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Die Erpressung
Als Julia die Schülerbücherei betrat, war ihr Mund trocken. Ihr Magen fühlte sich an wie ein heißer Klumpen, der ihre Nervosität und ihre Anspannung in körperliche Schmerzen umwandelte.
Sie wusste, wie viel von diesem Termin abhing. Möglicherweise nicht weniger als ihre Zukunft.
Wie vereinbart ging sie in den hinteren Teil der Bücherei. Herr Seidel saß an einem der kleinen runden Tische und blätterte in einem Heft, das vor ihm lag. Als Julia an den Tisch trat, sah er auf.
„Julia“, sagte er mit einem Lächeln. „Guten Morgen. Nehmen Sie doch bitte Platz.“
Julia nickte und setzte sich ihrem Tutor gegenüber.
„Sehen Sie, wie ich Ihnen gesagt habe. Morgens um halb acht ist hier noch kein Mensch. Es ist der ideale Ort für unsere kleine Unterhaltung, viel entspannter und ungezwungener als das Lehrerzimmer. Finden Sie nicht auch?“
Julia nickte. „Stimmt“, sagte sie, doch es klang wie ein trockenes Krächzen. Sie räusperte sich.
„Wissen Sie, weshalb ich Sie herbestellt habe, Julia?“, begann Herr Seidel. Er lächelte noch immer und blickte ihr in die Augen. Er war einer jener Mittvierziger, denen das Alter nicht zusetzte, sondern stattdessen attraktiver machte.
„Ich denke, es geht um meine Mathearbeit“, antwortete Julia zögerlich.
Herr Seidel nickte. „So ist es. Wir haben hier ein – wie ich es nenne – kleines Dilemma.“ Er musste ihre Sorge aus ihrem Gesicht gelesen haben, denn er versuchte, sie durch ein kurzes Lachen aufzumuntern. „Machen Sie sich keine Gedanken. Es ist nichts, was sich nicht wieder hinbiegen ließe.“
Julia entspannte sich tatsächlich ein wenig. Herr Seidels gewohnt charmante und höfliche Art wirkte beruhigend.
„Sehen Sie, ich halte Sie für eine talentierte junge Frau. Sie sind aufgeschlossen und intelligent. Die Mathematik ist vielleicht nicht Ihre große Stärke, aber schließlich haben wir alle unsere Schwächen, nicht wahr?“
Julia nickte.
„Ich weiß auch, dass Ihre Situation nicht einfach ist. Sie machen die 12. Klasse nun schon zum zweiten Mal, und es gibt sicher angenehmere Dinge. Man kommt in ein neues Umfeld, ist vielleicht etwas älter, man hat viele Dinge schon gehört und langweilt sich manchmal. Und insbesondere kurz vor dem Abitur möchte man in der Regel die Schule so schnell wie möglich beenden, anstatt noch ein Jahr dran zu hängen, stimmts?“
Seine treffende Beschreibung ihrer Situation und seine Rückfragen wirkten zusätzlich entspannend. Er war wirklich ein toller Lehrer.
„Jedenfalls, Julia, habe ich Ihre letzte Arbeit angesehen.“ Er blickte sie an, und sein Lächeln verblasste ein wenig. „Ich muss Ihnen leider sagen, dass ich sie mit vier Punkten bewerten muss.“
Julias Herz machte einen Sprung. Sie sackte zusammen. „Vier Punkte nur?“
Herr Seidel nickte. „Es tut mir Leid. Sie wissen, was das bedeutet. Um auf eine Endnote von fünf Punkten zu kommen, hätten Sie in dieser Arbeit mindestens sieben schreiben müssen.“
Julia spürte einen Kloß in ihrem Hals. Hoffentlich fange ich nicht an zu weinen, schoss es ihr durch den Kopf.
„Das bedeutet, ich müsste Ihnen eigentlich vier Punkte im Zeugnis geben. Und das wiederum heißt, Sie erreichen das Klassenziel nicht. Zum zweiten Mal.“ Jetzt hatte sein Blick etwas Trauriges.
Julia nickte. Klassenziel nicht erreicht. Das war das Schlimmste, was passieren konnte. Der absolute Super-GAU. Da sie es zum zweiten Mal nicht geschafft hatte, würde man sie von der Schule werfen.
„Mir tut das sehr Leid, Julia, weil ich wie gesagt viel von Ihnen halte. Und es widerstrebt mir, Ihnen die Aussicht auf das Abitur wegen einer Arbeit zu verbauen. Ich bin sehr daran interessiert, dass wir hier eine andere Lösung finden.“
„Ich auch“, sagte Julia mit schwacher Stimme.
Herr Seidel setzte wieder sein charmantes Lächeln auf. „Das freut mich. Ich bin mir sicher, Sie wissen, wie wichtig das Abitur heutzutage ist. Als ehrgeizige junge Frau können sie seine Bedeutung für Ihre Zukunft bestimmt richtig einschätzen“ Sein Lächeln schien sich leicht zu verändern, doch Julia konnte nicht sagen, inwiefern. Ihre Anspannung nahm jedoch wieder zu. Er blickte sie erwartungsvoll an.
„Und was kann ich tun?“, fragte sie schließlich. „Soll ich ein Referat halten?“
Er lachte kurz, aber es klang nicht mehr freundlich. Eher höhnisch. Der Umschwung geschah plötzlich und unerwartet, wie bei einem Hund, der erst freundlich gespielt, dann aber böse zu knurren begonnen hatte.
„Nein, nichts dergleichen. Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun können, damit Sie am Ende Ihre fünf Punkte bekommen. Hören Sie genau zu, denn ich sage es nur einmal.“
Sie wusste, es konnte nichts Gutes kommen, noch bevor er es ausgesprochen hatte. Ihr Magen begann wieder zu schmerzen, und einen Moment hatte sie Angst, sich übergeben zu müssen.
Herr Seidel blickte ihr tief in die Augen. „Ich möchte, dass Sie mit mir schlafen.“
„Das hat er nicht wirklich gesagt!“
„Doch, genau das.“
Theresa starrte Julia zweifelnd an. Sie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Sie wirkte sprachlos.
„Was hast du gesagt?“, fragte sie schließlich.
