Die erste Abweichung
Schon immer war die zentrale Bedeutung des ewigen Eises im großen Gebirge für das Kraftwerk klar. Darum wurde bereits sehr früh mit der Beobachtung und Vermessung der Eis- und Schneemassen begonnen. Die Gletscher zeigten aber eine Beständigkeit, die nur den Gezeitenschwankungen unterlag, wiesen sonst aber keine Abweichungen auf. Mit der Zeit schwand das Interesse an der Konstante, die im Grunde nicht der ständigen Kontrolle bedurfte und deren Kosten den erbrachten Nutzen überstiegen. Die zuständige Abteilung wurde daher nur noch aus Gewohnheit fortgeführt und verlor mit der Zeit jede Bedeutung.
Oben am Gletscher liegt eine abgelegene Schutzhütte, die seinerzeit im Bereich der Zunge des tiefgelegensten mittleren Gletschers auf einer natürlichen, lawinengeschützten Erhebung erbaut wurde. Dabei ist die Benennung „Hütte“ etwas irreführend. Tatsächlich ist sie ein stattliches Haus das alle Anforderungen des täglichen Lebens erfüllt. Es besteht eine geräumige Küche mit allem erforderlichen Geschirr für die Verköstigung einer großen Gruppe. Das anschließende Speisezimmer ist von zwei Bankreihen durchzogenen. Etwas abgesondert steht ein kleiner Tisch an dem drei bis vier Personen Platz finden. Der im oberen Stock liegende Schlafbereich besteht aus einem Zimmer mit zwei Betten sowie einem geräumigen Schlafsaal. Lediglich der Toilette- und Sanitärbereich fordert durch die exponierte Lage seinen Tribut. Hier bedarf es einer gewissen Gewöhnung falls sich diese einstellen kann. Die Hütte selbst wurde vom Eckstein bis zur Dachbedeckung aus Stein erbaut. Verwendet wurde das hier oben in Überfluss liegende Gestein, das in groben Zügen zurecht gemeißelt und mit Putz verbunden wurde. Die Bedachung bilden große Schieferplatten die schwer und trotzig jedem Sturm und jeder Schneelast Stand halten. Lediglich der Dachstuhl wurde aus rundem massivem Tannenholz gezimmert. Die Bauweise verleiht der Schutzhütte das Aussehen einer herben, der Umgebung entsprechenden Natürlichkeit. Die Maße und Bauweise der Hütte zeigen, dass sie nicht nur für die einmalige Erfassung und Karthografierung der Eis und Schneemassen sondern deren ständige Kontrolle und Überwachung errichtet wurde. Doch ein großer Widerspruch findet sich in der Schutzhütte. Es fehlt jede elektrische Energie. Gerade hier am Ausgangspunkt der Energiegewinnung herrscht immer noch das offene Feuer. Dieser offensichtliche Widerspruch zwischen theoretischem Anspruch und seiner Realisierung lässt sich nur durch die völlig unzugängliche Lage erklären. Eine Versorgung mit elektrischem Strom würde vom Nutzen in keinem Verhältnis zum Aufwand stehen der notwendig wäre.
