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Die Erinnerung lebt weiter
Jeden Tag kam ich vorbei und fragte, ob Peter herauskommt, um etwas zu unternehmen. Jeden Tag bekam ich dieselbe Antwort: „Nein, Peter ist krank.“
Meistens endete es dann damit, dass ich Peter in seinem Zimmer im Erdgeschoss besuchen kam und wir über Gott und die Welt redeten, oder irgendetwas anderes machten.
Peters Eltern waren sehr stark auf sein Wohl bedacht. „Als ob Erwachsene wüssten, was Jugendliche brauchen…“, dachte ich mir dann jedesmal. Solche Situationen machten mit wütend und ich fühlte mich hilflos.
Eines Tages kam ich auf die glorreiche Idee, Peter nach der Schule zu entführen.
So richtig wie im Film.
Mein Herz schlug heftig, schließlich war das die erste Straftat, die ich verübte. Aber es war nur zu Peters bestem.
Erstaunlicherweise freute sich Peter ziemlich und wir legten uns unheimlich ins Zeug, uns möglichst schnell aus dem Staub zu machen, damit uns Peters Eltern nicht abfangen konnten.
Gar nicht wie im Film, von Gegenwehr keine Spur. Nicht, dass die Alten noch auf die Idee kämen, zur Schule zu fahren und Peter abzuholen. Das konnte man bei ihnen nie sagen. Also machten wir uns auf den Weg zur Eisdiele.
Ein nie gekanntes Gefühl der Macht durchströmte uns dabei, denn Peter durfte eigentlich kein Eis essen, denn das „wäre schlecht für ihn“. Da Sommer war, machten wir es uns draußen vor „Luigi’s“ mit einem Rieseneisbecher gemütlich. Ich hatte einen Erdbeer-Zitrone-Sahnebomber, Peter die Klassische Tri-Colore-Kombi: Schoko, Vanille und Erdbeer. Peter genoss es mit sichtlichem Wohlbehagen. Als das Eis verdrückt war, und natürlich ich die Rechnung bezahlt hatte (Peters Geld war immer so abgezählt, dass es in der Schule für etwas zu trinken und eine Semmel reichte), machten wir uns auf, unsere neugewonnene Freiheit weiter auszunutzen. Unser Weg führte uns in den nahegelegenen Skaterpark. Gleich den Hügel rauf, neben dem Fußballplatz. Da war eigentlich immer was los. Die Jungs und Mädels glotzten uns allerdings ziemlich blöd an, als wir in „ihr Revier“, den von hohem Maschendrahtzaun und von Scheinwerfern umzäunten Spielplatz für Jugendliche, eindrangen. Wir verbrachten den ganzen Nachmittag dort. Nachdem die eingesessenen Skater zuerst eher skeptisch waren, waren sie am Schluss schon fast Fans von uns. Peters offene Art sorgte dafür, dass sie schnell Vertrauen fassten. Peter war eigentlich die meiste Zeit auf der Rampe, er war gar nichtmehr von der Halfpipe zu kriegen. Mit glühendem Gesicht und einem triumphalen Grinsen fetzte er die Holzkonstruktion auf und ab und wurde immer waghalsiger. Irgendwann fiel er dann hin, und schürfte sich den Arm auf. Mit einem Lachen winkte er ab und meinte „Macht nix, ist ja nur Haut – Die wächst schon nach“. Trotzdem beschlossen wir einstimmig, uns langsam auf den Rückweg zu machen.
Die Entführung war eine blöde Idee.
Das war unsere Erkenntnis, als wir bei Peter zuhause ankamen
Peters Eltern hatten die Polizei verständigt, waren stinksauer auf mich und krank vor Sorge. Was ich mir denn dabei gedacht habe, was da alles hätte passieren können!
Erwachsenenzeugs halt.
Wir wechselten trotzdem ein heimliches Verschwörergrinsen, während wir mit gesenktem Köpfen die Standpauke der versammelten Elternschaft unserer Familien über uns ergehen liesen.
Die Demut hielt allerdings nie lange an. Nach Ablauf unseres Hausarrests planten wir meistens schon die nächste Schandtat. Wir waren wie eine moderne Version von Wilhelm Buschs „Max und Moritz“
Peter und ich nahmen das alles irgendwie ganz gelassen. Ihn konnte so oder so wenig aus der Fassung bringen. Nur, wenn er gehänselt wurde, oder er etwas nicht erreichen konnte, weil es zu weit oben war, dann wurde Peter sauer.
Ziemlich sauer.
Dann musste man aufpassen, was man zu Peter sagte. Richtig explodieren konnte er da. Ich war einer der wenigen, die ihn beruhigen konnten, wenn er rot vor Zorn und hyperventilierend seinem Ärger lautstark Luft machte. Meistens lief es dann so ab, dass Peter schnaufend und schreiend alles in seinem Umfeld mit einer wütenden Kaskade von Schimpfwörtern eindeckte – Vorzugsweise den Auslöser seines Ausbruchs. Er hatte eine bemerkenswerte Auswahl an Schimpfwörtern, wenn er wollte. Die einzige Möglichkeit, dann noch zu Peter durchzudringen war es, ihn in den Arm zu nehmen. Warum das so war, weiß ich nicht.