Es war später Nachmittag, und sie saßen in einem Café. Theresa war die einzige Freundin aus Julias alter Klasse, zu der sie noch Kontakt hatte. Sie kannten sich seit zwei Jahren, als Theresa mit ihrer Familie hergezogen und in ihre Schule gekommen war. Da sie still und zurückhaltend war, hatte sie Schwierigkeiten gehabt, Anschluss zu finden. Vielleicht hatten sie sich deshalb angefreundet. Auch Julia war nie beliebt gewesen in ihrer alten Klasse.
„Ich habe ihn gefragt, ob das ein Scherz sein sollte. Aber ich habs an seinen Augen gesehen, dass es keiner war. Dieses miese Schwein.“ Julia spürte, wie Tränen in ihre Augen schossen. Sie fühlte sich allein durch das Angebot unangenehm berührt, beinahe missbraucht.
Theresa zündete sich eine Zigarette an. Die beiden Mädchen schwiegen einen Augenblick. Dies war eine der Eigenschaften, die Julia an Theresa schätzte: Sie musste nicht ununterbrochen reden.
„Dabei dachte ich immer, er ist einer von den Netten“, sagte Julia. „Er war immer höflich. Lustig.“
„Ich hab dir schon immer gesagt, dass mit dem Typ was nicht stimmt. Ich hab ihm das von Anfang an angesehen.“
Julia nickte. Theresa war eine der wenigen – wenn nicht die Einzige – gewesen, die Herrn Seidel nie leiden konnte.
„Sieht so aus, als hättest du Recht gehabt.“
Theresa beugte sich vor. „Glaub mir, Julia, du darfst niemandem vertrauen. Besonders nicht denen, die immer lustig und nett tun. Das sind die Schlimmsten. Vor denen musst du dich am Meisten in Acht nehmen. Ist leider so auf dieser Welt.“
Auch wenn Julia die Intelligenz und scharfsinnigen Beobachtungen Theresas bewunderte, wollte sie deren pessimistische Grundeinstellung nicht teilen. Dennoch musste sie sich gegen ihre innere Überzeugung eingestehen, dass Theresa damit leider viel zu oft richtig lag.
Während sie noch über die Worte nachdachte, fragte Theresa: „Und was hast du jetzt vor?“
„Keine Ahnung. Er will bis morgen eine Entscheidung. Nächste Woche gibt er die Klausuren zurück, und dann entscheidet sich, ob ich vier oder sieben Punkte bekomme. So eine Scheiße. Am Besten ich vergess das alles.“
Theresa zog die Augenbrauen hoch. „Und was dann? Von der Schule fliegen?“
„Sieht so aus. Oder hast du eine bessere Idee?“
„Du könntest über sein Angebot nachdenken.“
Julia starrte ihre Freundin an und unterdrückte einen Widerspruch. In den letzten Wochen hatte sie sehr wenig Kontakt zu Theresa gehabt, und dass sie sich heute mit ihr traf und von Herrn Seidels „Angebot“ erzählte, geschah auch in der Hoffnung, einen Ratschlag von ihr zu bekommen. Vielleicht würde sie genau den jetzt erhalten.
„Wie meinst du das? Ich soll mit ihm ins Bett oder wie?“
„Nein, so einfach sollten wir es ihm nicht machen.“ Sie zog an ihrer Zigarette und blickte Julia tief in die Augen. „Er meint, er hätte dich vor eine Wahl gestellt, bei der er als Gewinner hervorgeht. Er nutzt deine Lage aus und denkt, dich so unter Druck setzen zu können. Aber er spielt ein gefährliches Spiel, denn selten sind die Dinge so, wie sie scheinen.“
Julia hatte keine Ahnung, wovon Theresa sprach.
„Er übersieht, dass er dich nicht vor eine Entweder-Oder Wahl gestellt hat. Es gibt eine Möglichkeit, bei der du am Besten wegkommst. Du bekommst die bessere Note und musst nicht mit ihm ins Bett.“
„Wie meinst du das?“
„Pass auf“, begann Theresa und erzählte Julia von ihrer Idee.
Als Julia aus dem Wagen ihrer Mutter stieg, nieselte es leicht. Die Gegend war ihr unbekannt, und sie war froh, dass sie schnell hergefunden hatte. Trotz ihrer Anspannung. Trotz ihrer Angst.
Sie konnte kaum fassen, dass Theresa sie zu ihrer aberwitzigen Idee überreden konnte. Sie waren den gesamten Plan etliche Male durchgegangen, und irgendwann hatte er plausibel geklungen. Danach einfach, und irgendwann verführerisch. Eigentlich konnte nichts schief gehen.
Sie klappte ihr Handy auf und wählte wie abgesprochen Theresas Nummer. Diese nahm sofort ab.
„Ich bin jetzt vor seinem Haus“, flüsterte Julia, obwohl die Straße menschenleer war. Doch es dämmerte bereits, und sie konnte nicht hinter jedes Fenster sehen. Vielleicht beobachtete sie jemand.
„Gut. Bleib ganz ruhig, und mach es so, wie wir abgesprochen haben. Das ist ganz wichtig, ruhig bleiben.“
„Alles klar“, sagte Julia und legte das Handy in ihre Handtasche, ohne aufzulegen. Theresas erster Plan hatte ein Tonbandgerät vorgesehen, doch das war zu gefährlich. Ein Tonbandgerät konnte ihr entrissen werden. Ein aufgezeichnetes Telefonat hingegen war unerreichbar für Herrn Seidel. Sie ließ die Handtasche offen und hoffte, es würde ihm nicht auffallen. Er durfte das Handy auf keinen Fall zu früh entdecken.
Julia ging den kurzen Weg zum Eingang des Hauses entlang und klingelte, wie sie es mit Herrn Seidel an diesem Morgen in der Pause besprochen hatte. Als sie ihm gesagt hatte, dass sie auf sein Angebot eingehen wolle, war seine einzige Reaktion ein Nicken und ein verächtliches Grinsen gewesen. Hab ich mir gleich gedacht, du Schlampe, schien dieses Grinsen zu sagen.
Wie hatte sie sich all die Zeit nur so in ihm täuschen können?
Er öffnete schnell, zu schnell. Julia erschrak und fragte sich, ob er hinter einem Fenster gelauert hatte. Scheiße, hat er gesehen, dass ich telefoniert habe? Hat er das gesehen? Ich hätte im Auto bleiben sollen, ich hätte –
„Guten Abend, Julia“, sagte er, als sei sie zu einem spontanen Besuch vorbeigekommen.
