- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Die Erwartung
Sie stand vor dem Fenster und blickte hinaus. Noch drei waren vor ihr. Die Annahme an der Musikhochschule war sehr wichtig für sie. Sie umklammerte fest den Griff ihres Klarinettenkoffers. Die Tür des Vorspielraumes ging auf. Sie drehte sich um. Ein junger Mann mit hängenden Schultern kam heraus. NICHT BESTANDEN, das konnte sie sofort sehen. Ein blondes Mädchen erhob sich mit ihrer Geige in der Hand - nur noch zwei.
Sie musste an ihren achten Geburtstag denken. Wie sehr hatte sie sich damals doch eine Geige gewünscht und wie enttäuscht sie war, als sie eine Klarinette auf ihrem Geburtstagstisch fand. Zuerst konnte sie sich nicht so richtig damit anfreunden. Sie musste lachen, als sie jetzt daran dachte. Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert bis die ersten Erfolge zu erkennen waren.
Sie wurde durch das Quietschen der Tür aus den Gedanken gerissen. Das blonde Mädchen kam strahlend heraus - BESTANDEN. Nur noch einer vor ihr. Das Mädchen wurde von einer älteren Frau in Empfang genommen. Das erinnerte sie an ihre Großmutter.
Die Großmutter hatte immer an sie geglaubt, sie aufgemuntert und unterstütz, wenn sie schon aufgeben wollte. Nun war sie gut sechs Monate tot und sie vermisste sie furchtbar. Sie hätte sie so gerne für ihre Bemühungen mit der Annahme bei der Musikhochschule belohnt. Jetzt wird ihre Großmutter es nicht mehr erleben, wenn sie überhaupt angenommen wird.
Es bildeten sich Tränen in ihren Augen. Die Tür öffnete sich wieder und der junge Mann, der vorhin mit seiner Gitarre hereingegangen war, kam heraus. Er machte das Siegeszeichen –BESTANDEN. In zehn Minuten würde sie dran sein. Die Entscheidung über Sieg oder Niederlage. Eine junge Frau war noch vor ihr dran. Sie vernahm Klavierklänge aus dem Zimmer – Mozart.
Noch neun Minuten. Oh, ein Fehler, er war deutlich zu erkennen gewesen. Das würde die Absage sein – auf so kleine Details wurde immer geachtet. Leise summte sie die Melodie mit.
Noch acht Minuten. Sie blickte sich auf dem Flur um. Er war leer und es war völlig leise. Die Klavierklänge vermischten sich mit leisen Tönen einer Flöte und Violine, die den Flur weiter runter gespielt wurden.
Noch sieben Minuten. Ihre Hände klammerten sich so fest um den Henkel des Klarinettenkoffers, dass sie ganz weiß wurden.
Noch sechs Minuten. Was würde sie machen, wenn sie nicht angenommen würde? Sie hatte ihr Abitur nicht besonders gut gemeistert – außer Musik: eins.
Noch fünf Minuten. Alle würden enttäuscht sein und sie selbst am meisten. Ihre Hände zitterten.
Noch vier Minuten. Sie ging die zwei Stücke, die sie vorspielen wollte, in Gedanken noch einmal durch – Bach und Mozart.
Noch drei Minuten. Sie fühlte sich so verlassen und einsam. Niemand war da um sie aufzumuntern – ach, Großmutter.
Noch zwei Minuten. Sie betrachtete den Sekundenzeiger, der sich viel zu langsam auf dem Ziffernblatt zu bewegen schien.
Noch eine Minute. Sie lauschte wieder den Klavierklängen, die plötzlich verstummten, nicht mehr lange und.....
Die Tür ging auf und der junge Mann kam heraus. Er sah enttäuscht aus – NICHT BESTANDEN. Nun war sie an der Reihe. Sie ging langsam auf die offene Tür zu und betrat den Raum. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.