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Die erste Minute
Als Porcellia Scaber erwachte, fand sie sich, von strahlendem Schein umgeben. Etwas war anders an diesem Morgen. Mehr noch, nicht irgendetwas, sondern alles war verwandelt. Sie streckte die Beine aus. Es war schön feucht, vom Tau, an diesem Morgen. Von den Steinen, an der Hauswand, trippelte sie los. Zu ihrer Runde durch den Garten.
Noch bevor sie um die Hausecke kam, hörte sie das keifende Bellen von Francis, der kleinen Hündin. Der Yorkshire Terrier, ein Wollknäuel von drei Kilogramm, raste an ihr vorbei. Wie jeden Morgen kam der alte Mann mit seinen zwei Hunden aus dem Haus. Francis war schon am Gartentor und bellte unentwegt weiter. Casimir, der ältere Labrador-Mix aus dem Tierheim, blieb erst einmal stehen. Schnüffelnd bebte seine Nase in der Morgenbrise. Dann ließ er sich anstecken. Porcellia Scaber sah das Spannen der Muskeln, das Senken des Kopfes. Sie wusste, er würde nach vorne schießen. Dreißig Kilogramm geballte Kraft. Den alten Mann fast umreißend. Auch die Ursache kannte Porcellia Scaber heute, ohne dass sie darüber nachdenken musste. Eine Katze. Die Welt lag vollständig illuminiert vor ihr.
Als Hund oder Katze wollte Porcellia Scaber nicht wiedergeboren werden. Lieber als Flughund im Amazonas von den Früchten naschen, oder als Delfin die blauen Meere durchstreifen. Sie kannte alle Tiere und war mehr als nur aufgewacht an jenem Morgen.
Die Erleuchtung findet Dich, auch wenn Du nicht nach ihr suchst, hätte sie philosophieren können. Sie tastete sich weiter. Alle Ursachen des Leidens waren aus ihrem Geist entfernt und es gab nur noch das Erleben von Frieden. Porcellia Scaber hatte nie angenommen, dass sie selbst einmal die Auserwählte sein würde. Genauso, wie sich niemand als Neujahrswunsch vorstellt, einer der vielen Tausend Verkehrstoten des neuen Jahres zu werden. Sie war dem Kreislauf des Leidens und der Wiedergeburten durch ihr Erwachen entronnen. Also musste sie von den vier Anhaftungen, allem Festhalten an dem Vergänglichen, losgelassen haben.
Da es nun einmal passiert war, was sollte sie nun mit diesem Leuchten und Schweben anfangen? Wird die Erleuchtung ewig anhalten? „Ja und nein - Hi, hi, hi“, kicherte sie. Es hängt nur von ihrer Ausrichtung ab. Ein seltsames Gefühl, bei jeder Frage gleichzeitig die Antwort zu denken. Fragen erübrigten sich.
Ruhig atmete Porcellia Scaber durch ihre Tracheen und trippelte auf ihren vierzehn Füßen weiter. Sie hat das Nirvana erreicht. Alle Ursachen des Leidens waren aus ihrem Geist entfernt und sie war in vollständigem Frieden mit der Welt. Sie streckte die Fühler in die Wärme der Morgensonne und roch das feuchte Gras. Ein Mensch hatte es auch nicht besser. Sie sah das böse verzerrte Gesicht des Mannes, der wütend schimpfte. Sie begann ihr Frühstück. Die angerotteten Laubblätter schmeckten herrlich faulig. Falls sie doch in den Kreislauf der Wiedergeburten zurückgehen sollte, dann wollte sie wieder eine Kellerassel sein.