„Guten Abend, Herr Seidel.“
„Ich freue mich, dass du vorbeikommst.“ Als ob es ein Zufall wäre. „Komm herein.“
Julia folgte ihm in den Flur. Ihre Knie zitterten. Warte, bis er etwas Eindeutiges gesagt hat, waren Theresas Worte gewesen. Es darf kein Zweifel daran geben, was er von dir will. Sonst steht Aussage gegen Aussage, und es war alles umsonst.
Nur was war eindeutig genug? Dass er Du zu ihr sagte? Sicher nicht.
Herr Seidel führte Julia in sein Wohnzimmer.
„Nimm doch bitte Platz.“ Er wies auf seine Couch. „Möchtest du etwas trinken?“
Sie schüttelte den Kopf und bereute es sofort. Wirkte das verdächtig?
„Du scheinst nervös zu sein“, sagte er und lächelte sie an. Bestimmt konnte er aus ihrem Gesicht lesen wie aus einem offenen Buch. Ihr Mund, ihre Augen, ihre verkrampfte Haltung, alles an ihr musste sie zu verraten.
„Wundert Sie das etwa?“, fragte sie. Sag etwas Eindeutiges. Mach schon, verrate dich.
„In gewisser Weise schon, ja. Ich bin etwas überrascht.“
Er lächelte weiter und schien auf eine Antwort zu warten, die aber nicht kam.
„Setz dich, bitte“, sagte er mit Nachdruck und drückte sie beinahe auf die Couch. Er griff nach ihrer Handtasche, die sie verkrampft in beiden Händen hielt. „Die kannst du mir geben.“
Julias Herz blieb für einen Moment stehen, als er ihr die halb geöffnete Tasche aus der Hand zog. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie er hineingriff, das Handy herauszog und ausschaltete. Dann würde sich sein Lächeln in ein diabolisches Grinsen verwandeln, und sie wäre ihm ausgeliefert.
Doch er stellte die Tasche lediglich auf einen kleinen Beistelltisch und setzte sich neben sie.
Ist die zu weit weg? Kann Theresa uns noch verstehen?
Panik stieg wie ein Heißluftballon langsam in ihr hoch. Sie wusste, es würde schlimm werden, doch so etwas hatte sie nicht erwartet. Sie musste dem Drang widerstehen, aus diesem verfluchten Haus zu rennen.
„Wo sind Ihre Frau und Ihre Kinder?“, fragte sie mit schwacher Stimme, um das unheimliche Schweigen zwischen ihnen zu beenden.
„Sie sind heute Abend nicht da. Hättest du sie gerne kennengelernt?“
Verrate dich. Komm schon, verrate dich endlich.
„Ich weiß nicht. Wäre heute vielleicht nicht so gut gewesen, oder?“
„Es kommt, wie es kommt“, antwortete er ausweichend mit einem Achselzucken.
Das macht er absichtlich, er weiß, dass ich das Handy in der Tasche habe, er weiß, dass Theresa alles hört, er weiß alles und ich bin ihm in die Falle gegangen -
Dann lachte er. „Entspann dich doch. Du fällst mir ja gleich von der Couch.“
Julia kicherte nervös und blickte zu ihrer Handtasche. Sie hörte jeden Schlag ihres pochenden Herzens als dumpfes Hämmern in ihrem Kopf.
„Haben Sie das schon öfter gemacht?“ Theresa hatte ihr gesagt, sie solle diese Frage stellen.
„Würde das einen Unterschied für dich machen?“
Sie rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. Ihre Nervosität musste ihm einfach verdächtig vorkommen. „Ich weiß nicht. Ich bin vielleicht – einfach nur neugierig.“
Sein Mund war noch immer zu einem Grinsen verzogen, doch sein Blick war abschätzig. „Was denkst du denn?“
Julia zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung.“
War das genug? Reichte das?
Sie schwiegen wieder. Herr Seidel betrachtete Julia von der Seite, sie fühlte seinen Blick wie eine schwere Last auf ihrem Körper.
Schließlich fiel ihr ein, wie er sich verraten konnte. „Ich wundere mich, dass wir uns hier treffen“, sagte sie. „Ich hätte gedacht, dass wir uns an einem ... neutraleren Ort treffen. Einem Hotel oder so.“
„Du machst dir zu viele Gedanken, Julia. Ich habe nichts zu verbergen.“ Er lachte erneut. „Die meisten dieser kleinen Rendezvous fliegen auf, weil man sie unbedingt geheim halten will. Ich aber gehe immer in die Offensive. Das kannst du dir merken.“
Das reicht!
Julia sprang auf.
„Was machst du -“, begann Herr Seidel und stand selbst halb auf. Sie schnappte sich ihre Handtasche und zog das Handy daraus hervor.
„Hast du alles?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete Theresa.
„Danke“, sagte Julia und legte auf. Sie blickte zu Herrn Seidel, der wie zu Stein erstarrt vor seinem Sofa stand und sie mit fragendem Gesicht anblickte. Endlich war dieses Grinsen daraus verschwunden.
„Ich habe das Gespräch aufgezeichnet“, sagte Julia und hielt wie zum Beweis ihr Handy nach vorne. Ihre Hand zitterte stark, und sie zog sie schnell wieder zurück. Sie befürchtete, ihre Beine würden sie nicht mehr lange tragen.
„Aha. Und was hast du jetzt vor?“ Er klang nicht wütend, nicht einmal überrascht. Nur sehr ruhig, was ihr zusätzlich Angst machte.
„Das werden wir ja sehen. Ich -“ Ihr waren die Worte entfallen. Sie überlegte fieberhaft, was sie hatte sagen wollen, was sie mit Theresa besprochen hatte, doch es fiel ihr nicht ein.
Herr Seidel kam langsam auf sie zu.
„Keine Bewegung“, kreischte Julia mit schriller Stimme. „Bleiben Sie, wo Sie sind.“
„Ganz ruhig, Mädchen. Nicht ausflippen.“
Julia spürte, dass ihr die Situation zu entgleisen drohte. Sie hatte aufgelegt, das bedeutete, Theresa bekam von dieser Unterhaltung nichts mehr mit.
Sie musste hier raus. Schnell.
