache nur dann aufs Tapet zu bringen, wenn sie unvermeidbar erschien.
»Kalle rafft es einfach nicht. Sie werden ihn gleich ordentlich in die Mangel nehmen«, zischte ich leise durch die Zähne.
»Er ist halt dumm. Siehst du ihm doch an der Nasenspitze an«, kicherte Rolf.
»Karl-Heinz, ich frage mich ernsthaft, ob du den Ernst deiner aktuellen Situation richtig einschätzt«, eröffnete Regina das Sperrfeuer auf den nichtsahnenden Lokomotivführer.
»Du wirst vom Dienst suspendiert, absolvierst seit Monaten eine Therapie. Wirst täglich darauf hingewiesen, dass jeder Tropfen einen Rückfall auslösen kann, und trotzdem begibst du dich wissentlich in Gefahr. Das kann ich ganz und gar nicht gutheißen«, fuhr sie mit ihrer Philippika fort.
»Nun mal halblang, Lady. Ich kann schon selber auf mich aufpassen. Ein Stück Torte haut einen Anderthalbzentner-Mann wie mich nicht um. Ich vertrage ja abends auch eine Flasche Bitburger vor dem Schlafengehen. Alles halb so wild.«
»Ich höre wohl nicht richtig? Du trinkst Bier?? Das darf doch nicht wahr sein!« Angelika verlor für einen kurzen Moment die Fassung, derweil sich auf der milchig-weißen Haut ihres Dekolletés kleine rote Flecken bildeten.
»Von Krankheitseinsicht als erstem Schritt zur Genesung hast du vermutlich noch nie was gehört?«, trompetete Margot aus mit Luft und Nougatschokolade aufgepumpten Backen. Ihr dicker Hals schwabbelte dabei ganz fürchterlich. Die Sache mit der Krankheitseinsicht lag ihr sehr am Herzen. Sie konnte darüber stundenlang referieren.
»Ich bin nicht krank«, versuchte Kalle, sich zur Wehr zu setzen.
»Sondern?«
»Ich hatte eine schlechte Phase im vergangenen Jahr nach dem Unfall in Troisdorf. Scheint mir normal zu sein. Wäre euch ebenso gegangen.«
»Mag durchaus sein«, überlegte Lars laut. »Jedoch haben wir erkannt, dass unser übermäßiges Trinken krankhaft ist. Und nicht auf einen einzigen Grund oder Auslöser geschoben werden kann. Das ist der wesentliche Unterschied zu deiner Auffassung.«
»Mir völlig wurscht, wie ihr darüber denkt. Ich mache es so, wie ich es für richtig halte. Mit dieser Einstellung bin ich immer gut gefahren.«
»So lange du nicht mehr am Steuerpult einer Lok sitzt und unschuldige Spaziergänger totfährst, ist alles okay für mich«, lästerte Rolf.
»Das hast du alter Spritkopf überhaupt nicht zu entscheiden.«
»Das stimmt«, lächelte Rolf böse. »Aber die Psychologin und dein Boss werden es gar nicht gerne hören, dass du derart beratungsresistent auftrittst.«
»Willst du mir etwa drohen?« Kalles ohnehin nicht gerade sympathische Mimik entglitt derart, dass seine Gesichtszüge einige Sekunden lang den Ausdruck einer gotischen Dämonenfratze, wie man sie am Nordportal des Kölner Doms bestaunen kann, annahmen.
»Mach es nicht schlimmer, als es ohnehin schon ist.« Ich stieß Rolf meinen rechten Arm in die Rippen.
»Ich würde vorschlagen, dass wir das Thema für heute beenden«, meldete ich mich zu Wort. »Karl-Heinz wird sich bis zum nächsten Mal die Frage stellen, ob er mit seinem aktuellen Trinkverhalten in einer Alkoholikergruppe richtig aufgehoben ist. Nützt ja nichts, wenn wir alle auf ihm rumhacken. Er muss selbst entscheiden, was für ihn der vernünftigste Weg ist.«
»Der Oberdiplomat hat gesprochen«, giftete Rolf, der mir meinen Ellbogencheck anscheinend übelnahm.
