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Die Erprobung
Ich sah Gustav auf halbem Weg in die Stadt im Scheinwerferlicht meines Wagens. Im ersten Moment wollte ich weiterfahren, doch dann tat er mir leid. Es war kalt. Der Wind warf den Regen gegen meine Scheibe und ich wusste nur zu gut: Wir hatten dasselbe Ziel.
Ich bremste also. Im Spiegel sah ich ihn heranhumpeln. Ich ließ ich das Fenster hinunter: „Willst du mit?“
Erst jetzt drehte er sich in meine Richtung. Vielleicht wäre er einfach vorbeigegangen, wenn ich ihn nicht angesprochen hätte?
„Ich muss zum Kramer. Kannst du mich dort absetzen?“ Die wenigen Haare klebten ihm am Kopf. Der Regen tropfte von der Nase.
„Ja, ich fahr auch dorthin. Komm, setz dich rein!“ Ich stieß die Beifahrertür auf.
Sofort stieg mir ein modderiger Geruch in die Nase. Ich wusste, dass er etwa zwei Kilometer von hier in einem aufgelassenen Kühllager hauste. Früher war er mit einem Schäferhund herumgezogen. Doch in letzter Zeit sah man ihn immer nur allein.
„Das ist ja ein Wetter, was?“, sagte ich. Er schwieg.
„Da ist es hier im Auto schon besser …“, versuchte ich es noch einmal. Er brummte etwas, doch sein Blick blieb auf die Windschutzscheibe gerichtet. Schließlich stellte ich das Radio lauter.
Wir passierten den Lengenberger See. Er lag da wie ein dunkles Loch. Ich sah, wie der Wind die Haselnuss-Sträucher am Straßenrand bog.
Dann kam mir Erika in den Sinn. Ich dachte an ihr besorgtes Gesicht, als ich weggefahren war.
„Vertrau mir! Ich hab‘ es jetzt im Griff“, hatte ich zu ihr gesagt und hoffte, dass es wirklich so war, jetzt, wo alles wieder besser lief, bei mir – und auch zwischen uns beiden.
Am Parkplatz hatte ich freie Auswahl. Sobald die Räder zum Stillstand gekommen waren, riss Gustav die Tür auf und eilte davon. Im Licht der Straßenlaterne bemerkte ich die Abdrücke der durchnässten Kleidung am Beifahrersitz und fragte mich, was Erika dazu sagen wird.
Wie immer um diese Zeit war das Licht nur an der Theke an. Ich nickte Eddy am Zapfhahn zu. Aus den Lautsprechern drang I Love Rock 'n Roll von Joan Jett.
Etwas weiter vorne sah ich Walter an der Bar sitzen. Er unterhielt sich mit einem Mann, den ich kaum kannte. Ich wusste, dass er Klaus hieß. Die an der Stirn schon schütter werdenden Haare hatte er hinten zu einem Zopf zusammengebunden.
Ich setzte mich auf einen der Hocker neben die beiden. Walter blickte kurz über die Schulter zu mir herüber und wischte sich dabei mit dem Handrücken den Bierschaum vom Schnurrbart. Dann wandte er sich wieder Klaus zu.
Wenn ich es recht verstand, diskutierten die beiden über Rasenmähtraktoren. Gustav entdeckte ich im Halbdunkeln allein an einem der hinteren Tische. Sonst sah ich niemanden: Für Nachtschwärmer war es noch zu früh.
Nach einer Weile drehte sich Walter zu mir um: „Na, dich hab‘ ich hier aber schon lange nicht mehr gesehen.“ Er deutete auf mein Glas: „Und dann bist du gleich auf Diät? So kenn‘ ich dich gar nicht.“ Die beiden lachten. Ich nippte von meiner Cola.
„Hast du den alten Gustav mitgenommen?“, fragte er dann.
Ich nickte: „Beim Lengenberger See hätte ihn sonst der Wind geholt.“
Walter winkte dem Kellner und bestellte ein großes Bier, das er an Gustavs Tisch bringen ließ.
„Ich glaube, bei dem Wetter macht ihm sein Bein ziemlich zu schaffen“, sagte er und hob sein Glas in Gustavs Richtung.
„Was ist eigentlich damit geschehen?“, fragte Klaus.