„Ich gehe jetzt“, sagte sie und bewegte sich langsam rückwärts. „Bleiben Sie, wo Sie sind, bis ich aus dem Haus raus bin.“
„Du machst einen Fehler. Ich hoffe, das ist dir klar.“
„Bleiben Sie, wo Sie sind!“
„Schau dich doch an. Du bist blass wie ein Gespenst und zitterst am ganzen Körper. Bist du dir sicher, dass du das Richtige tust?“
„Wenn Sie noch einen Schritt nach vorne machen, ruf ich die Polizei“, schrie Julia. Die Panik hatte inzwischen beinahe die Oberfläche ihres Bewusstseins erreicht. Sie war kurz vor einer Ohnmacht.
Ihre letzten Worte – oder ihr Geschrei – schienen zu wirken. Herr Seidel blieb stehen.
„Bewegen Sie sich nicht“, sagte Julia ein letztes Mal und drehte sich um. Einen schrecklichen Moment befürchtete sie, er würde sich von hinten auf sie stürzen. Lass ihn niemals aus den Augen, waren Theresas Worte gewesen. Wenn du solche Typen in die Enge treibst, werden sie unberechenbar.
Vielleicht stimmte das, aber Julia ließ es darauf ankommen.
Herr Seidel schien auf sie zu hören, denn er sprang sie nicht an. Sie hörte ihn auch nicht mehr, weder irgendeine Bewegung noch seine Stimme.
Julia verließ das Haus und rannte zum Auto. Sie war noch nie so froh gewesen, darin zu sitzen und wegfahren zu können.
Eine halbe Stunde später saß sie bei Theresa in deren Zimmer und trank ein Glas Wein. Das Zittern hatte inzwischen aufgehört, doch sie fühlte sich unendlich schwach.
Sie hatten das Band nun dreimal angehört. Die Worte waren zwar leise und mit einem deutlichen Rauschen hinterlegt, nichtsdestotrotz aber gut zu verstehen.
„Was meinst du?“, fragte Julia. „Ist das genug?“
Theresa nickte. „Ich finde, du hättest ihn eindeutiger festnageln können. Aber es ist egal, was ich denke. Entscheidend wird sein, was er denkt.“
Julia legte beide Hände vor ihr Gesicht. „Oh Mann“, flüsterte sie. „Das war verrückt. Wir hätten das bleiben lassen sollen. Du hättest ihn mal sehen sollen, als ich das Handy aus der Tasche geholt hab. Wie er mich angesehen hat. Wie ein Psychopath. Mit dem Typen stimmt wirklich was nicht.“
„Das hab ich dir ja gesagt. Und jetzt musst du zu ihm gehen und ihm sagen, dass du deine fünf Punkte im Zeugnis haben willst. Oder besser noch sechs oder sieben. Mit dieser Aufnahme haben wir ihn jetzt in der Hand. Ist dir das klar?“
Julia nippte an ihrem Wein und nickte. „Ja. Aber mir ist nicht wohl dabei.“
„Du musst das jetzt durchziehen. Es kann nichts passieren. Er wird dir nichts tun, weil er weiß, dass es jemanden gibt, der Bescheid weiß. Er gehört jetzt uns, Julia. Wir können ihn fertig machen.“
Trotz ihrer Aufregung und eines leichten Schwindelgefühls – vermutlich hervorgerufen durch den Wein – spürte Julia die Verbissenheit, die von Theresa ausging. Sie fragte sich, warum sie so hasserfüllt war.
„Wir können ihn fertig machen“, wiederholte Theresa und nahm einen Schluck Wein.
Am nächsten Tag – einem Freitag – hatte Julia nur drei Stunden Unterricht, keine davon bei Herrn Seidel. Sie wäre trotzdem um ein Haar zu Hause geblieben. Sie wusste nicht, ob sie es ertragen konnte, ihm im Schulhaus zu begegnen. Doch Theresa hatte sie gedrängt zu gehen. Sie hatte darauf bestanden, den begonnen Plan jetzt auch zu Ende zu führen, und das bedeutete, Julia musste ein weiteres Mal mit Herrn Seidel sprechen.
Sie hatte überlegt, wie sie es anstellen sollte, ihn zu finden, doch dieses Problem löste sich von selbst – er fand sie. Als sie zu Beginn der Pause auf dem Weg in den Hof war, passte er sie auf dem Flur ab und ging mit ihr in einen kleinen Besprechungsraum. Er schloss die Tür von innen ab.
„Setzen Sie sich, Julia“, sagte er und nahm gegenüber Platz. „Wir müssen reden.“
Wieder spürte Julia, wie ihr Herz zu rasen begann und Adrenalin in ihre Blutbahn gepumpt wurde. Sie hielt die Hände auf ihrem Schoß verkrampft, weil sie nicht wollte, dass er das Zittern sah.
„Wie geht das jetzt weiter?“, fragte er ohne Umschweife.
„Ich will, dass Sie mir fünf Punkte geben.“
Er nickte. „Und ich will das Band. Haben Sie es?“
„Nicht hier. Aber Sie bekommen es.“
„Sie wissen, dass Sie sich auf dünnem Eis bewegen. Das ist Ihnen doch klar, oder? Erpressung ist kein Kavaliersdelikt.“
„Geben Sie mir einfach die Note, und die Sache ist erledigt.“ Plötzlich wurde es unangenehm heiß in dem Raum, und sie spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat.
„Das will ich hoffen. Für Sie und Ihren – Partner, oder wie ich ihn nennen soll.“
Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch und blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Sie konnte seinem Blick nicht standhalten, sah immer wieder auf die Hände in ihrem Schoß.
„Wer ist es?“
„Wer ist wer?“
„Ihr Partner. Wer hat das Gespräch aufgezeichnet?“
„Das sage ich nicht.“
„Ist es Theresa? Mit der hängen Sie doch immer zusammen.“
Julia versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch sie ließ den Blick sinken, was sie erst eine Sekunde zu spät bemerkte. Sie wusste, das würde sie verraten.
Und wenn schon, dachte sie sich. Er wird uns nichts tun.
„Ist das alles, was Sie wollen? Die bessere Note? Und danach ist die Sache vom Tisch?“
Julia nickte. „Ja.“ Sie wunderte sich, warum Herr Seidel dachte, dass sie noch mehr wollte.
„Gut. Dann haben wir einen Deal. Ich hoffe, dass Sie ihn einhalten. Für Sie und Ihren Partner.“
Er erhob sich und sperrte die Tür auf. Julia konnte kaum glauben, dass es das bereits war. Theresa hatte Recht gehabt. Herr Seidel hatte inzwischen mehr Angst vor ihr als sie vor ihm.
