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Die Erdbeere
Als schulpflichtiger Mensch ist man meist wegen geizigen Eltern gezwungen, etwas Geld dazu zu verdienen. Mich trieb das dazu, eine Stelle als Verkäuferin beim größten Erdbeerproduzenten unseres Ortes anzunehmen. Ich war bereits mein zweites Jahr dabei und fand die Arbeit angenehm, denn in meinem mir angestammten Erdbeerhäuschen gab es weder Hektik noch Langeweile und die Leute waren freundlich.
Doch als die Ferien begannen und ich mehr Zeit hatte, als mir lieb war, wurde ich aushilfsweise an einem anderen Standort eingesetzt. Diese Erdbeere befand sich einschlossen zwischen zwei Sehenswürdigkeiten, unbemerkt im Schatten derer. Ich war darauf eingestellt, dass wenig zu verkaufen wäre an diesem gottverlassenen Ort, doch die Wirklichkeit sollte all meine Befürchtungen übertreffen.
Zunächst konnte das Geschäft noch als gemächlich bezeichnet werden, ehe plötzlich nur noch alle fünf Minuten überhaupt ein Mensch und nur alle Viertelstunde mal einer, der etwas kaufen wollte, vorbeikam. Die zahlreichen Touristengruppen schielten immer nur auf die Früchte, um sie erst als lecker anzusehen und dann zu teuer zu finden, oder mich mit einem mitleidigen Lächeln zu bedenken. Das tat weh.
Außerdem war es sehr unbefriedigend zu sitzen und auf die Hauswand gegenüber zu starren. Dort saßen nur zwei alte Damen bei Kaffee, unbeweglich und stumm wie Fischattrappen in den Aquarien beim Anglerbedarf. Bestimmt hätten sie keine Miene verzogen, hätte ich ihnen eine Grimasse geschnitten oder mit den Erdbeeren nach ihrem Fenster geworfen.
Ich begann, die Kasse nach ausländischen Geldstücken zu durchsuchen. Als ich keine fand, ordnete ich die deutschen Euro-Stücken nach ihren Prägestätten und legte besonders schöne zur Seite für meine Sammlung zu Hause. Ich wusch die Handwaage aus und suchte anschließend ein trockenes Tuch. Die Marmeladengläser könnten abgestaubt werden. Ich baute Figuren aus ihnen und ordnete sie falsch an, damit ich bei der Korrektur Zeit verlor. Da bekam ich eine Kundin. Deren Kind reichte mit seiner Nase voll Schnupfen gerade über Theke. Wie zum Beweis nieste es kräftig darauf. Angesichts der deutlichen Spuren verzog ich das Gesicht und das Kind bekam einen Klaps auf den Hinterkopf, gerade um gleich noch mal und wieder auf die Theke zu niesen. Die Mutter entschuldigte sich und verschwand, das Kind am Arm hinterherzerrend. Die Wahrung der Hygiene blieb an mir und Naseninneres im Lappen hängen.
Danach fegte ich den Boden, stapelte die Körbe und trank sehr langsam ein paar Schlucke Wasser. Eine Seitentür des Häuschen löste sich aus ihrer Verankerung und schlug krachend zu. Erschrocken aber sehr behutsam brachte ich es in Ordnung, als eine ältere Frau sich vor dem Stand aufbaute. Sie hatte eine winzige Handtasche bei sich, kaum größer als ein Portemonnaie. Doch darin hatte sie nur zwei Schachteln Kräuterzucker in Zitrone und Kirschgeschmack, das Kleingeld fischte sie aus der Jackentasche.
Bald entdeckte ich möchtegern-coole Kinder auf der anderen Straßenseite, die mit ihrem Skateboard übten. Ich sah eine Weile zu, doch ihre Geschäftigkeit beschränkte sich auf ein Kunststück, weshalb ich das Zuschauen aufgab und mich stattdessen einem Mann auf dem Fahrrad zuwandte. Er fuhr vorbei und fiel dann urplötzlich und ganz ohne Motivation vorn über den Lenker. Ich wollte mich schon besorgt zeigen, aber er sprang gleich wieder auf und sammelte seine verlorene Ladung ein. Das Hemd glattgestrichen, setzte er seinen Weg augenblicklich fort.