„Was? Das weißt du nicht? Mit Gustav war in seiner Jugend nicht gut Kirschenessen. Da hat schon ein falsches Wort gereicht und er ist auf dich losgegangen!“
Klaus hob die Augenbrauen: „Ach, ja?“
Walter nickte: „Ja. Gustav hatte zeitweise sogar Hausverbot hier.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Kellners, der weiter vorne Flaschen in den Schubladenkühler einräumte: „Frag Eddy!“
„Und, wie ist das mit dem Bein passiert?“
„Na ja, das ist schon ein paar Jahre her. Da ist ihm hier ein Stehtisch raufgekracht.“
Walter strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnauzer.
„Also damals sind gleich zwei auf ihn los. Ein Dicker und so ein Langer. Dem Langen hat Gustav einfach eine mitgegeben. Der ist hingefallen wie ein Sack Mehl.“ Er deutete mit dem Daumen auf einen Barhocker in der Nähe des Eingangs: „Dort drüben war das“, sagte er und sah mich an.
Ich hob die Schultern: „Ich weiß nicht. Ich kenne die Geschichte nur von Erzählungen.“
„Ach so? Na, ich war dabei, ich hab‘ alles selbst gesehen.“ Er lehnte sich zurück.
„Jedenfalls, nach dem Langen ist der Dicke gekommen. Der hat Gustav von hinten am Kragen gepackt und auf den Boden gerissen.“
Er griff nach dem Bier. Ich konnte ihn schlucken hören. Dann stellte er das leere Glas vor sich auf den Tresen.
„Alle drei liegen also am Boden …“ Ich betrachtete sein Glas. Ein bisschen Schaum lief langsam auf der Glasinnenseite nach unten.
"Gustav hat sich gewehrt, geschlagen und um sich getreten wie verrückt …“
Plötzlich hatte ich den Geschmack, diesen kühlen, herben Geschmack, auf meiner Zunge und schluckte.
„Hocker sind geflogen, Gläser runtergefallen. Das war ein Durcheinander, so etwas hab‘ ich hier nie wieder erlebt …“ Ich bemühte mich, Walter anzusehen.
„Irgendwann ist dann ein Stehtisch, so ein hoher mit nur einem Bein, umgekippt und auf Gustav raufgekracht. Gustav hat sofort gebrüllt: ‚Ihr Hunde! Jetzt bring ich euch um!‘“ Walter lachte: „Die beiden, der Lange und der Dicke, waren so schnell raus da bei der Tür, das kannst du dir nicht vorstellen!“
„Und Gustav?“, fragte Klaus.
„Wir mussten die Rettung rufen. Der konnte nicht mal mehr stehen. Kniescheibe gebrochen. Seitdem humpelt er.“
Walter hob sein Glas und winkte damit Eddy: „Es gibt viele solche Geschichten über ihn. Er hat getrunken und gefeiert. Und er hat sich oft geprügelt!“
„Ein richtig wilder Hund!“, sagte Klaus.
Walter nickte bedächtig: „Ja, das kannste wohl sagen!“
Er reichte Eddy sein Glas und Klaus bestellte gleich mit.
„Jedenfalls hat er sein Leben gelebt, soviel ist sicher!“, sagte er dann und sah nun, wie auch Klaus, zu Gustav hinüber. Ich betrachtete zuerst die beiden, dann folgte ich ihren Blicken.
In diesem Moment kam mir jedoch ein anderes Bild vor Augen: Ich sah Klaus auf einem dieser Rasenmähtraktoren in einem Garten herumfahren. Walter lehnte am Zaun. Doch der Garten war winzig und Klaus mühte sich ab. Er kurbelte am Lenkrad, setzte vor und wieder zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nach getaner Arbeit stellte er den Motor ab und Walter reichte ihm ein Bier über den Zaun. „Toll, wie du das gemacht hast, du wilder Hund!“, sagte er und die beiden fuhren mit den Flaschen zusammen.
Wieder in Kramers Bar sah ich Eddy mit zwei vollen Gläsern herankommen. Er stellte sie vor Klaus und Walter auf den Tresen.
Klaus deutete zu Gustav hinüber: „Bring ihm auch noch eines. Geht auf meine Rechnung.“ Eddy nickte und verschwand in Richtung Zapfhahn.
Ich trank den letzten Rest meines Getränks und die abscheuliche Süße lag mir wie ein Stein auf der Zunge.
Dann sah ich, wie die beiden Gustav zu prosteten. Ich zog mein Portemonnaie aus der Tasche und legte einen Fünf-Euro-Schein neben mein Glas. Dann ging ich, ohne mich groß zu verabschieden. Mit dem nächsten Besuch hier würde ich es nicht eilig haben.