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Die Entscheidung

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28.05.2012
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Die Entscheidung

Ein junger Mann, der sich von jeder Wirksamkeit abgeschnitten fühlte, der weder einer geregelten Tätigkeit nachging noch auch nur einen einzigen Menschen kannte in dessen Arme er sich vor seiner Einsamkeit hätte fliehen können, beschloss, in den Steinbruch zu fahren. Die Sonne drückte ihn nieder, als wäre sie eine große Schwester, die sich einen Spaß daraus machte, das Gesicht ihres kleinen, etwas verkrüppelten Brüderchens mit festem Griff in den Staub zu pressen. Dieser aber verstand sich nicht auf diese Art von Späßen, nicht an diesem Tag. Er suchte Steine, möglichst handliche und kantige, von denen er sich so viele in den Hintern stecken wollte, bis der erlösende Darmdurchbruch endlich unausweichlich wäre. Dann entschiede es sich, dachte er, ob er leben oder sterben werde. Beides würde er allein von dem Zufall abhängig machen, ob ihn jemand fände oder seine Schmerzenslaute ungehört verschallten. Er wollte erleben, wie man nur seinetwegen die Tür seiner Mietwohnung aufbräche, um ihn zu retten, erleben, dass auch er es wert wäre, nicht dahinzufaulen wie jene ungezählten Tierkadaver, die man auf den Straßen sieht.

Nachdem er einige Arbeiter mit ausweichenden Antworten abgespeist und, abseits ihrer neugierigen Blicke, seine Taschen mit mehreren Dutzend Steinen gefüllt hatte, fuhr er in die Stadt, um sich mit Wodka zu versorgen. Er dürfte dem peinigenden Würgen seines Gesäßes nur mit getrübtem Bewusstsein begegnen, sollte sich sein Vorhaben nicht in angelernter Vernünftigkeit auflösen. Die Verkäuferin bedankte sich routiniert für seinen Einkauf, er lächelte müde, wünschte ihr einen schönen Tag, und verließ jene ältliche Frau, die gerade womöglich seine letzten Worte überhört hatte.

Zuhause angekommen, zögerte er lange, sein trauriges Vorhaben umzusetzen, saß stattdessen im Sessel und berauschte sich an dem Gedanken, dass es noch nicht zu spät sei, umzukehren, dass ein Leben ohne dramatische Effekthascherei, vor allem ohne Effekthascherei vor sich selbst, immer noch möglich sei. Noch fühlte er, dass er, wie sehr die lange Vereinsamung ihn auch verwildert haben mochte, nach wie vor frei war. Frei. Es half alles nichts, er brauchte den Wodka, und zwar sofort.

Sein Magen stand sofort in Brand. Er betrachtete Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand, seine Schicksalsfinger, wie er leicht angenebelt dachte, und breitete sich nackt auf dem Wohnzimmerteppich aus. Vor zwei Tagen hatte er es noch vorgezogen, seinen dunklen Spielen in der Badewanne zu fröhnen, doch auf Sauberkeit kam es ihm nun nicht mehr an. So lag er da, inmitten von Fäkalien, Büchern und den umherwirbelnden Mitschriften seiner letzten Vorlesungszeit. Er weinte nicht.

Auch diesmal blieb sein Schwermut mächtiger als der Alkohol, dessen Wonnen er sich nie ganz hatte hingeben können. Der fünfundzwanzigste Stein sollte der entscheidende sein. Nach einer unerträglich langen Minute totaler Anspannung und der rücksichtslosesten, sich ins Grausamste hineinsteigernden Gewaltausübung gegen sich selbst, fühlte er plötzlich überhaupt keinen Widerstand mehr, nur noch Schmerz, brennenden Schmerz. Der Durchbruch. Er versuchte noch, einige Steine aus sich herauszudrücken, doch vergeblich.

Er taumelte schon am Rande der Bewusstlosigkeit, als er jemanden an die Tür klopfen hörte. Wer immer das sein mochte, er schien etwas Dringendes mitteilen zu wollen, jedenfalls wartete er lange darauf, dass ihm jemand aufmachte. Der ermattet Daliegende, den in seiner Wohnung noch nie jemand besucht hatte, stöhnte leise auf; der Fremde jedoch schien davon nichts mitbekommen zu haben und steckte einen Brief unter der Tür hindurch. Was ist das für ein Brief?, fragte sich der junge Mann noch, bevor er in einem Meer aus Müdigkeit, Schmerz und Rausch ertrank.