Man muss wissen, Peter war kein gewöhnlicher Junge. In seinem zierlichen Körper steckte viel Kraft, wenn es sein musste. Und keiner konnte einen Ball so weit werfen wie er. Die meiste Kraft steckte in seinen Armen. Die wollten nicht so recht zum Rest seines Körpers passen. Die Arme waren muskulös und richtig durchtrainiert. Ganz untypisch eigentlich für einen Stubenhocker mit 16 Jahren. Allerdings typisch für Peter Ich erinnere mich gut, beim letzten Sportfest übertraf er den Klassenbesten und kam sogar in die Zeitung. Mit irgendeinem Politiker und natürlich dem Direktor und dem Sportlehrer. Die Schule nannte es eine Ehre. Propaganda nenne ich das. Peter war eigentlich oft in der Zeitung. Mal hier, mal da. Dort war er wieder zu irgendetwas eingeladen, und musste mal wieder hier an etwas anderem teilnehmen. Das lag vielleicht an seinem sonnigen Gemüt. Peter hatte nie schlechte Laune. Manchmal war er ein bisschen melancholisch, aber nie richtig mies drauf. Das bewunderte ich sehr an ihm. Ich hingegen war hoffnungslos den hormonellen Launen der Pubertät ausgeliefert. Ich rebellierte gegen alles und jeden, besonders gern gegen meine Eltern. Ich nannte sie gerne die „Erzeugerfraktion“. Oft genug verlies ich mein Elternhaus im Streit und suchte Zuflucht bei Peter. Er und seine Familie nahmen mich immer auf. Ich bin ihnen dafür auch heute noch dankbar. Wenn man bedenkt, dass Teenager sonst im Normalfall eher mürrisch und rebellisch sind, war Peter ein Musterbeispiel an Sitte und Anstand. Kein schlechtes Wort kam über seine Lippen (Außer er war wirklich wütend). Er hatte die Gabe, schlechte Laune vertreiben zu können. Wie oft er mich zum Lachen brachte – selbst bei Themen, die eigentlich zum Weinen waren. Als mein Hund starb, hörte er sich mein Leiden geduldig an und entgegnete ganz trocken: „Siehst du, jetzt hast du wenigstens Anschauungsmaterial für dein Bioreferat“. So makaber sich das anhört, es half mir den Verlust zu verarbeiten. Es schien dem Tod wenigstens irgendeinen Sinn zu geben.
Peter schrieb gerne Briefe. Er konnte stundenlang dasitzen und schreiben. Briefe an seine Eltern, seine Verwandtschaft, an mich – sogar an Gott schrieb er Briefe. Die ließ er allerdings niemanden lesen, sie lagen in einer verschlossenen Schublade, zu der nur er den Schlüssel hatte.
Was immer er in diesen Briefen schrieb, es waren seine innersten Gefühle, die nicht einmal ich kannte. Ich respektierte seine Geheimniskrämerei allerdings uneingeschränkt, schließlich hat jeder seine Geheimnisse, das ist nichts Ungewöhnliches. Was allerdings auffällig war, das Peter nach diesen Briefen meist ein wenig traurig war, fast so, als hätte er mit jemandem gestritten und hätte eingesehen, auf verlorenem Posten zu kämpfen. Eine Art Resignation würde es wohl am besten beschreiben.
Oft saßen wir bei ihm im Zimmer und redeten, oder spielten ein Spiel. Peter war außerordentlich intelligent. Wenn wir Schach spielten, gewann ich äußerst selten. Und dann konnte ich mir nicht sicher sein, ob mich Peter nicht gewinnen ließ.
Das hasste ich.
Oft gab er mir Tipps, wie ich anders hätte spielen können, und welche Schwächen beim Spielen er ausgenutzt hatte. Er machte das allerdings auf seine Weise. Augenzwinkernd und mit viel Humor. Wie ein Lehrer, der einen Schüler befragt. Warum ich denn etwas so gemacht hätte und was ich noch für Möglichkeiten gesehen hätte. Das ging manchmal soweit, dass er das Spielfeld in genau dieser Stellung wieder aufbaute. Sein Erinnerungsvermögen war manchmal schon unheimlich. Ich könnte das nicht, aus dem Kopf ein komplettes Schachfeld mitten unter einer Partie aufbauen.
Dafür konnte Peter wenig mit Frauen anfangen. Nicht, dass sie ihn nicht interessiert hätten – Er war nur einfach schüchtern, und so wenig wie er hinauskam, wie sollte er auch wirklich jemanden kennenlernen? Wenn wir auf das Thema zu sprechen kamen, sehe ich noch heute sein Grinsen vor mir. „Ich bin einfach besonders anders“, pflegte er immer zu sagen. Also blieb ich die Person, die ihm neben seinen Eltern am nächsten stand. Geschwister hatte er keine. Stattdessen war ich so etwas wie sein Bruder. In der Schule saßen wir nebeneinander, man sprach von uns eigentlich nur noch von dem „dynamischen Duo“, wahrscheinlich, weil man uns für gewöhnlich immer zu zweit antraf. Eigentlich so gesehen sehr cool. Meistens war ich der, der bei Peter abschrieb, weil ich wiedermal meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte oder zu faul war, auf eine Prüfung zu lernen. Er lies es immer zu und beklagte sie nie.
Peter war einfach ein Fall für sich.
Peter war Rollstuhlfahrer.
Er ist tot.
Das einzige, was mir bleibt ist meine Erinnerung an ihn – Und einer seiner letzten Briefe.