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Die Entscheidung
Ein junger Mann, der sich von jeder Wirksamkeit abgeschnitten fühlte, der weder einer geregelten Tätigkeit nachging noch auch nur einen einzigen Menschen kannte in dessen Arme er sich vor seiner Einsamkeit hätte fliehen können, beschloss, in den Steinbruch zu fahren. Die Sonne drückte ihn nieder, als wäre sie eine große Schwester, die sich einen Spaß daraus machte, das Gesicht ihres kleinen, etwas verkrüppelten Brüderchens mit festem Griff in den Staub zu pressen. Dieser aber verstand sich nicht auf diese Art von Späßen, nicht an diesem Tag. Er suchte Steine, möglichst handliche und kantige, von denen er sich so viele in den Hintern stecken wollte, bis der erlösende Darmdurchbruch endlich unausweichlich wäre. Dann entschiede es sich, dachte er, ob er leben oder sterben werde. Beides würde er allein von dem Zufall abhängig machen, ob ihn jemand fände oder seine Schmerzenslaute ungehört verschallten. Er wollte erleben, wie man nur seinetwegen die Tür seiner Mietwohnung aufbräche, um ihn zu retten, erleben, dass auch er es wert wäre, nicht dahinzufaulen wie jene ungezählten Tierkadaver, die man auf den Straßen sieht.
Nachdem er einige Arbeiter mit ausweichenden Antworten abgespeist und, abseits ihrer neugierigen Blicke, seine Taschen mit mehreren Dutzend Steinen gefüllt hatte, fuhr er in die Stadt, um sich mit Wodka zu versorgen. Er dürfte dem peinigenden Würgen seines Gesäßes nur mit getrübtem Bewusstsein begegnen, sollte sich sein Vorhaben nicht in angelernter Vernünftigkeit auflösen. Die Verkäuferin bedankte sich routiniert für seinen Einkauf, er lächelte müde, wünschte ihr einen schönen Tag, und verließ jene ältliche Frau, die gerade womöglich seine letzten Worte überhört hatte.
Zuhause angekommen, zögerte er lange, sein trauriges Vorhaben umzusetzen, saß stattdessen im Sessel und berauschte sich an dem Gedanken, dass es noch nicht zu spät sei, umzukehren, dass ein Leben ohne dramatische Effekthascherei, vor allem ohne Effekthascherei vor sich selbst, immer noch möglich sei. Noch fühlte er, dass er, wie sehr die lange Vereinsamung ihn auch verwildert haben mochte, nach wie vor frei war. Frei. Es half alles nichts, er brauchte den Wodka, und zwar sofort.
Sein Magen stand sofort in Brand. Er betrachtete Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand, seine Schicksalsfinger, wie er leicht angenebelt dachte, und breitete sich nackt auf dem Wohnzimmerteppich aus. Vor zwei Tagen hatte er es noch vorgezogen, seinen dunklen Spielen in der Badewanne zu fröhnen, doch auf Sauberkeit kam es ihm nun nicht mehr an. So lag er da, inmitten von Fäkalien, Büchern und den umherwirbelnden Mitschriften seiner letzten Vorlesungszeit. Er weinte nicht.
Auch diesmal blieb sein Schwermut mächtiger als der Alkohol, dessen Wonnen er sich nie ganz hatte hingeben können. Der fünfundzwanzigste Stein sollte der entscheidende sein. Nach einer unerträglich langen Minute totaler Anspannung und der rücksichtslosesten, sich ins Grausamste hineinsteigernden Gewaltausübung gegen sich selbst, fühlte er plötzlich überhaupt keinen Widerstand mehr, nur noch Schmerz, brennenden Schmerz. Der Durchbruch. Er versuchte noch, einige Steine aus sich herauszudrücken, doch vergeblich.
Er taumelte schon am Rande der Bewusstlosigkeit, als er jemanden an die Tür klopfen hörte. Wer immer das sein mochte, er schien etwas Dringendes mitteilen zu wollen, jedenfalls wartete er lange darauf, dass ihm jemand aufmachte. Der ermattet Daliegende, den in seiner Wohnung noch nie jemand besucht hatte, stöhnte leise auf; der Fremde jedoch schien davon nichts mitbekommen zu haben und steckte einen Brief unter der Tür hindurch. Was ist das für ein Brief?, fragte sich der junge Mann noch, bevor er in einem Meer aus Müdigkeit, Schmerz und Rausch ertrank.