 

Hi,

das ist eine krasse Ausführung eines zu Tode gerittenen Themas. Weltschmerz, Selbstmord, Ruf nach Aufmerksamkeit.
Der Text unterscheidet sich hier, weil er einen sehr krassen Weg nimmt - das wird in dem Text ja auch behandelt, als wäre es ganz normal, über Darmbruch als Methode des Selbstmords nachzudenken und im drittletzten Absatz kommt die Information, dass er da einen Fetisch hat. Aber der Aspekt ist eben eigentlich auch nur Dekoration, es ist ein Ein-Personen-Selbstmordstück, die Wahl der Selbstmordart und die Idee, die dran hängt, ist krass und durchaus effekthascherisch, das Ende ist ein kleines Augenzwinkern, weil sich die Welt da für ihn öffnet und er eben doch neugierig ist, was es da für ihn gäbe, was die Welt zu bieten hätte.

Die Sprache ist distanziert und höflich, man erfährt so fast gar nichts über den Protagonisten. Da liegen Blätter aus der Uni - was studiert er? Erfahren wir nicht. Was hat er da für einen Fetisch? Wie geht er damit um? Schämt er sich deshalb? Erfahren wir nicht. Warum hat er keine sozialen Kontakte? Warum kommt er bei den Kommilitonen nicht gut an? Warum hat er keine Freunde in Online-Medien? Warum hat er keine Familie? Erfahren wir nicht. Was für Interessen hat er in seinem Leben? Was hat er denn bisher gemacht? Gibt es da eine Einsamkeitsspirale, die in Depression mündet? Erfahren wir nicht.

Das ist halt eine Geschichte, die in festen Grenzen existiert und funktioniert. Das tut sie durchaus gut. Sie lebt von diesem starken Fetisch, der auch starke Bilder erzeugt, starke Gefühle, sie ist eindringlich geschrieben finde ich, es ist eine funktionale Sprache, distanziert, aber letztlich sind die Grenzen, für meinen Geschmack, so eng gezogen, dass man außer diesen Bildern des Fetischs und des Selbstmords zu wenig hat, was weiterführen kann.

Redet er sich die Depression nur ein, weil er so geil drauf ist, seinen masochistischen Analfetisch da ins Extreme gesteigert auszuleben. Also will er sich umbringen, nicht wegen einer Depression, sondern wegen seines Fetischs. Das ist die Frage, die den Text hier, für mich aus den engen Grenzen befreien würde.
Aber ich hab auch zu wenig Ahnung über solche masochistischen Tendenzen, dass ich da ohne Hilfe des Textes nicht weiterdenken kann, weil mir die Figur zu verschlossen bleibt.

Gruß
Quinn

 

Hallo Ariadne,

Deinen Text habe ich ähnlich erlebt wie Quinn: Von der Anlage her ist es einer dieser Texte, die hier - zurecht - so unbeliebt sind und doch immer wieder eingestellt werden: Ein kurzes Selbstmord-Kammerspiel.

Durch eine aufrüttelnde Variation des Themas wird die Geschichte aber interessant. Die Bilder fesseln, zumindest über die kurze Distanz. Hervorzuheben ist für mich der Stil: distanziert - nicht gefühlig rauschhaft wie sonst oft in diesem Genre -, auf gehobenem Niveau, sehr schriftlich, gern auch eingeschobene Relativsätze, die zeitlich zurückgreifen. Ein stückweit altmodisch also.

Vor diesem Hintergrund störte mich der zweite Satz:

Die Sonne knallte auf ihn herab, als wäre sie eine große Schwester gewesen, die sich einen Spaß daraus machte, das Gesicht ihres kleinen, etwas verkrüppelten Brüderchens mit festem Griff in den Staub zu pressen.
Das "knallte" ist mir für deinen sonstigen Stil zu umgangssprachlich. Es ist natürlich stärker als das etwas angefaulte "brannte" ... Aber ich würde da etwas anderes wählen. Und statt "wäre ... gewesen" täte es auch das "wäre".

Die Sprache fügt sich sonst auch gut der Struktur der Geschichte. Zum Ende hin werden die Sätze kürzer, die Schilderung unmittelbarer. Das ist gut gemacht.

Ich hätte mir aber gewünscht, dass der Kreis etwas weiter gezogen würde. Mehr Kontext, mehr Hintergrund etc. Quinn hat ja ein paar der offenen Fragen genannt.

Insofern kann ich sagen: Das macht Lust auf mehr!

Grüße,
Meridian

 
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Hallo Quinn und Meridian,

danke zunächst einmal für eure Kommentare.

