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Die Erkenntnis von Gut und Böse
Eddie war es gewohnt, seinen Kopf durchzusetzen.
Er sah nicht ein, warum ein zehnjähriger Junge auf die alten Knochen hören sollte.
Er wusste, was er wollte. Das hatte zu genügen.
Als der Religionslehrer, ein langweiliger Schwätzer,verkündete, dass das heutige Thema die Frucht vom Baum der Erkenntnis sei, beschloss Eddie, sich anderweitig zu beschäftigen.
Das Gequatsche von irgendwelchen verbotenen Früchten hatte er ohnehin satt. Seiner Meinung nach sollte das Wort „verboten“ gestrichen werden.
Und so saß er statt im Klassenzimmer in seinem Lieblingsversteck, dem alten Lagerschuppen am Bahnhof.
Draußen rauschte der Herbstregen, und in Eddie knurrte der Magen.
Schuleschwänzen an Regentagen konnte fast so langweilig werden wie der Unterricht.
Quietschend öffneten sich die Rolltore des Lagerschuppens.
Eddie lugte neugierig hinter den staubigen Kisten hervor, die die Mauern seiner Fluchtburg bildeten.
Ein Soldat kam herein, das Gewehr lässig geschultert.
Ein säuerlicher, schmutziger Geruch wehte in das Lager, dann folgte im Gänsemarsch eine Reihe seltsamer Gestalten.
Sie sahen aus wie Schlossgespenster, klapperdürr, kahlköpfig und schlurfend. Nicht einmal die schaurig klirrenden Ketten fehlten!
Ein zweiter Soldat schloss laut schimpfend den unheimlichen Zug ab.
Eddie notierte im Geiste die neuen Schimpfworte.
„Dreckspack“ klang recht interessant.
Aber was sollte „Itzik“ heißen? Er flüsterte den Begriff und ließ das Wort im Munde zergehen. Itzik?
Er schaute, was weiter geschah.
Vier der Gespenster trugen Kisten in das Lager, das Fünfte stapelte sie. Eddie zog enttäuscht einen Flunsch.
Wie langweilig!
Aber dann bemerkte er, dass einige der Kisten Lebensmittel enthielten.
Nur knapp außerhalb seiner Reichweite strahlte das Rot reifer Äpfel und ließ seinen Magen erneut Laut geben.
Mit Soldaten war nicht zu spaßen, aber der dürre Kerl, der ganz in seiner Nähe arbeitete, der machte keinen gefährlichen Eindruck.
Eddie beschloss, die Mitleidsmasche zu spielen.
Er rieb sich die Augen, bis sie rot und verweint aussahen, dann wagte er sich auf allen Vieren vorsichtig aus seinem Versteck.
Die Soldaten wandten ihm den Rücken zu, standen rauchend im Eingang. Sehr gut!
„He, du“, flüsterte er. Das Gespenst blickte erschrocken in seine Richtung, dann zum Tor.
„Ich hab solchen Hunger“, jammerte Eddie. „Bin von zuhause weg, die schlagen mich immer.“
Der dürre Mann lächelte und griff in eine Obstkiste. Er rollte den Apfel auf Eddie zu, der ihn rasch in der Hosentasche verschwinden ließ.
„Noch einen?“, bettelte der Junge, und zu seiner Freude nickte der Gespenstermann.
In diesem Moment drehte sich einer der Soldaten um. Eddie krabbelte hastig in sein Versteck zurück.
„Was fällt dir ein, Drecksjude?“, hörte er den Soldaten brüllen. „Diebsgesindel!“
Eddie biss in den Apfel und versank in der Empfindung saftiger Süße, die sich in ihm ausbreitete.
Wie durch Nebel drangen die Schreie des Gespenstermannes, ein dumpfes Klatschen und Knirschen in sein Bewusstsein.
Nur mit einem Auge blinzelte er kauend aus seinem Versteck - und erschrak.
Er blickte dem dürren Mann genau ins Gesicht.
Die Augen des Gespenstes waren verdreht, so dass fast nur das Weiße zu erkennen war. Sein Mund war eine blutige Masse mit feinen, weißen Splittern.
„Verdammt, der ist hin“, hörte er den einen Soldaten rufen.
„Was soll‘s, ein diebischer Itzik weniger“, kam die Antwort des Zweiten.
Eddie starrte den Apfel an.
Eine grausige Erkenntnis stieg in ihm auf…