Die ursprüngliche Bezeichnung der Abteilung die für die Vermessung zuständig war ist nicht mehr bekannt. Als die beunruhigenden Ergebnisse erstmals auftraten hieß sie „Abteilung zur Erfassung und Vermessung der Gletscher am großen Gebirge“. Sie bestand nur noch aus einem Abteilungsleiter und dessen Stellvertreter. Auch diese beiden verdankten ihre berufliche Existenz nur noch einem Firmengrundsatz „Es gibt bedeutende und weniger bedeutende Aspekte der Energie, aber es gibt keinen unbedeutenden“. Zu jener Zeit war der damalige Abteilungsleiter erst wenige Jahre in seinem Amt. Sein Vorgänger hatte den Ruf eines äußerst fähigen und energischen Mannes, der zudem in freundschaftlicher Verbindung mit dem Oberabteilungsleiter stand. Es stellte sich bei einem solchen Mann die Frage warum er Vermessungstechnik erlernt hatte. Es war ein Lernzweig, der nicht gerade von den Klassenbesten der Oberschule gewählt wurde. Elektronik und Elektrotechnik mit all ihren Unterbereichen waren die vorherrschenden Lehr- und Lernrichtungen. Unter diesen fand sich die Begabung und der Stolz jeder Generation. Doch vielleicht gab es oben am Gletscher etwas, das in der Nähe von Steckdose und Elektrokabel nicht leicht zu finden war. Wie auch immer, der neue Abteilungsleiter hatte ein schweres Erbe angetreten und eine Lücke zu füllen, die sie sich nicht völlig schließen ließ. Von allem Anfang war sein Verhältnis zum Oberabteilungsleiter durch die unterschiedlichen Temperamente geprägt. Dieser war rasch, ungeduldig und aufbrausend, während jener alles nicht langsam jedoch mit Ruhe und Bedacht machte. Ein ständiger Streitpunkt war der Abgabetermin für die jeweiligen Messergebnisse am Gletscher. Verwöhnt durch seinen Vorgänger, der die Messergebnisse immer sehr früh vorlegte, und daran hatte sich der Oberabteilungsleiter gewöhnt. Der junge Abteilungsleiter hatte weder die Erfahrung noch das rasche Wesen seines Vorgängers. Fristgerecht doch nicht zum lange üblichen Zeitpunkt legte er seine Berichte vor. Diesen Umstand hatte der Oberabteilungsleiter schon mehrmals indirekt kritisiert, und einmal, in einem raschen, unbedachten Moment sogar die Berufung zum Abteilungsleiter zu einem möglichen Fehler erklärt. Nicht durch Protektion hatte der junge Mann diese Stelle erhalten. Seine Zeugnisse und Leistungen entsprachen mindestens jenen der anderen Mitbewerber. Jedoch war sein Onkel der jüngere Bruder seines allzu früh Verstorbenen Vaters gemeinsames Vereinsmitglied mit dem Oberabteilungsleiter. Die beiden waren nicht in Freundschaft verbunden, doch gegenseitigem Respekt und Wohlwollen. Etwas von diesem Wohlwollen gab nun den Ausschlag zu seinen Gunsten.
Es war im dritten oder vierten Jahr zu Beginn der trockenen Zeit als der Abteilungsleiter und sein Stellvertreter von der ersten Messung zurückkehrten. Dieses Mal lieferte er tatsächlich mit einiger Verzögerung seinen Bericht ab. Die Messdaten wichen merklich von den üblichen ab und daher hatte er nochmals eine gewissenhafte Überprüfung vorgenommen. Es hatte sich zwar in den letzten Jahren ein verstärktes Abschmelzen des Gletschers gezeigt, doch schien dies noch im Rahmen der Toleranz. Der Oberabteilungsleiter war nun sowohl über den Zeitpunkt als auch über die Daten höchst ungehalten. Die vorgelegten Angaben konnten nur das Ergebnis unkorrekt, wenn nicht gar fahrlässig gemachter Untersuchungen sein. Er ordnete eine umgehende Nachmessung und Überprüfung am Gletscher an. Alle Widersprüche halfen nichts und erhöhten nur den anschwellenden Zorn. Der Abteilungsleiter gab das negative Lob gemildert an seinen Stellvertreter weiter. Früh standen sie am nächsten Morgen auf. Sie verstauten die optischen Instrumente und etwas Proviant in ihren Rücksäcken. Stative, Zieltafeln und anderes Gerät fand sich ständig bereit oben in der Hütte. Der Fußweg führte vom Kraftwerk am linken Ufer flussaufwärts bis zum Fuß des Gebirges. Den Weg über herrschte gepresstes Schweigen. Der Abteilungsleiter starrte haltlos vor sich hin. Mehrere Versuche des Stellvertreters das unangenehme Schweigen zu überbrücken scheiterten. Ein Strick band heute dem Abteilungsleiter jeden Atem ab. Dies war ungewöhnlich, denn ansonsten bestand zwischen den beiden ein gutes Verständnis. Sie waren fast gleich alt und mit gegenseitiger Sympathie. Zuweilen wurde ihre Unterhaltung persönlich wenn auch nicht intim. Der Stellvertreter war kein erlernter Vermesser. Nach der Bestellung des Abteilungsleiters wurde er diesem ohne jede Vorkenntnisse zugewiesen. Er erhielt eine kurze Einführung in das Wesen dieser Technik und Erläuterungen zu seinen Tätigkeiten oben am Berg. War die Handhabung der Instrumente ausschließlich dem Abteilungsleiter vorbehalten und seine Arbeit nur einfache Tätigkeiten war er doch mit einem gewissen Stolz erfüllt. Als erster und bis dahin einziger seiner Familie hatte er eine Anstellung im Kraftwerk erhalten. Auf eine spätere Beförderung konnte er nicht hoffen. Nicht nur war diese Abteilung viel zu unbedeutend, auch hatte er keine Vor- oder Ausbildung im Vermessungsbereich. Jedoch war ihm durch seinen Eintritt in den Werksdienst ein Sprung geglückt der nicht jedem gelang. Seine, vielleicht später folgenden Kinder würden stolz und dankbar für den bereiteten Weg sein. Am Talende ging der Weg in einen kleineren steingeschütteten Saumpfad über der zu einer aufgelassenen Alpe führte. Früher war hier am Berg eine gut entwickelte Landwirtschaft. Mit Kühen und Schafen wurde eine rentable Milch- und Käsewirtschaft betrieben. In den letzten Jahren wurden jedoch immer mehr Bauernhöfe und Alpen aufgelassen da unten im Tal Viehrassen mit mehr Milchertrag gehalten wurden.