»Was soll der Kerl bei uns? Der gehört hier nicht hin. Von mir aus braucht er nicht wiederzukommen. Mit seiner laschen Einstellung stellt er eine Gefahr für sich und die labilen Gruppenmitglieder dar.« Lothar regte sich mit hochrotem Kopf immer noch auf und schaute Beifall heischend von links nach rechts. Allerdings applaudierte ihm niemand, einige blickten sogar beschämt nach unten auf den Boden.
Bevor Margot, die sich in diesen entscheidenden Minuten merkwürdig passiv verhielt und damit ihrer Funktion als Moderatorin in keiner Weise gerecht wurde, energisch einschreiten konnte, sprang Kalle zornbebend von seinem Stuhl auf, pfefferte eine Handvoll Erdnussflips auf den zerschlissenen Teppich, wo er sie mit der linken Schuhsohle zermahlte und schrie: »Ihr könnt mich alle kreuzweise. Mich seht ihr nie mehr wieder.« Daraufhin stürmte er zur Tür, knallte sie wütend hinter sich zu und lief schnurstracks zur Tankstelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo er sich mit einigen Dosen Bier eindeckte.
»Bravo. Das habt ihr super hinbekommen«, rief ich in Richtung Lothar und Rolf.
»Was ein kleines Stück Kirschtorte mitunter für Explosionen auslösen kann«, räsonierte der stille Lars und sprach damit das Schlusswort für den heutigen Abend.
Die knarzigen Lautsprecher auf Gleis 3 kündigten eine zwanzigminütige Verspätung für RE62 in Richtung Bonn an. Nichts Ungewöhnliches auf diesem Abschnitt der rechtsrheinischen Trasse. »Mir ist es zu kalt auf dem windigen Bahnsteig. Ich wärme mich in der Zwischenzeit in der Gaststätte auf. Kommst du mit, Tim? Ich lade dich auf ein Getränk ein.« Rolf war wieder guter Stimmung und pfiff vergnügt einen alten Schlager aus den 60-ern vor sich hin.
»Was trinkst du?«
»Eine Cola Zero.«
»Typisch Tim. Immer besorgt um seine schlanke Linie. Na ja, wir haben alle unsere Marotten. Schmecken tut die braune Brühe ja bestimmt nicht.«
»Alles eine Sache der Gewöhnung. Ich mag das Zeug ganz gerne.«
Rolf gab in gedämpftem Tonfall unsere Bestellung auf, während ich mir vor der Garderobe die dort ausliegende Sportzeitung besorgte. Als ich zurückkehrte, hielt er fröhlich ein Schnapsglas in der Rechten.
»Was tust du da?«, fragte ich ihn entgeistert.
»Na was wohl? Ich genehmige mir einen kleinen Absacker. Den habe ich mir nach der Gruselstunde redlich verdient.«
»Was unterscheidet dich dann von Kalle?«
»Ich sag’s nicht gerne: die Intelligenz.«
»Verstehe ich nicht.«
»Er säuft und quatscht darüber. Ich hingegen schweige.« Rolf ließ den Wodka in einem Schluck die Kehle runterlaufen und bestellte sich einen zweiten.
»Zudem habe ich die Sache im Griff.«
»Du spielst also die Rolle des Drogenfahnders, der selber an der Nadel hängt? Von mir aus. Das ist deine Angelegenheit. Mein’s ist es nicht.«
Ich ließ die Cola unangerührt auf dem Tresen stehen, drehte mich um und verließ wortlos das Lokal. Draußen auf dem zugigen Bahnsteig wusste ich nicht, wer mir an diesem Abend unsympathischer gewesen war: Rolf oder Kalle?
Auf der Heimfahrt mied ich Rolf und setzte mich in einen anderen Waggon. Vielleicht sollte ich von der Dienstags- in die Mittwochgruppe wechseln, überlegte ich. Auf jeden Fall würde ich in meiner Wohnung gleich ins Arbeitszimmer marschieren und schreiben. Das war für mich die beste Ablenkung.