Als sie sich an ihm vorbei durch die offene Tür schieben wollte, hielt er sie zurück.
„Machen Sie keine Dummheiten, Julia.“
Sie blickte auf seine Hand, die ihren Arm umklammerte. „Lassen Sie mich bitte los.“
„Ich will nur, dass Sie wissen, dass ich nicht dumm bin. Also halten Sie mich nicht dafür.“
Julia schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen. Dann ließ er sie los, und sie entfernte sich mit schnellen Schritten.
Später an diesem Abend saß sie mit Theresa in ihrem Zimmer. Theresa hatte eine Kopie des Bandes mitgebracht.
„Ich hätte niemals gedacht, dass er so schnell nachgibt“, sagte Julia. „Er muss echt Angst gehabt haben.“
„Ich hab dir ja gesagt, wir haben ihn in der Hand.“
„Ja, aber er hat auch gesagt, dass Erpressung strafbar ist. Ich will nicht in Schwierigkeiten kommen wegen ihm.“
„Das wirst du auch nicht. Was soll er tun? Er kann nicht zur Polizei, weil ihn das verraten würde. Er versucht nur, dir Angst zu machen. Lass dich nicht darauf ein, denk nicht darüber nach. Vielmehr sollten wir darüber nachdenken, wie es jetzt weitergeht.“
„Das ist leicht. Er gibt uns nächste Wochen die Klausuren zurück. Danach gebe ich ihm das Band, und die Sache ist erledigt.“
Theresa schüttelte den Kopf. „So wird das sicher nicht laufen.“
„Warum nicht?“
„Was hast du denn dann gewonnen? Er kann dich trotzdem noch durchfallen lassen. Er ist Lehrer, denen fällt immer ein blöder Grund ein.“
Julia musste zugeben, dass dies ein gültiger Punkt war.
„Meinst du, ich soll warten, bis ich das Zeugnis habe?“
„Ich meine, du sollst schauen, dass du jetzt das Maximum von ihm bekommst. Wir haben ihn in der Hand, Julia. Ist dir eigentlich klar, was das bedeutet? Er wird tun, was wir von ihm wollen.“
„Ich werde bekommen, was ich von ihm will. Er hat es mir versprochen.“
„Aber sein Wort ist nichts wert. Vertraue niemandem, wie oft soll ich dir das sagen?“
Theresa zog Julias Telefon, das vor ihr auf dem Tisch stand, zu sich heran.
„Was machst du da?“, fragte Julia.
„Ruf ihn an. Jetzt gleich. Ruf ihn an und mach das Schwein fertig.“
Da war er wieder, der Tonfall voller Verbitterung und Hass. Dies war ein Zug, den Julia an Theresa noch nie bemerkt hatte – sie war zwar pessimistisch und sah im Menschen meist nur das Schlechte, doch Julia machte dafür Gründe in ihrer Vergangenheit verantwortlich, über die Theresa nicht sprechen wollte. Pure Bösartigkeit war ihr bis jetzt an ihr nicht aufgefallen, und sie fragte sich, ob das nicht auch einer der Gründe war, weshalb sie allen Menschen misstraute.
Sie fragte sich, wie gut sie Theresa wirklich kannte. Was bezweckte sie?
„Wie meinst du das?“
„Du kannst jetzt alles von ihm verlangen. Warum willst du es bei einer Note belassen?“
„Was meinst du?“
Theresa schüttelte den Kopf ob Julias Begriffsstutzigkeit. „Na was wohl? Geld zum Beispiel.“
Erst jetzt verstand Julia. „Niemals. Ich mach das nicht.“
„Hör zu, Julia, wir haben die ganze Nummer mit dem Band doch nicht nur wegen einer Note durchgezogen. Wenn wir das machen, dann machen wir es richtig. Wir pressen aus ihm raus, was wir kriegen können.“ Theresa wurde beinahe euphorisch. Auch das war ein neuer Zug an ihr.
„Mir ist das zu gefährlich. Ich will keine Schwierigkeiten.“
„In welche willst du kommen, in denen du nicht schon bist?“
Julia dachte nach. „Wir können das nicht tun. Es ist – es ist – nicht richtig“, beendete sie schließlich den Satz.
„Das hat ihn auch nicht gekümmert, als er dich für eine Note ins Bett kriegen wollte. Wenn du willst, ruf ich ihn an.“
Julia antwortete nicht.
„Hör zu, es ist unsere Chance. Es wird nicht viel sein, sagen wir 10.000 Euro. Das ist eine Summe, die er locker aufbringen kann. Und er kommt dabei verdammt gut weg. Normalerweise würden sie ihn für das, was er getan hat, von der Schule werfen.“
Julia gab weiterhin keine Antwort. Was Theresa sagte, klang plausibel und sehr einfach.
„Wann kommst du schnell wieder an 5.000 Euro?“ Es klang verlockend.
„Wie willst du es machen?“ Diese Frage war für Theresa das Zeichen, dass Julia nachgegeben hatte.
„Hör mir einfach zu.“ Sie suchte seine Nummer im Telefonbuch und wählte. Während es klingelte, aktivierte sie den Lautsprecher. „Du kannst mithören. Wir lassen ihn jetzt so richtig bluten.“
Julia hörte das Klingeln, und gerade als sie dachte, dass niemand mehr abnehmen würde, meldete er sich.
„Seidel.“
„Theresa Kramer hier. Sie wissen, warum ich anrufe.“
Stille. Dann: „Guten Abend, Frau Kramer. Einen Augenblick bitte.“ Stille. Dann wurde im Hintergrund eine Tür geschlossen, und Julia vermutete, er hatte eben einen Raum verlassen. Vermutlich den, in dem seine Frau saß.
„Was wollen Sie?“
„Zunächst einmal, Herr Seidel, wollen Sie etwas von uns. Nämlich ein Tonband. Ist das korrekt?“
„Das habe ich heute schon mit Julia besprochen. Wir waren uns einig.“
„Mag sein, dass Sie sich mit Julia einig waren. Aber mit mir waren Sie sich nicht einig.“
„Was wollen Sie?“, wiederholte er. Er klang genervt.
