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Die etwas andere Prinzessin
Mit einem Stöhnen schlug Lotta ihr Deutsch-Heft auf. Die Lehrerin hatte ihnen aufgegeben, ein Märchen zu schreiben. Ein Märchen – so ein Kinderkram.
Lotta starrte auf das weiße Blatt. Was kam in Märchen alles vor? Prinzen und Prinzessinnen, Könige und böse Stiefmütter, Hexen und Drachen, Zwerge und Zauberer. Sie entschied sich für eine Geschichte, in der eine Prinzessin von einem gefährlichen Drachen gefangengehalten wurde. Und ein Prinz würde sie dann retten.
Also schrieb sie: „Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin. Sie hatte lange blonde Haare und blaue Augen. Sie trug immer ganz feine, weiße Kleider und auf dem Kopf eine kleine, goldene Krone.“
„Oh, nein, nicht schon wieder“, sagte eine leise, aber sehr entschiedene Stimme.
Erschrocken sah Lotta von ihrem Heft auf. Vor ihr auf dem Schreibtisch stand ein Mädchen. Nun ja, eigentlich kein richtiges Mädchen, denn sie war nur ungefähr so groß wie Lottas Hand. Sie hatte lange blonde Haare und blaue Augen. Und sie trug ein weißes Kleid, das bis zum Boden reichte, und auf dem Kopf eine kleine, goldene Krone. Unverkennbar eine Prinzessin. Nur etwas an ihr war überhaupt nicht prinzessinnenhaft: ihr wütender Gesichtsausdruck.
„Weißt du eigentlich, wie unpraktisch diese weißen Kleider sind?“, fragte sie mit vorwurfsvoller Stimme. „Dauernd macht man sich schmutzig und muss sich wieder umziehen. Und dieses blöde Krönchen im Haar verrutscht dauernd.“
Lotta rieb sich die Augen. Träumte sie oder war das Wirklichkeit?
„Und ich wette“, fuhr die Prinzessin fort, „ich soll von einem gefährlichen Drachen gefangengenommen und von einem mutigen Prinzen gerettet werden?“
Lotta nickte.
„Immer dasselbe“, schimpfte die Prinzessin, „das ist ja so langweilig. Kann es denn nicht einmal umgekehrt sein? Dass ich einen Prinzen befreie?“
„Aber das geht doch nicht“, meinte Lotta.
„Ach, und warum soll das nicht gehen?“, fragte die Prinzessin, „wer schreibt denn das Märchen? Das bist doch du, oder?“ Und sie befahl: „Los, fang die Geschichte noch mal an.“
Lotta schlug in ihrem Heft eine neue Seite auf und begann zu schreiben: „Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin. Sie hasste weiße Kleider, weil sie sich darin immer so schnell schmutzig machte. Daher trug sie meistens bequeme Hosen. Mit denen konnte sie nicht nur gut laufen, sondern auch reiten und fechten.“
Sie blickte zur Prinzessin. Das weiße Kleid und die Krone waren verschwunden. Stattdessen hatte sie lange braune Hosen, feste Schuhe und ein dunkelgrünes Hemd an. Und sie nickte Lotta mit einem zufriedenen Lächeln zu.
„Jetzt also der Prinz“, murmelte Lotta und schrieb: „Weit entfernt in einem Schloss lebte ein König mit seinem Sohn. In der Nähe gab es hohe Berge, und dort lebte ein gefährlicher, feuerspeiender Drache. Eines Tages beschloss der Prinz, im Gebirge zu wandern. ’Pass bloß auf den Drachen auf’, mahnte sein Vater, der König.
‚Ach, ich habe keine Angst vor dem Drachen’, sagte der Prinz und wanderte los.“
Lotta überlegte, wie es weitergehen sollte, und hob den Kopf. Und wieder musste sie sich verwundert die Augen reiben. Denn auf der ansonsten weißen Wand vor ihrem Schreibtisch war ganz deutlich ein Schloss zu sehen, und in der Ferne ein Gebirge. Und aus dem Schloss, über die heruntergelassene Zugbrücke, ging mit weiten Schritten ein junger Mann. Lotta sah ihm gebannt zu, wie er langsam Richtung Gebirge wanderte. Es war wie ein Film, der jedoch plötzlich in einem Bild stehen blieb. Lotta begriff: sie musste weiterschreiben.
Also senkte sie ihren Blick wieder aufs Papier und schrieb: „Der Prinz ging mit großen Schritten und war bald in der Nähe des Gebirges. Dort musste er zunächst einen Bach durchqueren.“
Sie schaute wieder auf die Wand. Tatsächlich, dort wo eben nur grünes Gras gewesen war, plätscherte nun ein Bach munter vor sich hin. Und der Prinz zog gerade die Schuhe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Lotta lachte. Es war, als ob sie zaubern konnte.
