Die Exkursion
Eine Frau und ihr Sohn liefen an einem Sommertag über eine wilde Wiese. Die Sonne stand kurz vor dem Zenit, an einem beinahe wolkenfreien Himmel, und obwohl die beiden schon einige Zeit gelaufen waren, sah man keine Spur von Schweiß auf ihrer Stirn. Die Erde war uneben und voller Maulwurfshügel, der lehmige Boden zu Geröll verklebt und voller kleiner Krater, und doch schienen die beiden mühelos darüber zu schweben, ohne auf ihre Schritte zu achten.
»Hey!«, rief die Frau und hockte sich hin. »Sieh mal. Das ist ein Stiefmütterchen.«
Der Junge ging neben ihr in die Knie und betrachtete interessiert die Blume, auf die seine Mutter deutete.
»Siehst du, wie die Blüten sich gegenseitig bedecken?«, fragte sie, während sie den Jungen aufmerksam beobachtete. »Das untere, große Blatt ist die Stiefmutter. Es bedeckt die Blätter daneben - man nennt sie Töchter - und diese wiederum ragen über die Obersten - die Stieftöchter.«
Der Junge nickte verständig.
»Sie ist ein Symbol der Erinnerung. Meine Oma hat mir, als ich selbst noch ein Kind war, oft erzählt wie sie als kleines Mädchen nach einem erlebnisreichen Tag einen Strauß davon gepflückt hat und ihn auf ihren Nachttisch legte, um sich am nächsten Morgen gleich an die Abenteuer vom Vortag zu erinnern.«, sagte die Frau, doch der Junge hatte sich schon abgewandt und betrachtete die blühenden Gräser um ihn herum.
Die beiden standen auf und ließen die Blume hinter sich. Vereinzelt liefen Vögel über die Wiese oder segelten gemächlich über den Himmel. Der Junge entdeckte einen, der in Richtung des Waldes flog, der weit vor ihnen lag, wo die Wiese zu Ende ging. Er reckte den Kopf und deutete mit seinem unheimlich blassen Arm darauf.
»Wie heißt der Vogel, Mama?«, fragte er. Die Frau blickte nach oben. Einsam gleitete das Tier über den strahlend blauen Himmel, die Flügel weit gespreizt. Sie überlegte.
»Ich weiß es nicht mehr.«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe ihn schon öfter gesehen, aber ich kann mich nicht erinnern. Warte, ich sehe nach.« Sie hob den linken Arm und tippte auf das Gerät an ihrem Handgelenk. Es ähnelte einer Uhr, war aber größer und verfügte über ein Display statt eines Ziffernblattes. Sie deutete auf den Vogel und sofort zeigte das Gerät eine Vielzahl von Informationen an. Die Frau laß vor.
»Das ist ein Habicht. Habichte sind Raubvögel, sehr geschickte Jäger. Sie können natürliche Hindernisse wie Sträucher und Hecken nutzen, um ungesehen, dicht über dem Boden, an ihre Beute heranzufliegen. Das da oben ist ein Männchen.«
Der Junge nickte, war aber schon nicht mehr interessiert.
»Hast du nicht gesagt es gibt hier einen Fluss? Mit Fi.. Mit Fisken?«
»Mit Fischen. Ja. Wir sind gleich da.« Sie lächelte, aber in ihrem Gesicht lag Bitterkeit. Sie wandte sich von dem Jungen ab und ging ein wenig schneller. Im Gehen drehte sie sich um und suchte den Himmel nach dem Vogel ab. Er war verschwunden.
Sie standen an einer Böschung bei dem Fluss. Der Junge blickte in das kristallklare Wasser, hielt Ausschau nach Fischen und beobachtete wie die Strömung winzige Kiesel mit sich trieb, die wirbelnd miteinander tanzten. Er kniete auf dem Boden, hielt das Gesicht ganz dicht über das Wasser und sah einen Flusskrebs, der sich - so schien es ihm - beinahe verzweifelt an den Grund klammerte um nicht fortgespült zu werden. Als er ihn entdeckte, rief er seine Mutter. »Sieh mal! Ein Krebs! Die hast du mir im Zuhause im Hologramm-Model gezeigt. Ich dachte sie wären viel größer.« Die Frau kniete sich neben ihren Sohn und betrachtete das winzige Tier. Sie war erstaunt, wie die filigranen Details, die den Körper des Krebses bildeten heraustachen, wie flüssig seine Bewegungen waren, wie ein dünner, kaum sichtbarer Staubfaden von dem Flussbett aufstieg und von der Strömung wegetragen wurde, jedesmal wenn er eines seiner Beine hob.