„Ich will 10.000 Euro für das Band.“
Stille. Dann: „So war das nicht abgemacht. Ich habe Julia extra gefragt, ob Sie -“
„Hören Sie doch endlich auf, über Julia zu sprechen. Sie hat eine Kopie des Bandes, und die hat einen Preis. Ich habe auch eine Kopie, und meine Kopie hat auch einen Preis. Haben Sie das verstanden?“
„Sie sind doch verrückt.“
„Glauben Sie, was Sie wollen. Wenn Ihnen das zu teuer ist, können wir gerne herausfinden, wie die Schulleitung auf das Band reagiert. Oder die Polizei. Oder Ihre Frau.“
Das saß. „Also gut. Aber ich will beide Kopien des Bandes.“
Julia fragte sich, ob er wirklich so dumm war zu glauben, dass sie nicht eine dritte, vierte oder zehnte Kopie haben könnten.
„Versprochen. Und Sie hören nie wieder von uns.“
„Und wann und wo wollen Sie das Geld?“
„Ich melde mich wieder bei Ihnen, dann besprechen wir die Details.“ Theresa legte auf.
Sie blickte Julia an. „Siehst du, wie ich gesagt habe. Es ist ein Kinderspiel.“
Julia war mehr als überrascht. Wieder hatte sie nicht gedacht, dass es so einfach laufen würde. So glatt.
„Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie.
„Das überlege ich mir noch. Wichtig ist, dass der Kerl für das bezahlt, was er dir angetan hat.“
Theresa meldete sich am Samstagnachmittag bei Julia und bestellte sie für den Abend zu sich nach Hause.
„Hast du mit ihm telefoniert?“, fragte Julia am Handy.
„Ja, ist alles klar. Ich erzähl dir heute Abend davon. Wir bekommen das Geld noch heute.“
Als Julia am frühen Abend bei Theresa klingelte, war es warm und trocken. Sie fragte sich, wie sie sich so schnell von einer durchschnittlichen – fast etwas zu stillen – Schülerin in eine Erpresserin hatte verwandeln können. In den letzten Tagen waren Dinge in ihrem Leben passiert, die sie nie für möglich gehalten hätte – doch am Meisten überraschte sie Theresas neue, aggressive Art. Vielleicht war es ein Fehler, sich zu sehr von ihr leiten zu lassen?
Theresa begrüßte ihre Freundin und führte sie in das Haus ihrer Eltern. Diese waren ausgegangen und würden erst am späten Abend zurückkommen.
„Bis dahin ist aber alles erledigt“, sagte Theresa, als sie gemeinsam in ihr Zimmer gingen. „Ich treffe mich mit ihm um kurz nach zehn an der alten Scheune. Er bringt mit das Geld in einem Umschlag, gibt es mir dort und verschwindet wieder.“
Julia starrte ihre Freundin mit offenem Mund an. „Heute Abend an der alten Scheune? Bist du verrückt?“
Bei der alten Scheune handelte es sich um eine heruntergekommene Holzhütte zwischen ihrem und dem Nachbardorf. Das nächste Haus war mindestens zehn Minuten entfernt.
„Das ist perfekt. Glaubst du, ich will, dass uns jemand sieht?“
„Was ist, wenn uns was passiert? Da draußen ist doch niemand, der uns helfen kann.“
„Uns muss auch niemand helfen. Du bleibst hier und wartest auf mich. So lange ich allein dort draußen bin, kann er mir nichts tun. So einfach ist das.“
Julia schüttelte den Kopf. „Wir sollten das lassen. Das gefällt mir nicht, ehrlich.“
„Es ist jetzt zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen“, sagte Theresa kalt. „Wir ziehen das durch wie geplant. Es wird nichts schief gehen.“
Doch Julias anfängliche Bedenken hatten sich nun in regelrechte Ängste umgewandelt.
Etwas stimmte hier nicht.
Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.
Der Plan sah vor, dass Theresa sich meldete, sobald sie das Geld hatte und Herr Seidel verschwunden war. Sie würde zur Sicherheit auf ihrem Festnetztelefon anrufen, da Julias Handyempfang in dieser Gegend des Dorfes sehr unzuverlässig war.
Theresa brach um viertel vor zehn auf. Ein starker Wind war aufgekommen, und als Julia ihre Freundin an der Haustür verabschiedete, sah sie am Himmel dunkle Wolken aufziehen. Vermutlich würde es bald anfangen zu regnen.
„Beeil dich“, sagte sie zu Theresa, die bereits auf ihrem Fahrrad saß – nicht nur wegen des schlechten Wetters. „Und ruf mich sofort an, wenn du das Geld hast.“
Zwanzig Minuten später ging Julia unruhig in Theresas Zimmer hin und her und fragte sich immer wieder, um welche Uhrzeit sie möglicherweise die Polizei verständigen sollte. „Auf gar keinen Fall“, war Theresas Antwort darauf gewesen, doch Julia war nicht sicher, ob sie das einhalten würde. Immer wieder musste sie an Herrn Seidels irren Blick in dessen Wohnzimmer denken. Er war definitiv krank, gestört. Vielleicht gefährlich.
Die Minuten verstrichen, doch Theresa meldete sich nicht.
Draußen hörte sie schwere Regentropfen auf den Boden prasseln.
Was spielte sich wohl in diesem Moment an der alten Scheune ab?
Der Minutenzeiger kroch unendlich langsam voran.
Um 22:12 Uhr klingelte schließlich Theresas Telefon, und Julia nahm es ohne zu zögern ab.
„Hallo?“
„Ich bins. Es ist geschafft. Ich hab das Geld, er ist eben weggefahren.“
Julia fiel ein Stein vom Herzen. „Ach du Scheiße, Gott sei Dank. Ich hab mir schon die übelsten Sachen vorgestellt. Wie ist es gelaufen?“
„Erzähl ich dir nachher in Ruhe. Aber es war wie erwartet kein Problem. Da ist nur eine Sache.“
„Ja?“
„Es regnet in Strömen, und ich bin mit dem Fahrrad hier. Kannst du mich nicht abholen?“
„Ich hab das Auto nicht hier. Es steht bei mir zu Hause.“
„Dann hol es doch schnell. Ich warte hier. Bitte, ich hab echt keine Lust bei dem Wetter heim zu radeln.“
„Also gut. Es kann aber einen Moment dauern.“
Julia legte auf und machte sich auf den Weg.
Sie erreichte die alte Scheune etwa zwanzig Minuten später.