Schnell schrieb sie weiter: "Anschließend musste der Prinz durch einen dunklen Wald gehen. Als er den durchquert hatte, stieg er einen steilen Pfad hinauf.“
Lotta schaute auf die Wand. Ja, es geschah alles genauso wie sie es beschrieben hatte. Sie konnte jede Einzelheit ganz deutlich sehen, selbst die Schweißperlen auf der Stirn des Prinzen.
„Der Prinz kam ganz schön ins Schwitzen“, schrieb sie nun weiter. „Als er endlich oben auf dem Berg angekommen war, ließ er sich erschöpft ins Gras fallen. Er genoss die schöne Aussicht und die warme Sonne. Aber plötzlich fiel ein großer, dunkler Schatten auf ihn. Der Drache! Er schwebte genau über ihm, und plötzlich flog er hinunter und ergriff den Prinzen mit seinen Klauen.“
Als Lotta von ihrem Heft aufblickte, schrie sie erschrocken auf. Der riesige, grüne Drache sah furchterregend aus. Der arme Prinz, den der Drache fest gepackt hatte, tat ihr wirklich leid.
Sie schrieb: „Der Drache schleppte den Prinzen in seine Höhle und kettete ihn an. Dann flog er hinunter ins Tal und kreiste über dem Königsschloss. Alle Menschen kreischten und schrieen, als sie ihn sahen. Nur der König rief dem Drachen zu: ‚Was willst du Untier von uns?’ Der Drache brüllte: ‚Ich habe den Prinzen gefangengenommen. Nur eine Prinzessin kann ihn befreien. Also schickt die Prinzessinnen zu mir.’ Der Drache lachte dabei laut, und aus seinem riesigen Maul kamen Feuer und Rauch. Als der Drache wieder weggeflogen war, schickte der König Boten in alle benachbarten Länder. Er verkündete, dass die Prinzessin, die den Prinzen befreite, ihn heiraten durfte. Darum kamen viele Prinzessinnen, denn der Prinz sah sehr gut aus und war sehr reich“.
„Jetzt bin ich endlich dran“, rief die Prinzessin erwartungsvoll.
Lotta schüttelte entschieden den Kopf: „Nein, du musst noch etwas warten“.
Während die Prinzessin mürrisch das Gesicht verzog, schrieb Lotta weiter: „Doch die meisten Prinzessinnen kamen nur bis zu dem Bach. Sie riefen: ‚Ich mache mir doch mein Kleid nicht nass’ und kehrten wieder um. Einige zogen ihre Schuhe aus und hoben ihre Kleider hoch. Aber als sie dann im dunklen Wald waren, riefen sie: ‚Ich fürchte mich doch im Dunkeln so sehr’ und kehrten wieder um. Zwei oder drei durchquerten auch den Wald. Aber als sie dann an den steilen Pfad kamen, riefen sie: ‚Mit meinen Schuhen kann ich doch hier nicht laufen’ und kehrten wieder um. Als der König all die Prinzessinnen ohne den Prinzen wiederkommen sah, wurde er ganz traurig. Er schickte Boten in noch viel weiter entfernte Länder und bat um Hilfe.“
Die Prinzessin rief: „Aber jetzt bin ich doch endlich dran, oder?“
Diesmal nickte Lotta und schrieb: „So erfuhr auch die Prinzessin, die immer Hosen trug, davon. Schnell reiste sie zum Schloss des traurigen Königs. Dort machte sie sich auf den Weg ins Gebirge. Am Bach zog sie ihre Schuhe aus und krempelte die Hosen hoch. Dann konnte sie bequem durchs Wasser gehen. Der dunkle Wald machte ihr auch nichts aus, denn sie hatte vor nichts Angst. Und weil sie so sportlich war, schaffte sie es auch, den steilen Weg hinaufzusteigen. Oben angekommen, begegnete ihr gleich der Drache, der erstaunt rief: ‚Wer bist du denn?’
‚Eine Prinzessin’, antwortete die Prinzessin, ergriff ihr Schwert und stieß es dem Drachen in den Bauch. Der Drache fiel tot zu Boden.“
Lotta blickte kurz auf die Wand, sah aber schnell wieder weg, weil sie sich vor dem Drachenblut ekelte. Sie schrieb weiter: „Nun befreite die Prinzessin den Prinzen, und sie liefen gemeinsam ins Tal. Der König freute sich sehr, und schon am nächsten Tag wurde Hochzeit gefeiert.“
Lotta schlug das Heft zu und schaute die Prinzessin an, die ziemlich unzufrieden aussah. „Was ist los?“, fragte Lotta, „willst du den Prinzen denn nicht heiraten?“
„Na klar will ich das“, sagte die Prinzessin, „aber doch nicht in langen Hosen.“
Also schlug Lotta ihr Deutsch-Heft wieder auf und schrieb: „Zur Hochzeit hatte die Prinzessin natürlich keine Hosen an, sondern ihr feinstes weißes Kleid.“
Und sie betrachtete noch lange das Brautpaar und die Gäste, die eine fröhliche Hochzeit feierten.