- Beitritt
- 15.07.2004
- Beiträge
- 837
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 24
Die Erbse unter der Prinzessin
*Für Hans Christian*
Niemals zuvor hatte es eine schönere Erbse in der königlichen Speisekammer gegeben als Konstanze. Sie war so wundervoll frisch und makellos rund, dass neben ihr alle anderen Erbsen aussahen wie kleine, verschrumpelte Rosinen. Selbst der vollkommenste Apfel war nicht annähernd so knackig wie es Konstanze war. Und ihre Schale strahlte in einem so prachtvollen Grün, dass alle Gurken um sie herum vor Neid ganz gelb geworden waren.
Konstanze wusste natürlich, dass sämtliches Obst und Gemüse in der Vorratskammer unsterblich in sie verliebt war. Der Knoblauch säuselte unentwegt Komplimente, die Steckrüben machten ihr schöne Augen, die Birnen priesen lauthals ihre Anmut, und ein einsamer Kürbis hatte ihr sogar ein vierundvierzig Strophen langes Gedicht gewidmet. Ja, selbst die hochmütigen Avocados liefen rot an, wenn Konstanze in ihre Richtung schaute.
Leider war der Erbse all die Bewunderung gehörig zu Kopf gestiegen und hatte sie eingebildet und eitel werden lassen. Denn obgleich jedermann freundlich zu ihr war, schien Konstanze niemand gut genug, um mit ihm Freundschaft zu schließen. An jedem hatte sie etwas auszusetzen. Der Knoblauch war ihr zu stinkig, die Birnen und die Steckrüben zu gewöhnlich und der Kürbis zu fett.
„Ich bin gerade gut genug für eine Prinzessin“, pflegte Konstanze dann zu sagen und rümpfte blasiert die Nase.
Eines Tages kam hoher Besuch in die Speisekammer. Niemand anderes als die Königin höchstpersönlich trat ein und schaute sich sorgfältig um. Nach kurzer Zeit fiel ihr Blick auf die vollkommene Erbse.
Konstanze setze ihr schönstes Lächeln auf. Gleich würde die Königin begeistert in die Hände klatschen und rufen: „Was für eine herrliche Hülsenfrucht! Fortan soll sie neben mir und dem König thronen und für immer und ewig das Wahrzeichen unseres Reiches sein.“
Doch nichts dergleichen passierte.
Stattdessen murmelte die Königin nur: „Eine Erbse. Na ja, das könnte klappen!“ Und dann griff sie nach Konstanze und ließ sie achtlos in ihrer Handtasche verschwinden.
Dort drinnen war es gar nicht so, wie es in der Handtasche einer Königin sein sollte. Konstanze hatte Samt und Seide erwartet, funkelnde Rubine und ein Gucci-Lederetui für das goldene Zepter. Doch nichts davon war zu sehen. Stattdessen herrschte darin ein riesengroßes Durcheinander. Ein alter Lippenstift rollte hin und her, ein mindestens schon zweimal gekauter Kaugummi klebte in einer Ecke und zog lange, widerliche Fäden, und in einem benutzen Taschentuch hauste ein gar nicht königlich wirkender Popel, der die Erbse ganz ungeniert zu einem romantischem Abendessen überreden wollte.
Konstanze war heilfroh, als sie endlich aus diesem schrecklichen Gefängnis befreit wurde. „Steck dir dein Essen sonst wohin“, rief sie dem Popel nach. „Als ob ich mit einem wie dir ausgehen würde. Niemals! Ich bin gerade gut genug für eine Prinzessin. Und nun habe ich keine Zeit mehr, mich mit dir weiter abzugeben, denn ich werde mich nun von aller Welt preisen und bestaunen lassen.“
Aber Konstanze irrte.
Anstatt auf einem eigens für sie angefertigten Thron gesetzt zu werden, legte die Königin die Erbse auf einen steinharten Lattenrost, der auf einem prächtigen Himmelbett lag. Und damit nicht genug. Mit einem Male warfen herbeigerufene Diener zwanzig Matratzen auf die arme Konstanze. Und obendrauf noch einmal zwanzig Daunendecken. So nämlich wollte die Königin herausbekommen, ob die Prinzessin, die der Königssohn zur Frau nehmen wollte, auch wirklich eine Prinzessin war. Und nur eine wirkliche Prinzessin war empfindlich genug, um unter all den Matratzen und Decken eine einzelne Erbse zu spüren.
