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Die Erscheinung - eine Weihnachtsgeschichte
Was ist die Adventszeit?
Adventszeit, das ist Glühwein,
Adventszeit, das ist Kerzenlicht,
Adventszeit, das ist der Duft nach Mhhh aus der Küche.
Adventszeit, das ist Dunkelheit,
Adventszeit, das ist der Krampus
Adventszeit, das ist die wilde Jagd.
Wann ist die Adventszeit?
Wenn man etwas erwartet.
Wann erwartet man etwas?
Immer
Wo erwartet man etwas?
Überall.
Wer erwartet etwas?
Alle.
Was also ist die Adventszeit?
Die Adventszeit, das ist das Leben!
Wütend hieb Lado Pinzer, erfolgloser Kunstmaler, mit einem Kerzenständer aus Messing auf das Radiogerät ein, als zum ersten Adventssonntag das Lied „Nun jauchzet, all ihr Frommen“ daraus ertönte. Seine Wut verschaffte sich Luft, sonst hätte sie ihn erstickt. Seit dem Herzinfarkt seiner Frau durchwühlten Seelenschmerzen seine Glieder. Immer wieder starrte er auf die Vision, die er verscheuchen wollte: Vier Totengräber senken den Sarg mit dem Leichnam seiner Frau ins Grab. Gesehen hatte er das nicht. Er war nicht auf der Beerdigung.
Sein Körper wollte den Tod seiner Frau rückgängig machen. Er bäumte sich gegen das dumpfe Geräusch des Sarges auf, der auf den Boden der Totengrube aufsetzt. Kontaktversuche seiner Kindern, Nachbarn und Verwandten hatte er unterbunden: Das Telefon nahm er nicht ab, die Tür öffnete er nicht. Einsam wandelte er durch die Tage, fühllos, als wäre er von einer dicken Eisschicht umgeben. Eines Tages durchstieß er den Eispanzer mit dem Küchenmesser: Die schrecklichen Schmerzen brachten das Eis zum Schmelzen, er fühlte wieder innere Lebendigkeit. Bald betäubte die Kälte sein Leiden.
Eine Woche vor Weihnachten fühlte er sich in besonderer Weise gequält. Wer seinen Partner überlebt, existiert im Niemandsland zwischen Himmel und Erde.
Das ist die Hölle!
Die Kinder hatten ihn zum Weihnachtsabend eingeladen. Er hatte abgesagt. Sein Gewissen plagte ihn. War er nicht durch sein Verhalten an ihrem frühen Tod mit fünfundfünfzig Jahren schuldig? Hatte er nicht nur der Kunst gelebt und die Verstorbene vernachlässigt? Ein Herzinfarkt könne auch seelische Ursachen haben, meinten die beiden Töchter und die beiden Söhne.
Frau ins Grab gebracht.
Im Beruf gescheitert.
Leben verpfuscht.
Noch drei Tage bis zum Weihnachtsabend. Er blieb im Bett und wollte über sich nachdenken. Lebensbilanz: Sechzig war er geworden. Berühmter Künstler? Galerien in New York, Paris, Berlin?
Denkste: Kleinstgalerien von Direktorenfrauen in Dörfern und Vorstädten waren seine Ausstellungsorte. Sein Bauernhaus, fünfzehn Minuten von der Bushaltestelle zur nächsten Stadt entfernt, hatte er von einem kleinen Erbe billig gekauft. Den Lebensunterhalt verdiente er mit Malstunden und Antiquitätenhandel.
Fazit: »Lebenskünstler«, zu mehr hatte es nicht gereicht.
Wie hatte es seine Frau geschafft, vier Kinder großzuziehen?
Er wusste es nicht. Sein Leben hatte sich in einer anderen Welt abgespielt.
In welcher?
Er zuckte die Schultern und wusste es auch nicht mehr.
Zwei Tage bis zum Weihnachtsabend. Er stieg in den Speicher und holte die fünfundachtzig Krippenfiguren und den Krippenberg herunter. Die Figuren stellte er so auf, wie seine Frau sie jedes Jahr platziert hatte.
„Bist du wahnsinnig? Warum machst du das?“, warf er sich während des Aufbaus der Krippe vor.