Ich muss zugeben, dass ich mit meinem Protagonisten nicht viel Gnade walten lassen wollte, als ich den Text schrieb; es hat mich selbst nicht sonderlich interessiert, warum er zu dieser Methode greift. Ich wollte es ihn eben durchziehen lassen. Jetzt ist den Leser aber leider, wie ich sehe, dieses Verhalten durchaus nicht so ohne weiteres nachvollziehbar, wenn man nicht trocken sagt, dass es für Selbstmord immer einen guten Grund gebe. Der erste Satz ist vielleicht zu deklamatorisch. Der Leser kommt nicht herein in die Figur, ok, daran muss ich arbeiten. Es scheint mir nun, dass das, was für einen selbst klar ist, dem Leser schlicht unbekannt sein kann, dass er nicht immer bereit ist, zu erraten, was höchstens angedeutet und aus diesen Andeutungen etwas zu machen.

Ein paar Änderung habe ich vorgenommen, siehe Meridians Anmerkungen. Aber die Art und Weise, wie man dergleichen überhaupt schreiben sollte, denke ich viel nach, vielleicht zu viel. In dieser Hinsicht wäre ich über Hinweise erfahrener Schreiber dankbar, die über diesen Text hinaus ihren Wert hätten.

Dass der Text höflich, altmodisch etc. sei, höre ich gern. Jeder muss so schreiben, wie ihm das Herz gewachsen ist.

LG Ari

 

Hallo Ariadne

In deine Geschichte bin ich über die Kommentare gelangt, da der Titel selbst mir kein Lockvogel war. Heute fand ich nun die Zeit, über die Drittmeinungen hinaus, mir selbst ein Bild zu machen.

Der Akt selbst entspringt einer höchst ungewöhnlichen Idee. Die Fantasie von Suizidenten ist zuweilen recht erfinderisch, wie aus einschlägigen Quellen bekannt ist. Sehr ungewöhnliche Methoden dienen jedoch meist dazu den Tatbestand zu vertuschen, sei es aus versicherungstechnischen Gründen oder etwa der Familienehre wegen. Doch eine Darmperforation als Mittel zu wählen, um sich umzubringen, scheint mir schon ein Novum. Das Sterben erweist sich hierbei als langsam, die Sepsis muss den ganzen Körper erfassen, ist sehr qualvoll und bedingt eine höchst ungewöhnliche Persönlichkeit. Von dem her, ist die Geschichte abstrakt, was jedoch in Verbindung mit der Vorgehensweise deines Prot. sie zu einer raffinierten Erzählung führt.

Das Stilmittel, welches du wähltest, ist denn auch eine erzählende Form. Mir als Leser gab es so gebührliche Distanz, ich nahm es weniger als unmittelbar nahe gehendes Geschehen war. Im Nachgang zu den Kommentaren schriebst du, dass du selbst nicht sonderlich interessiert warst, warum er zu der Methode griff. Dies erklärt vielleicht, warum dem Prot. eine gewisse Lebendigkeit abgeht, die Motivation vage bleibt. Einsamkeit und eingeschränkter Lebensantrieb allein führen nicht unbedingt in eine ausgewachsene Depression. Wobei dies in der Geschichte vertiefter zu erläutern, muss nicht sein, doch sollte der Leser seine Gedanken vertiefter und unmittelbarer wahrnehmen können, sie müssten sich hervorheben und das Bild seiner Persönlichkeit umfassender offenlegen. Hier ist dies noch dringlicher als in einem Zwei-Personenstück, da alles einzig auf ihn fixiert ist. Mit den zwei Fingern und der Suizidmethode her hast du stark eine anale Haltung angedeutet, ohne aber die Karten voll auf den Tisch zu legen. In dieser Geschichte würde dies aber das Verständnis des Lesers fördern.

Zwei Aspekte sind mir besonders aufgefallen. Eigentlich wollte er gar nicht sterben, da er es vom Zufall abhängig macht, ob er gefunden wird. Dieses Charakteristikum kollidiert ganz klar mit der Methodenwahl. Bei solchen Personen geht es um Aufmerksamkeit und Anerkennung und nicht vordringlich wirklich ums Sterben. Das andere ist, für eine Darmperforation brauchte er nicht eine solch hohe Anzahl an scharfkantigen Steinen, es sei denn, es waren eher kleine Kiesel.

Insgesamt habe ich die Geschichte gern gelesen, eine ungewöhnliche Idee, bin aber der Meinung sie könnte gewinnen, wenn es dir gelingt, sie dem Leser unmittelbarer erfahrbar zu machen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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