Bei der Alpe angekommen machten sie kurze Rast aßen und tranken etwas. Doch schon nach wenigen Minuten drängte der Abteilungsleiter zum Weitergehen. Der Stellvertreter wäre gerne noch etwas gesessen. Nicht nur um zu Essen sondern auch etwas Luft zu holen, da sie heute schneller aufstiegen als sonst. Doch sagte er nichts, nicht einmal mit einem unwilligen Blick. Zu gut verstand er den Grund für den gedrängten Gang. Von hier führte ein kleiner aber gut sichtbarer Fußweg Richtung Hütte. Bei normalem Schritttempo waren es drei gute Gehstunden bergauf. Es gab alte Berichte über die erste Messung, bei der beim Aufstieg bis zur Hüfte reichende Schneemassen lagen. Jetzt war der Weg trocken und der Blick über das Kraftwerk hinüber bis auf die Stadt wäre eine Freude gewesen wenn nicht dieses bange Gefühl mitgetragen worden wäre. Ohne Rast stiegen die beiden zur Schutzhütte auf und erreichten diese im Laufe des Nachmittags. Der Abteilungsleiter wollte oben kaum eine Jause einnehmen um möglichst gleich mit der Arbeit zu beginnen. Der Stellvertreter sah dessen stumme Verzweiflung und versuchte ihn mit dem Vorschlag zu beruhigen, sich erst zu erholen, zu Essen und in aller Ruhe alles für die morgige Arbeit vorzubereiten. Genauigkeit sei jetzt doch wichtiger als einige Stunden früher die Messungen zu beenden. Der Abteilungsleiter verstand vollkommen wie gerechtfertigt der Einwand war und stimmte zu. Etwas Ruhe würde ihm gut tun um seine Angst etwas zu fassen. Nach einer unruhigen Nacht machten sie sich am nächsten Morgen unmittelbar nach dem Frühstuck an die Arbeit. Jede Messung wurde akribisch und doppelt vorgenommen. Um nicht von den früheren Messdaten beeinflusst zu werden trug der Abteilungsleiter alle Ergebnisse nicht im Messbuch sondern in einem kleinen Heft ein. Nach einigen Stunden war alles abgeschlossen und er verglich die Angaben mit den vor wenigen Tagen gemachten. Beide Messungen ergaben exakt die gleichen Ergebnisse. Die Situation war äußerst heikel. Überschlagsmäßig berechnete er die möglichen Konsequenzen. Er hatte seine Abmahnung schon erhalten. Bei einem Beharren würde der Oberabteilungsleiter nicht den beschwerlichen Weg in die Berge als vielmehr den unbeschwerlicheren zu einem neuen Abteilungsleiter wählen. Eine Entlassung hätte unabsehbare Folgen für sein weiteres Leben. Der Verlust würde nicht nur ihn sondern auch seinen Onkel in höchstem Maß beschämen. Das ausgestellte Dienstzeugnis würde ohne Unterlass positive Aspekte seiner Leistungskraft zeigen. Lob fände sich für jeden kleinen Charakterzug der nicht zur Kritik diente. Was dann am Ende übrig blieb war nur die Frage “Warum?“. Dieses positive Dienstzeugnis würde sein ganzes weiteres Leben belasten. Bei Verlust der Anstellung im Kraftwerk müsste er sich eine Stelle in der Stadt oder im Umland suchen. Einfacher Mitarbeiter bei der Bau- und Straßenabteilung der Stadt, oder kleiner Angestellter in einer örtlichen Bau- oder Grundvermessungsfirma wären seine einzigen Aussichten. Hinzu käme der Verlust seiner Wohnung. Als Abteilungsleiter hatte er Anspruch auf eine schöne, geräumige Wohnung im äußeren