Wollte er diesen religiösen Firlefanz nicht schon oft anzünden? Jetzt war doch die Gelegenheit dazu!
Er wunderte sich über sich, als er am nächsten Tag in den Wald ging und mit einem Christbaum nach Hause kam, den er dann auch noch schmückte. Die Buntheit der Kugeln und das Glitzern des Lamettas verursachtem ihm bisher immer künstlerisches Bauchgrimmen. Heute betrachtete er zufrieden sein Werk. Nicht, dass er seine Frau übertroffen hätte, aber dafür, dass er Weihnachtskitsch verachtete, war ihm das Baumschmücken gut gelungen, lobte er sich.
Nun noch Heiliger Abend, siebzehn Uhr: draußen tiefe Dunkelheit um den Einödhof herum. Kerzen am Baum anzünden - echte! Beleuchtung Krippe einschalten. Restliche Beleuchtung ausmachen.
Und nun? Es drängten sich Verse auf die Lippen, die er als Kind hatte aufsagen müssen. Er begann aus der Heiligen Nacht von Ludwig Thoma zu zitieren: »Und ko ma koa Bettstatt ...«
Es läutete Sturm, einmal, zweimal, dreimal.
Lado rührte sich nicht, gefangen saß er in der Erinnerung an vergangene Christabende.
Pochen an die Tür, Frauenschreie: »Hallo, ist hier jemand. Ich sehe doch Licht!«
Lado verließ die Vergangenheit und ging wütend zur Tür. Draußen stand eine Dame, im wahrsten Sinne des Wortes: hochgewachsen, festliches Goldhaar, edle Gesichtszüge mit Mona-Lisa- Lächeln. Sie strahlte Herzenswärme aus und Selbstbewusstsein. Ganz das Gegenteil von seiner Frau.
»Was wollen Sie!«
»Sie?! Na, du bist komisch.«
»Wer sind Sie?«
»Das fragst du? Wir kennen uns schon so lange und dann fragst du, wer ich bin!«
»Ich kenne Sie nicht!«
»Das war dein größter Fehler im Leben! Du kennst mich, hast mich aber immer übersehen.«
»Was wollen Sie?«
»Stell dich nicht so an, dummer Junge. Machen wir einfach, was zu tun ist!«
Sie stürmte an ihm vorbei ins Wohnzimmer, legte ihren Pelzmantel ab und warf ihn über ein Sofa. Sie stellte sich vor den Christbaum und begann: »A Wiagn passat freili …«
Nach einer kurzen Zeit der Verblüffung fiel Lado ein und sie sagten beide das Gedicht auf, als hätten sie es tagelang geübt. Anschließend sangen sie die üblichen Lieder, bis die Wachskerzen niedergebrannt waren.
Dann eilte die Dame in ihrem langhellblauen Ballkleid in die Küche und hantierte dort herum, als lebte sie schon seit Jahren hier.
Das Abendessen verlief wie in einem Zauber: Während er den Eindruck hatte, dass dieses Fest wie die früheren ablief, war ihm bewusst, dass er mit dieser Frau eine Art Kennenlern-Kommunikation führte. Wo geboren, studiert, gelebt? Gemeinsame Bekannte, Reisen nach. Die Fremde wurde ihm langsam vertrauter. Nach Mitternacht fing die Frau an, von ihrer Liebe zu ihm, von dem Verlangen, bei ihm, dem weltberühmten Maler, zu sein. Sie schilderte, was sie alles für ihn machen würde, sie wolle endlich zu ihm kommen. Sie entfesselte ein Wortpandämonium der Liebe einer Frau zu einem Mann.
Atemlos hörte er ihr zu: »Ich kenne Sie doch gar nicht«, beteuerte er der Dame, leistete aber keinen Widerstand, als sie ihn ins Schlafzimmer führte.
Wie ein weihnachtlicher Liebesakt auszusehen hat, war Lado nicht klar. Aber was er mit dieser unbekannten Besucherin viele Stunden erlebt hatte, das fiel sicher nicht darunter.
So um elf Uhr am ersten Weihnachtstag weckten lautes Reden und Rufen den Maler.
»Da bist du, du Faulpelz. Fröhliche Weihnachten, Papi!«, rief seine jüngste Tochter und küsste ihn. Die anderen Kinder und ihre Partner drängten ins Schlafzimmer. Sie begrüßten und küssten ihn ebenfalls.