Ich lachte leise und versank dann in Selbstmitleid, noch immer hatte ich zwei Stunden zu harren. Der einzige Vorteil gegenüber meinem üblichen Standort bestand darin, dass der Verkehr weiter weg brauste und die Vögel lauter sangen. Aber ich fragte mich, ob man wohl sterben konnte vor Langeweile. Ernsthaft! So richtig mit Atemstillstand?
Der Regen, der sacht begann, lenkte ab und gab mir Beschäftigung. Er tropfte durch die Fenster und lief auf die Erdbeeren, so dass ich sie umschichten musste. Hinzu kam stark auffrischender Wind, was eine Kombination ausmachte, die die Kundschaft noch einmal schmerzlich dezimierte. Ich musste feststellen, dass ich an einer höchst zugigen Ecke stand – die Passanten wurden nicht müde, es mir zu sagen. Das ist das teuflische daran, dass die Menschen nicht voneinander wissen. Sonst hätten sie verstanden, warum ich wütend wurde, als ich denselben Satz schon wieder hörte. Doch ich wurde ja nicht wütend; mein beständiges, zähnestrahlendes Jaja ließ sie sich weise fühlen.
Eine dreiviertel Stunde, in der ich vor lauter Verzweiflung angefangen hatte, von Tausend rückwärts zu zählen, verlief völlig ohne Geschäft. Stattdessen kündigte sich ein Unwetter an: Wind riss an allen Ecken der Erdbeere und der Regen drang bald in jede Ritze. Die Jacken der Leute blähten sich, ihre Schirme knickten und rissen. Als das Gewitter endgültig losbrach, holte ich schnell die Fahnen herein und schloss die Läden soweit, dass wenigstens mir nichts passieren konnte. Ich setzte mich auf die Kiste in der Ecke und während ich zu frieren begann, brach auch die letzte Arbeitstunde an, endlich. Mein Versuch, mich alter Gedichte zu erinnern oder über ungelösten mathematischen Problemen zu grübeln verlor sich im Windes-Rauschen, das um mich war, sehr laut und aggressiv. Wenn man so völlig nutzlos ist, ist der Kopf nur eine matte Seifenblase, die leise summend vor sich hin schwebt und darauf wartet, dass eine Hand nach ihr greifen und ihr Zerstreuung schenken möge.
Indes nahm der Sturm üble Ausmaße an, kein Mensch war mehr da. Es gab nur noch die Erdbeere mit mir darin. Der Regen fiel wagerecht und schlug Blasen in den Pfützen. Hinter mir klirrten die Flaschen und alles wackelte bedrohlich. Ich nahm mir vor, auf dem Erntebericht zu vermerken, dass man bei der Standortauswahl besser auf die Windverhältnisse achten sollte und –
Die Erdbeere hob ab. Eine heftige Windböe riss sie vom Boden, ich hatte auf einmal sehr viele verdutzte Gedanken, Baumkronen und Dächer verschwanden nach unten aus meinem Gesichtsfeld. Die ganze Stadt lag plötzlich unter mir, doch ich konnte mich nicht lange auf den Beinen halten. Hinter mir fiel alle Marmelade aus dem Regal und zersprang auf dem Boden, eine Kiste traf mich am Kopf. Mir die Beule haltend, kroch ich unter die Theke und baute einen Wall aus Pullover und Rucksack um mich. Ich dachte an mein Fahrrad, das noch unten im Regen stand, und daran, dass ich meinen Lohn für diese stumpfsinnige Arbeit gar nicht kriegen würde... Aber sehr bald wurde die Haltung mit dem Kopf zwischen den Knien gemütlich und ich schlief ein über meine Angst.
Erst nach Stunden beunruhigender Schaukelei ließ der Sturm nach und die Erdbeere fand ihren Stand wieder. Das sanfte Aufsetzen weckte mich. Ich rieb mir die Augen, erhob mich umständlich und lugte hinaus, um zu sehen, wo ich gelandet war. Doch auf einmal war das völlig egal, denn als ich erkannte, dass der Himmel so blau war wie Tropenmeere und der Horizont so weit wie das Licht, da stieg ich heraus und begann ein neues Leben.