Es dauerte länger als gedacht, weil sie aufgrund des starken Regens und der Dunkelheit auf den unbefestigten Feldwegen nur sehr langsam vorankam.
Gerade als sie dachte, die Scheune verpasst zu haben, tauchte diese wie das Skelett eines längst ausgestorbenen Tiers am Rand eines Feldes auf. Teile ihres Dachs waren bereits eingefallen.
Von Theresa fehlte jede Spur.
„Scheiße“, flüsterte Julia. Sie hatte gehofft, Theresa sofort zu entdecken. Sie sah noch nicht einmal ihr Fahrrad.
Sie parkte das Auto direkt vor dem Eingang, ließ aber sowohl den Motor als auch das Licht an und hupte kurz.
Was, wenn Herr Seidel jetzt zurückkommt?, dachte sie. Jetzt würde er uns beide erwischen.
Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, hier heraus zu fahren? Doch Theresa hätte sie niemals darum gebeten, wenn es ein Risiko wäre. Theresa wusste immer, was zu tun war. Sie hatte das Sagen und die Dinge im Griff.
Oder?
Obwohl der Scheibenwischer auf der schnellsten Stufe lief, schaffte er es kaum, die Windschutzscheibe von den Regentropfen zu befreien. Im Auto hörten sie sich an wie wie entfernte Gewehrsalven. Julia schauderte.
Von Theresa war nichts zu sehen.
Was sollte sie tun?
Sie griff nach ihrem Handy und stieß ein kleines Dankgebet aus, als sie sah, dass sie einen Verbindungsbalken hatte. Sie rief Theresa auf deren Handy an, doch erreichte nur die Mailbox.
Vielleicht ist sie in der Scheune und hat hier draußen keinen Empfang.
Blödsinn. Eben hatte sie doch auch von hier angerufen.
Es hatte keinen Sinn, zu warten. Julia betätigte ein paar Tasten auf ihrem Handy. Dann schaltete sie den Motor ab, nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach, stieg aus dem Wagen aus und hastete zum Eingangsbereich der Scheune. Ein Geruch nach faulem Holz und Schimmel drang in ihre Nase.
„Theresa?“, rief sie.
„Ich bin hier.“ Julia war überrascht, so schnell eine Antwort zu erhalten.
Sie drehte sich nach links, und im Kegel ihrer Taschenlampe erschien Theresa. Sie war bleich und wirkte sehr müde. „Hallo Julia.“ Ihre Stimme klang leise und ruhig, und Julia erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Theresa? Was machst du hier? Hast du die Hupe -“
Weiter kam sie nicht, denn dann sah sie Herrn Seidel, der auf dem Boden der Scheune lag, das Gesicht auf den Boden gepresst. Schwarzes Blut quoll aus einer Wunde an seinem Hinterkopf.
„Scheiße, was ist das?“
Der Schein ihrer Taschenlampe wanderte wieder zu Theresa hoch, in ihr ausdrucksloses Gesicht.
„Tut mir Leid. Ich musste das tun.“
Julia ließ die Taschenlampe fallen und begann zu schreien.
Es dauerte einige Minuten, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Sie hatte sich auf den Boden gesetzt und leuchtete immer wieder auf Herrn Seidel, der regungslos vor ihr lag.
„Wir müssen einen Krankenwagen rufen“, sagte Julia, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
Theresa hatte sich neben sie gesetzt. „Nein, das bringt nichts. Er ist tot.“
„Warum hast du das getan? Was ist hier passiert?“
Theresas Stimme war ruhig, beinahe apathisch. „Beruhige dich erstmal. Es ist alles so gekommen, wie es sollte. Er kam, hatte das Geld dabei. Er gab es mir, und als er wieder verschwinden wollte, hab ich ihn niedergeschlagen. Es war einfacher, als ich dachte.“
Julia ließ die Worte auf sich wirken, doch deren Sinn erschloss sich ihr erst nach einem kurzen Moment.
„Als du dachtest? Du hast das geplant? Du wolltest das so?“
Theresa nickte. „Ja, das war der Teil des Plans, den ich dir nicht sagen konnte. Das war der Grund, warum ich mich hier mit ihm getroffen habe. Er sollte diesen Ort nie lebend verlassen.“
Julia konnte nicht glauben, was sie da hörte. Der Schock über Theresas Worte lenkte sie kurz von der Leiche ab, die keine fünf Meter vor ihr lag.
„Was redest du da?“
„Ich rede davon, dass der Scheißkerl den Tod verdient hat. Ich habe dir doch gesagt, dass wir ihn fertig machen.“
Totenstille folgte auf diese Worte; der Regen prasselte gegen die Scheunenwand und wirkte wie der Applaus eines unsichtbaren Publikums.
„Aber ... warum?“
„Spielt das eine Rolle?“ Theresa hatte ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. „Ist das für irgendjemanden wichtig? Sagen wirs mal so, ich hatte mit ihm noch eine Rechnung offen. Dafür waren aber 10.000 viel zu wenig. Mit Geld konnte er das nicht bezahlen.“
Wie die Wassermassen eines gebrochenen Staudamms brach die Erkenntnis auf Julia ein. „Er hat dich auch schon mal gefragt? Als du letztes Jahr beinahe sitzen geblieben bist, hat er dich auch gefragt? Und du hast es getan?“
Theresa wendete den Blick ab, und Julia wusste, dass sie Recht hatte. Sie presste ihre Hand auf den Mund, um nicht zu schreien. Das musste ein Albtraum sein, aus dem sie jeden Augenblick erwachen würde.
„Warum hast du mir davon nie erzählt?“
Theresa schwieg, doch Julia kannte die Antwort. Sie lag keine fünf Meter vor ihr auf dem Boden.
„Du hast ihn getötet. Was glaubst du, was sie mit dir machen?“
„Gar nichts. Sie kriegen mich nicht.“
„Aber – aber -“ Julia wusste nicht, was sie sagen sollte. Plötzlich hatte sie einen schrecklichen Verdacht. „Als du mich vorhin angerufen hast und erzählt hast, er wäre schon wieder weg – war er da schon tot?“
Theresa nickte. „Ja.“
„Aber warum wolltest du, dass ich herkomme? Warum wolltest du, dass ich das sehen muss?“
„Kannst du es dir nicht denken?“
Julia schüttelte den Kopf.