Noch trunken von der nächtlichen Besucherin fragte Lado: »Wo ist sie?«
»Wir sollen dich von ihr schön grüßen. Die Krise ist überstanden. Mutti wird in einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen. Freust du dich nicht?«
»Aber sie ist doch schon tot«, wandte er ein.
»Aber Papi«, erklärte die ältere Tochter, »wir waren doch gestern bei ihr. Sie lebt! Was hast du nur?«
»Ihr habt keine fremde Frau im Haus gesehen?«
»Zu viel Rotwein gestern Abend getrunken?«, mokierte sich der Älteste. »Jetzt zieh dich an, wir fahren zum Mittagessen zum Schlemmerhof.«
Beim Anziehen entdeckte Lado unter einem Kopfkissen einen Ohrring. War er es oder war er es nicht? So einen hatte er doch seiner Frau zur Hochzeit geschenkt! Wie kam diese nächtliche Besucherin zu dem Schmuckstück?
Nach dem Weihnachtsessen besuchten sie seine Frau im Krankenhaus.
Als er kurze Zeit mit ihr allein war, fragte er sie: „Wo hast du den anderen Ohrring?“ Erschrocken tastete die Kranke die Ohren ab. „Da fehlt ja einer!“, rief sie entsetzt aus.
„Was fehlt?“, wollte die Tochter wissen, die gerade das Zimmer betrat.
„Ein Ohrring, das Hochzeitsgeschenk von Vati!“ Unsicher starrte der Maler auf seine Frau.
„Du hattest gestern doch noch beide an!“, beteuerte die Tochter. „Wir hatten doch darüber gesprochen, dass sie schön sind wie am ersten Tag!“
„Richtig, gestern waren beide da!“, bestätigte die Mutter. Eine Suche nach dem verlorenen Ohrring brachte kein Ergebnis.
Eine innere Stimme warnte den Mann, seinen gefundenen Ohrring, der vielleicht der Gesuchte war, hervorzukramen und zu zeigen. Peinliche Fragen waren zu erwarten! „Hast du am Weihnachtsabend deine kranke Frau betrogen?“ Etwas stimmte nicht.
Man hatte den Vater zum Einödhof zurückgefahren und sich verabschiedet, als ihn ein plötzlicher Gestaltungsdrang ins Atelier eilen ließ. In die Mitte einer riesigen Leinwand malte er in vielfacher Vergrößerung die Umrisse des Ohrrings, zerriss Familienfotos und klebte Teile wahllos auf die Leinwand. Dann zerfetzte er mehrere Geschichtsbücher und verteilte die Ausrisse über die gesamte Fläche. Er färbte die Fetzen so ein, dass die Elemente fließend ineinander übergingen, ohne dass die Erkennbarkeit des Einzelstücks gemildert wurde.
Die Babyfotos der Töchter fanden Platz neben dem brennenden Reichstag, aus Farbwolken schimmerten die Gesichter berühmter Männer von Christus bis Christo, schattenhaft erkannte man Szenen wichtiger politischer Ereignisse wie den Fall der Mauer. Dazwischen blinkten, elektronisch gesteuert, berühmte Sinnsprüche auf: Ich liebe doch alle Menschen! Und durchsetzt war dieses Sammelsurium von dem Porträt seiner Frau, das im Hintergrund ganz zart und verschwommen in der Tropfenform des Ohrrings zu entdecken war.
An Silvester kam seine Frau nach Hause und fand einen veränderten Mann vor. Er begegnete ihr liebevoll, hilfsbereit und fürsorglich, litt er doch darunter, dass er sie so lange für tot gehalten hatte. Und dann erst wegen der Weihnachtsnacht.
Die Familie und die Nachbarn begrüßten die Frau mit einem Willkommensfest. Große Bewunderung zollten sie dem Bild des Malers, das er seiner Frau schenkte: „Ein Meisterwerk!«
Als sie um Mitternacht auf das neue Jahr anstießen, sagte Lado zu seiner Frau: „Merkwürdig war das mit dem Ohrring.“
»Ach«, antwortete sie,«man muss nicht alles wissen.«