Die erste Reise zurück in der Zeit
Georg wollte immer der Erste sein. Dass er aber das erste Opfer der Zeitexperimente von Professor Dr. Grünstein wurde, hatte allerdings nicht in seiner Absicht gelegen. Lediglich der Ruhm, als Erster die Schranken des Zeitstromes überschritten zu haben, sollte ihm zu kommen. Diese Ehre wollte Georg nicht mit einer seelenlosen kamerabestückten Maschine und einem Schimpansen teilen.
Deshalb verließ Georg auch nicht mit den anderen Assistenten von Professor Grünstein am späten Nachmittag das Labor. "Morgen", so verkündete der Professor, bevor er seine Mitarbeiter in den Feierabend entließ, werden wir das größte Experiment in der Geschichte der Menschheit starten." Stolz tätschelte Professor Grünstein den polierten Kugelkopf des Roboterfahrzeugs. "Diese Maschine", so sagte er mehr zu sich selbst als zu seiner handvoll Assistenten, die um ihn herum standen und die Pläne sowieso bis in das Detail hinein kannten, "diese Maschine", wiederholte er, "wird dann zweihundert Jahre in die Vergangenheit zurückkehren und Fotos anfertigen. Ist das nicht phantastisch? Wir werden Bilder vom Ort unseres Labors bekommen, von vor zwei Jahrhunderten!" Denn eine Ortsveränderung war mit der Zeitreise nicht verbunden. Das hatten die umfangreichen theoretischen Berechnungen von Professor Grünstein ohne jeden Zweifel ergeben. Auch schien die Reise zurück in die Vergangenheit völlig gefahrlos zu sein. Aber um sicher zu gehen, hatte Professor Grünstein angeordnet, zuerst eine Maschine auf den Weg zu schicken. Ein Roboter sollte auf seinen sechs Rädern für einige Minuten auf der Erde des Jahres 1820 herum kurven und in alle Himmelsrichtungen ausgiebig fotografieren. Auf dem Gehäuse des automatischen Fahrzeuges war ein Käfig angebracht. In dem Käfig befand sich ein Schalensitz mit Gurten, außerdem eine Reihe von Messinstrumenten. Eine junge Schimpansin sollte das programmgesteuerte Auto begleiten. Erst wenn der Affe unbeschadet von seinem Ausflug zurückgekehrt war, durfte Georg mit dem Tier tauschen und als erster Mensch in die Welt seiner Vorfahren eindringen. So hatte der Professor entschieden.
Georg protestierte nicht gegen die Anordnungen seines Chefs. Sie waren vernünftig und Georg hätte - wenn er denn von irgendjemand danach gefragt worden wäre - nicht sagen können, was ihn eigentlich dazu trieb, nicht mit den anderen das Labor zu verlassen. Ein wilder Gedankenblitz durchzuckte sein Gehirn, als der Professor die morgigen Pläne repetierte und zum Schluss sich an Georg wandte: "Und Sie, Doktor, schlafen sich bitte besonders gut aus. Denn wenn unsere Judy für Sie die Luft des 19. Jahrhunderts vorgekostet hat, dürfen Sie die Fahrt unternehmen." Warum denn, so flüsterte dieser wilde Gedanke ihm zu, sollte er sich hinter einer Äffin verstecken. "Judy, die Schimpansin, die erste Zeitreisende", würde es heißen und vielleicht vermerkte ein gewissenhafter Chronist auch noch, dass dann er, Georg, Doktor der Physik, dem Affen gefolgt war. Sicher war das aber nicht.
Welcher Teufel ihn auch immer ritt, Georg fand keine Zeit mehr, denselben zu verfluchen. Gefangen von seinem Einfall, hielt er sich beim Verlassen des Labors am Ende der Gruppe um Professor Grünstein und schritt nahe am Ausgang rasch in die Herrentoilette. Für den Fall, dass jemand sein Verschwinden bemerkte und vielleicht nach ihm sah, betrat Georg einer der Kabinen, schloss sich ein und lauschte. Er hörte, wie das Klappen der Außentür die Stimmen seiner Kollegen mit einem Mal abschnitt, dann war es ruhig. Nur die Neonröhren der Lampen summten leise. Die Physiker im Labor von Professor Grünstein schalteten niemals die Lampen aus. Grundsätzlich wurde diese "hausmeisterliche Tätigkeit", wie es der Professor zu nennen pflegte, dem Nachtwächter überlassen. Aber der, dass wusste Georg, machte erst in knapp eineinhalb Stunden seine erste Runde.
Georg ging zu dem Robotfahrzeug zurück. Er überprüfte die Justierung des Zeitfeldprojektors, schaltete die Stromversorgung ein, nahm dann das Gitteroberteil des Käfigs ab. Georg legte seinen weißen Laborkittel ab, prüfte aus reiner Gewohnheit noch einmal den korrekten Sitz seines Wollpullovers und stellte den Projektor so ein, dass er in drei Minuten die volle Energie abstrahlte und das Zeitfeld für fünf Minuten aufrecht erhielt. Dann schwang er sich in den für ihn viel zu engen Schalensitz auf dem Robotfahrzeug, strich sich über das schüttere Haar und wartete.
Die drei Minuten zogen sich für Georg eine Ewigkeit hin. Schließlich war es soweit. Georg bemerkte von seiner Reise nicht viel. Übergangslos verschwand das Labor, Schwärze umgab ihn, auf der viele kleine Lichtpunkten angesiedelt waren.
Der Aufenthalt im Vakuum des Weltalls ist für Menschen ohne entsprechende Schutzvorrichtungen und Lebenserhaltungssysteme unter allen Umständen tödlich. Doch in der kurzen Zeit, die Georg in seinem Leben noch blieb, erkannte er noch, was geschehen war. Der Zeitprojektor hatte funktioniert, die Berechnungen waren - wie sollte es auch anders sein - korrekt. Professor Grünstein irrte sich nicht, es gab keine Ortsveränderung bei einer Zeitreise. Georg befand sich exakt am selben Punkt des Raumes wie vor zweihundert Jahren in der Zukunft. Was aber weder Professor Grünstein noch Georg bedacht hatten: die Erde bewegt sich mitsamt ihrer Sonne durch das Weltall. Vor zweihundert Jahren jedoch zog der Planet noch weit entfernt von dem Ort seine Bahn, an dem Georg seine Reise zurück in die Zeit begonnen hatte.