»Hast du mal in einem Fluss gebadet?«, fragte der Junge, ohne die Augen von dem Tier zu nehmen.
Die Frau erinnerte sich bei diesen Worten an einen Tag in ihrer eigenen Kindheit. Sie sah sich mit einer Freundin über eine Wiese tollen, ein winziges Stück Rasen inmitten von vier grauen Hochhäusern. Sie hatten die Schuhe ausgezogen und spürten das Gras zwischen ihren Zehen, fühlten den Boden, der ganz nass war vom Regen. Eine Regenrinne am Bordstein, die genau neben der Grünfläche vorbeilief, führte ein trübes Rinnsal. Sie tauchten ihre Zehen in das schmutzige Wasser und...
»Mama?« Der Junge unterbrach ihre Gedanken. »Hast du mal in einem Fluss gebadet?«
»Nein mein Schatz.« Sie sprach sehr langsam, als klebten ihre Worte an ihrer Kehle fest; zäh drangen sie über ihren Mund nach außen.
»Als ich vier Jahre alt war - zumindest glaube ich dass ich vier war, dein Opa hat es mir erzählt als ich älter wurde -, wurden auch die letzten Süßwasservorkommen aufgekauft. Der einzige Fluss in der Nähe unserer Stadt wurde eingezäunt und rund um die Uhr bewacht. Einmal erzählte man sich ein paar Kinder hätten versucht ein Loch in den Zaun zu schneiden um in dem Fluss zu baden. Aber als ich am nächsten Tag danach suchte fand ich kein Loch. Ein Jahr später wurde das Wasser für die privaten Haushalte rationiert und das Baden auch Zuhause verboten.« Sie seufzte.
Das Gerät am Handgelenk der Frau stieß einen grellen Pfeifton aus und begann gleich darauf zu summen, wie ein elektrischer Bienenstock. "Niedriges Energieniveau" stand in leuchtend grünen Lettern auf der Anzeige. Darunter, in winzigen, grauen Ziffern lief ein Countdown von fünf Minuten ab.
»Oh.« Sie klang erstaunt. Es kam ihr jedes Mal aufs Neue so vor, als verginge die Zeit während ihrer Exkursionen unnatürlich schnell. »Wir müssen zurück.«, sagte sie zu ihrem Sohn. Ein erleichtertes Lächeln huschte über seine Mundwinkel. Die Frau tippte auf eine Schaltfläche auf dem uhrenartigen Gerät und mit einem Mal waren beide in absolute Dunkelheit gehüllt.
Sie nahmen die Brillen ab. Die Frau und ihr Sohn standen in einem kargen, metallischen Raum ohne Einrichtung. Die Wände waren mit einer gummiartigen, cremefarbenen Masse überzogen. Auf dem Boden gab es sechs kreisrunde Flächen, jeweils umgeben von einem Gitter mit einem verschließbaren Durchgang. Die Frau und der Junge standen in je einem der Kreise, unter ihren Füßen ein Laufband das sich geräuschlos mitbewegte und rotierte, wenn man darauf ging. Unzählige Kameras befanden sich überall in den Wänden.
Sie verließen die Käfige.
»Machen dir die Exkursionen keinen Spaß?«, fragte die Frau. »Ich habe den Eindruck du bist jedesmal erleichtert, wenn die Zeit um ist. Aber weißt du, das ist nunmal die einzige Möglichkeit dir all das wirklich zu zeigen. Die Hologramme sind schön, aber es fehlt die Umgebung.«
Der Junge sah sie lange an. Er bewegte geräuschlos die Lippen, man sah, wie er in seinem Kopf mit Worten jonglierte, versuchte, das richtige zu finden. Es wollte ihm nicht recht gelingen. Nach einer Weile sprach er doch noch.
»Es ist immer sehr schön. Ich sehe die Tiere gern und will den Namen von jedem kennen. Ich will wissen wo sie herkamen und lebten. Aber die Brille ist ... Ich glaube ...« Er stockte.
»Ich kann nichts davon fühlen!« rief er schließlich.