Von alledem ahnte die unglückliche Konstanze nichts. Ihr war so schrecklich eng und warm zumute, dass ihr nun sogar die unordentliche und dunkle Damenhandtasche wie das Paradies vorkam. Zu allem Überfluss kam bald darauf auch noch die Prinzessin in das Zimmer und kletterte das Himmelbett hinauf und warf sich auf den Matratzenberg.
Schon nach wenigen Minuten war sie tief und fest eingeschlafen. Von der Erbse spürte sie rein gar nichts, denn sie war eine Hochstaplerin und hatte mit einer Prinzessin ungefähr soviel gemein wie eine Herde Elefanten mit einer Balletttänzerin.
Verzweifelt lag Konstanze unter dem Matratzenberg und musste zudem noch das Gewicht der falschen Prinzessin tragen, die mittlerweile auch noch ganz undamenhaft zu schnarchen begonnen hatte.
„Was nützt mir jetzt mein blendendes Aussehen“, dachte Konstanze. „Rein gar nichts. Und von Prinzessinnen habe ich auch die Nase gestrichen voll.“
Und mit einem Mal begriff die Erbse wie selbstsüchtig und dumm sie gewesen war. Und dass Schönheit allein einen feuchten Dreck wert ist.
Vielleicht war es diese Erkenntnis, die Konstanze die Rettung brachte. Aber wahrscheinlich hatte sie einfach nur riesengroßes Glück. Denn der Kürbis, der einen ganz besonderen Narren an Konstanze gefressen hatte, war durch das ganze Schloss gerollt und hatte nach ihr gesucht, weil er ihr die fünfundvierzigste und neueste Strophe seine Liebesgedichtes vortragen wollte. Jetzt, da er sie endlich gefunden hatte, drängte und quetschte er sich zu ihr unter die zwanzig Matratzen und Daunendecken. Und weil er so mächtig und fett war, trug er nun die schwere Last allein, während Konstanze bequem und sicher im einer molligen Höhle lag.
Einen Kürbis unter der Matratze spürt aber sogar eine Hochstaplerin, und die falsche Prinzessin warf sich mit einem Mal unruhig im Schlaf hin und her und begann ganz fürchterlich zu stöhnen.
Als endlich der nächste Morgen anbrach, klopfte es an der Zimmertür, und die Königin trat ein, um sich zu erkundigen, wie die Prinzessin geschlafen habe.
„Oh, schrecklich schlecht“, sagte die Betrügerin. „Ich habe die ganze Nacht fast kein Auge zugemacht. Ich habe auf etwas Hartem gelegen, so dass ich braun und blau am ganzen Körper bin. Es ist entsetzlich!“
Da glaubte die Königin, dass die falsche eine richtige Prinzessin sein müsse, weil sie durch die zwanzig Matratzen und Daunendecken hindurch die Erbse gespürt hatte. So empfindlich konnte niemand anders als eine wirkliche Prinzessin sein. Und jubelnd lief sie hinaus, um ihrem Volk die gute Nachricht zu verkünden.
Der Kürbis wurde erst sehr viel später vom König beim Aufräumen gefunden, der ihn so schön und imposant fand, dass er ihn fortan auf einem Thron neben sich und seiner Königin stellte und ihn zum immer und ewiglichen Wahrzeichen seines Reiches erklärte.
Konstanze aber zog es zurück in die Vorratskammer. Dorthin jedoch war mittlerweile eine Bohne gebracht worden, die die vollkommene Erbse noch weit an Liebreiz übertraf. Kein Obst und Gemüse nahm jetzt noch Notiz von Konstanze. Knoblauch, Steckrüben, Birnen und Avocados sehnten sich fortan einzig und allein danach, in der Gunst der Bohne zu stehen. Und selbst Konstanze musste zugeben, dass sie noch nie etwas Schöneres gesehen hatte als jene prachtvolle Hülsenfrucht.
„Du bist wirklich wunderbar“, sagte sie zu der Bohne. „So schön, dass man es kaum ertragen kann.“
„Ich weiß!“, antwortete diese hochnäsig. „Ich bin gerade gut genug für eine Prinzessin.“
Da musste Konstanze lachen. Sie lachte und lachte und lachte, so lange bis sie nicht mehr lachen konnte. Und als sie endlich fertig war, rollte sie zu dem Popel, der inzwischen ebenfalls in die Speisekammer gezogen war, um mit ihm ein romantisches Abendessen zu verleben.