Bereich, die mehr als nur einer Person Lebensraum bot. Um nicht mehr und nicht weniger ging es. Der Abteilungsleiter erklärte seinem Stellvertreter, dass wenn sie nicht zwischen Strick und Kugel wählen wollten ein Weg zu finden sei. Nach längerem Gespräch fanden sie keine Lösung aber einen Ausweg. Mit tiefen Demutsbezeugungen wurden Messdaten vorgelegt die nur eine marginale Abweichung der Eismächtigkeiten auswiesen. Der Oberabteilungsleiter sah sich in seiner Beurteilung völlig bestätigt und nahm den Bericht wohlwollend zur Kenntnis. Anfänglich führte die Beruhigung des Oberabteilungsleiters zu keiner Beruhigung beim Abteilungsleiter. Ganz im Gegenteil. In den folgenden Tagen durchsuchte er alle noch in der Abteilung befindlichen Protokolle des fraglichen Gletscherabschnittes. Kein Ergebnis zu diesem ersten Zeitpunkt zeigte auch nur einen annähernden Wert. Dieser Gletscherstand entsprach der zweiten bis dritten Messung, die jedoch erst im Abstand von jeweils zwei Monaten vorgenommen wurden. Da sich in diesen Büchern keine Entsprechung fand entschloss er sich in den Zentralkeller zu gehen. In diesen weiten tief liegenden Gewölben wurden alle Aufzeichnungen und Akten des Kraftwerkes gelagert sofern sie nicht mehr in den Abteilungen unmittelbar benötigt wurden. Abteilungsleiter kamen kaum hier herunter. Die unbenötigten Akten wurden in der Abteilung abgesondert markiert und von den Zentralkellergehilfen nach unten gebracht. Selten wurden alte Akten angefordert, und wenn, dann zumeist für interne statistische Berechnungen bestimmter Kraftwerksleistungen über sehr lange Zeiträume. Trotz alldem und selbst auf die Gefahr sich verdächtig zu machen entschloss er sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt. Unten wurde ihm ein kleines Arbeitszimmer zugewiesen und die gewünschten Unterlagen bereitgestellt. Der Leiter des Zentralkellers erkundigte sich persönlich ob alles vollständig und zur Zufriedenheit sei. Der Abteilungsleiter dankte verlegen für die persönliche Betreuung und erklärte alles Bestens. Doch auch in diesen alten, sehr weit zurückreichenden Aufzeichnungen fanden sich keine Anhaltspunkte für die gegenwärtige Situation. Das änderte nichts. Die Vorgehensweise war gewählt und auch in den folgenden Jahren wies der Bericht immer nur geringe Abschmelzungen auf. Es war ein Weg eingeschlagen und dieser konnte nicht mehr verlassen werden. Mit der Zeit trat, wenn auch keine vollständige Beruhigung, so doch ein merkliches Nachlassen der Anspannung ein. Irgendwann erinnerte er sich an eine alte Sage in der sich der Held hinter einem Wort versteckte um der grässlichen einäugigen Kreatur zu entkommen. Er versteckte sich nicht hinter Worten sondern hinter Zahlen. Aber der Grund war der Selbe wie bei dem alten Helden. Beide wollten überleben. Sein Stellvertreter schien in der Angelegenheit von allem Anfang keinerlei Bedenken zu haben. Und über die Jahre wurden die vorgelegten Messdaten ein eigenes Faktum. Nach Jahrzehnten der treuen Pflichterfüllung wurden der Abteilungsleiter und sein Stellvertreter schließlich gemeinsam in den verdienten Altersstand entlassen.