„Weil du der Grund bist, warum sie mich nicht kriegen. Wenn sie aus irgendeinem Grund auf mich kommen, werde ich sagen, du warst es.“
Auf diese Worte folgte eine lange Stille, die von strömendem Regen begleitet wurde und dadurch noch intensiver wirkte.
„Was?“, fragte Julia schließlich. Sie konnte den Sinn von Theresas Worten nicht fassen.
„Es ist ganz einfach. Sie werden seine Leiche hier finden, und vermutlich weder bei mir noch bei dir jemals an die Tür klopfen. Sie werden überhaupt nicht auf uns kommen. Aber ich konnte mir ja nicht sicher sein, dass du den Mund hältst. Das musst du jetzt aber. Denn wenn du es nicht tust, werden sie dich verhaften. Nicht mich. Ich bin raus aus der Nummer.“
„Wie meinst du das?“
„Du hast ein Motiv, das ich auf Band habe. Es ist zwar nicht sehr gut, aber die Polizei hat technische Möglichkeiten, die Qualität zu verbessern und jedes Wort von euch zu verstehen. Und diese Worte den richtigen Personen zuzuordnen. Außerdem hast du ihn erpresst. Das Telefonat am Freitagabend ist von deinem Apparat aus geführt worden, und daraufhin hat er am Samstag 10.000 Euro beschafft.“
Julia war sprachlos. Blankes Entsetzen durchströmte jede Faser ihres Körpers.
„Und du hast mir ein Alibi gegeben. Meine Eltern sind heute Abend nicht daheim, aber die Polizei wird feststellen, dass um kurz nach zehn ein Telefongespräch auf meinem Telefon entgegengenommen wurde. Das kann nur ich gewesen sein. Was mir ein Alibi gibt.“
„Das ist doch nicht wahr. Sie werden feststellen können, dass es dein Handy war, von dem der Anruf kam -“
„Wohl kaum. Es war nicht mein Handy, sondern ein anonymes Prepaid-Handy. Das kann genau so gut von dir kommen, und niemand wird es jemals finden. Es war übrigens dasselbe Handy, von dem aus auch der zweite Anruf an Herrn Seidel ging, als der Treffpunkt vereinbart wurde.“
Julia stand auf. „Das funktioniert doch nie. Damit kommst du nicht durch.“
„Willst du es wirklich herausfordern? Letzten Endes werden sie feststellen, dass du mit deinem Wagen heute Abend hier warst. Sie werden die Reifenspuren analysieren und fotografieren, und sie werden sie deinem Reifenprofil zuordnen können. Und vielleicht hat ja jemand gesehen, wie du hier raus gefahren bist? Ich hingegen war die ganze Zeit zu Hause. Niemand wird mir das Gegenteil beweisen können.“
Julia blickte ihre Freundin lange an. Wie hatte sie sich nur so in ihr täuschen können? „Warum tust du mir das an?“
„Ich tue dir gar nichts an. Ich will nur nicht, dass du die Nerven verlierst. Nochmal, Julia: Sie werden weder auf dich noch auf mich kommen. Sie werden ihn hier finden und im Dunkeln tappen. Irgendwann legen sie den Fall zu den Akten.“
Theresa richtete ihren Zeigefinger auf Julia. „Aber wenn du die Nerven verlierst, zur Polizei rennst und dummes Zeug redest, werde ich ihnen das erzählen, was ich jetzt dir gesagt habe. Und dann spricht alles gegen dich.“
Theresa nahm ihr Fahrrad, das sie gegen die Scheunenwand gelehnt hatte. „Das macht dich zu meiner Lebensversicherung. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe keinen Fehler gemacht. Schau, dass du von hier verschwindest. Ich muss jetzt nach Hause, meine Eltern müssen schließlich sehen, dass ich da bin, wenn sie zurückkommen.“ Sie zögerte kurz. „Und mach dir auch keine Gedanken wegen dem Scheißkerl da. Er hat es wirklich verdient.“
Mit diesen Worten verließ sie die Scheune und verschwand in der Dunkelheit.
Julia fühlte sich betrogen und benutzt. Ein letztes Mal leuchtete sie auf Herrn Seidels Leiche. Dann rannte sie durch den Regen zu ihrem Auto zurück und setzte sich hinein.
Sie spürte keine Wut, keinen Zorn.
Noch nicht einmal Überraschung.
Du darfst niemandem vertrauen. Waren das nicht Theresas Worte gewesen?
Sie griff in die Tasche ihrer Jacke und zog ihr Handy hervor. Es befand sich noch immer im Modus „Recording“, und Julia beendete die Aufnahme.
In die Nässe des Regens mischte sich jetzt ihr eigener Schweiß. Ihre Hand zitterte.
Sie hatte in den letzten Tagen immer wieder gespürt, dass mit Theresa etwas nicht stimmte. Und so hatte sie, kurz bevor sie das Auto verlassen hatte, den Aufnahmemodus ihres Handys aktiviert.
Auf diesen Trick hatte Theresa sie gebracht, und das war ihre Lebensversicherung.
Und jetzt?
Jetzt musste sie sehr vorsichtig sein. Theresa war gefährlich und zu allem bereit.
Aber sie musste sie von der Existenz des Bandes wissen lassen. Andernfalls würde Theresa denken, sie habe nichts zu verlieren, und würde vielleicht Dinge herumerzählen, die sie besser für sich behielt. Würde vielleicht unvorsichtig werden. Leichtsinnig.
Wie sollte sie es anstellen? Zur Polizei würde sie nicht gehen, denn dann käme die ganze Geschichte ans Tageslicht, und man würde am Ende nicht nur Theresa, sondern auch sie wegen Beihilfe zur Erpressung – oder sogar zum Mord – anklagen. Das durfte sie nicht zulassen.
Sie musste irgendwo eine Kopie des Bandes deponieren. Jemanden einweihen. Und Theresa wissen lassen, dass alles heraus käme, wenn ihr etwas zustieße.
Doch das Problem war, sie hatte niemanden.
Macht nichts. Sag ihr einfach, dass es jemanden gibt. Bring es glaubhaft rüber.
Denn am Ende zählte nicht, was sie wirklich tat, sondern was Theresa glaubte, dass sie getan hatte.
Aber sie musste vorsichtig sein. Jeden Schritt überlegen. Nichts überstürzen.
Sie wusste, wie viel davon abhing. Möglicherweise nicht weniger als ihr Leben.
Sie startete den Wagen und fuhr langsam durch den strömenden Regen.
Und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte.